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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Wie erzählt ...? Narratologische Paradigmen: Terminologie, Interpretationsbeispiele, Feldforschung (Vorstellung der Reihe)

 

Entfaltung des Themas: Wechselseitige Erhellung der Künste – Wissenschaftstheoretische Überlegungen, Präsentation (März 2019)

 

 

 

Brück, Werner: Wie erzählt Herbert List? Die »Antillia«-Bilder (»Du«, September 1958, Jg. 18). Humanistisch engagierte Fotografie. Bern, Norderstedt, 2018. 268 Seiten, Kl. 8° / 8°, 19,90 € / 25,80 CHF, ISBN 9783748133711

 

Brück, Werner: Wie erzählt Herbert List? Die »Antillia«-Bilder (»Du«, September 1958, Jg. 18). Humanistisch engagierte Fotografie. Bern, 2018. 268 Seiten, Kl. 8° / 8°, 19,90 € / 25,80 CHF, ISBN 9783748133711

Der Fotograf Herbert List schuf in den 1950er Jahren, während eines Karibikaufenthaltes, fotografische Dokumente der Menschlichkeit und Anmut.

Eine Auswahl der Bilder wurde in der Schweizerischen Kulturzeitschrift »Du« veröffentlicht. Hier unterlagen sie einer bildredaktionellen Bearbeitung, die der künstlerischen Aussage einen Surplus an Bedeutung unterlegte, z.B. im Kontrast zu Luxus-Werbeanzeigen. - Die Mehrzahl der von List aufgenommenen Bilder erschien hingegen in Lists eigenem Bildband »Caribia«.

Ob in der Kulturzeitschrift oder in Lists Bildband: in der Frage nach der conditio humana besitzen Lists Bilder philosophischen Wert. - Aber auch hier ist das wesentliche Kennzeichen künstlerischen Schaffens, des fotografischen Erzählens, dessen Art und Weise. Gezeigt werden eben nicht Drittweltbewohner in der registierten Verrichtung ihres Tagwerkes, sondern Menschen in fotografischer Würdigung, und deren Medialität erscheint wesentlich bestimmt durch die Charakterisierung lyrisch, dramatisch oder episch aufgefassten Menschseins.

Fotografische Darstellung: hier geht es zunächst um die konkrete Formgebung, die Tonwertgestaltung, die Komposition, den Rhythmus, die Räumlichkeit und Leiblichkeit der Figurauffassung. Aktuelle Studien zu List lassen solche Analysen vermissen.

Figurale Tonwerte und wiederkehrende Formvorkommnisse initiieren strukturelle Chronologieentwürfe. Formvereinfachungen und Formdifferenzierungen geben silhouettierenden Um- und Hintergründen gestimmtes Dasein (Elisabeth Ströker), in das die Betrachtung sich einfinden kann. Formproportionen und Formrichtungsbindungen erzeugen Bildrhythmen als Puls eines karibischen Arkadien. In Abhängigkeit von Bildwinkeln und Betrachtungsabständen werden Figurproportionen akzentuiert, in Umgründe gelegt. Singuläre Konzentrationen in Freistellungen und die Thematisierung des Fokussiervorganges vermitteln eine auktoriale Perspektive.

Schwarz und Weiß gewichten die schauplatzintrinische Gliederung der gestimmten, aktional zuhandenen und relational angeschauten Räumlichkeit aus, in Raummaßen für Bewegung. Körperlichkeit wird akzentuiert. Sie erzeugt figurale Bewegungslogik (Peter Boenisch, Gabriele Brandstätter).

Die Narrativität der Strukturbildungen: wenige Ausgriffe, dafür reiche Situativität in Pro- und Retentionen (Edmund Husserl) - so wird die Gegenwärtigkeit menschlichen Tuns entwickelt. Dch den Abgebildeten fehlen günstige Milieuangebote. Sie müssen ihre chronotopologischen Möglichkeiten selbst entwickeln. Dass Autor und Betrachter in den fiktionalen Kanal der figuralen Bezugnahme auf die Betrachtung genommen werden, authentifiziert die ästhetische Erfahrung (Aristoteles, Wolfgang Iser, Roland Harweg).

So entwickelt jedes Bild seine eigene Gegenwärtigkeit, Momentaneität, Situationsbildung. So artikuliert sich auch eine präsente Faktizität in der Figurdarstellung, aus der die gezeigten Figuren Chronologieentwürfe entwickeln, im Gegenüber zum impliziten fotografischen Autor.

List wird zum »fotografischen Gewährsmann«, der ebenso wie der implizite Betrachter nicht ohne Mutwilligkeit aus dem Bild herausgedacht werden kann - was den individuellen Weltbezug dieser Autorfigur authentisch macht. So atmen Lists »Antillia«-Bilder den Geist einer glückführenden fotografischen Begegnung. Ein Ausdruck universellen Interesses an seinen Mitmenschen.

Vorgestellt ist den 9 großen und 7 kleinen Werkstudien (rd. 220 Seiten) eine kurze Analyse aktueller interpretatorischer Irrungen (»homoerotisches Interesse«, »restaurative Nachkriegseinstellung«); nachgestellt ein Begriffsregister, das die Beschreibungskategorien erklärt. Dieses Begriffsregister wird in den Folgepublikationen geschärft republiziert.

Brück, Werner: Wie erzählt Herbert List? Die »Antillia«-Bilder (»Du«, September 1958, Jg. 18). Humanistisch engagierte Fotografie. Bern, 2018. 268 Seiten, Kl. 8° / 8°, 19,90 € / 25,80 CHF, ISBN 9783748133711

Zur Reihe

Die Reihe fragt, was genau an dem Preussischblau hier oder an den gebrochenen Formen dort oder an diesem Armausgriff in jener von Gewandfalten vorbereiteten Dynamisierung der Blickbewegung erzählen oder erzählerisch sein soll.

2014 veröffentlichte ich meine Dissertation zum Sprechen über bildkünstlerische Narrativität bei Nicolas Poussin. In dieser stellte sich heraus, dass Strukturbegriffe aus der Literaturwissenschaft durchaus sinnvolles Sprechen über Erzählweisen in der bildenden Kunst ermöglichen. Schon während meiner Beschäftigung mit der Kunst des Nicolas Poussin versuchte ich, die gefundenen Strukturbegriffe auf Erzählstrukturen in Kunstwerken anderer Kunstschaffender anzuwenden, v.a. an Gegenwartskunst, die mannigfache Gattungsformen, den oftmaligen Verzicht auf tradierte Ikonografien, ungegenständliche Bildwirklichkeiten und lebende Gesprächspartner bietet, mit denen man sich austauschen kann.

Solche weiterführenden Interpretationsbeispiele organisiert man am besten ohne weiteres Aufheben in einer lockeren Reihe, on demand. Dieser Reihe sollte, aus Gründen der Pragmatik, ein Überblick über die wichtigsten narratologischen Präsuppositionen, die Ansatzpunkte der Werkanalyse sowie eine wissenschaftstheoretische Begründung der Terminologiebildung vorangestellt werden. Dies ist somit das Anliegen des ersten Bändchens dieser Publikationsreihe, das natürlich auch Aspekte aus der Arbeit über Poussin zusammenfassend wiedergibt. So kann in den Folgebändchen auf wissenschaftstheoretische Aspekte verzichtet und das jeweilige Interpretationsbeispiel schlank und am Werk gehalten werden.

Den Interpretationsbeispielen soll eine Auswahl aus dem Werkkontext zugesellt werden. Die Interpretationsbeispiele bestehen aus Einzel- wie auch aus Sammelstudien, an denen sich verschiedene bildkünstlerische Narrationsweisen vergleichen lassen. Allen Interpretationsbeispielen soll jedoch intersubjektive Nachprüfbarkeit gemeinsam sein, weswegen das sinnlich Wahrnehmbare möglichst detailliert reformuliert wird.

Denn Sinn des Erzählens, Sinn einer Erzählung, ist deren anschauliche Konfiguration, gerade und vor allem in der Kunst. Sprachliche Reformulierungsprozesse entwickeln sich z.B. anhand von Farbe, Form, Materialität. Ziel einer werkgerechten Narratologie muss daher die Beschreibung der situativen Veränderungen am Werk sein.

Bisher erschienen

Sofern nicht anders vermerkt, von Werner Brück:

Sowie folgende Titel im Zusammenhang:

Auszug aus: Paradigmen der Narratologie (ISBN 978-37-3-861070-3)

Erzählt wird in Bildern, Skulpturen, Architekturen, in Opern, Theaterstücken, Performances und Tänzen, in Dramen, Gedichten und Romanen, in Melodien, Pantominen, sogar in Topographien des Haptischen oder Olfaktorischen. Anfangs sollte daher grundlegend danach gefragt werden, was überhaupt eine Erzählung sein soll:

eine Erzählung ist eine raumzeitstellenbezogene Sachverhaltssaussage in sinnkonstitutiver Formung und damit für uns ausschließlich als eine Situativität erzeugende Art und Weise der Geschehnismitteilung fassbar.

Ein (sehr schlichtes) Beispiel: »Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein.« »Hänschen« ist eine Person; »klein« charakterisiert diese Person im Kontrast zu »weit«; »ging« setzt den Bezugsrahmen für das Tun als Vergangenheit; »allein« bezeichnet eine figurale Perspektive einer einzigen Person auf die Umstände ihres Tuns, absichtsvoll in Absonderung von anderen Figuren (Mutter); »in die weite Welt hinein« erzeugt eine raumzeitstellenbezogene Veränderung, als Versetzung der Person in einen neuen Kontext, die vom Erzähler von dessen eigenen Raumzeitstelle her mitgeteilt wird. Der Vers weist unterschiedliche Stabreimung auf, »klein«-»allein«-»hinein« sowie »weite«-»Welt«, was seine Bestandteile verschleift und gefällig zu singen macht. Das unterstützt die einfache Melodie, die zum Ende hin abfällt und im Folgevers parallelisiert wird. Diese lyrisch-melodische Kontinuierung erhält nach dem parallelisierenden und die Absicht bekräftigenden zweiten Vers »Stock und Hut steh'n ihm gut, er ist wohlgemut« eine Brechung durch die folgenden Verse: »Doch die Mutter weinet sehr, \ hat doch nun kein Hänschen mehr.« Hier steigt die Melodie an, es wird auf Stabreime verzichtet. Das singularisiert die Replik des »Doch«. Der Verzicht auf eine raumzeitliche Situierung des mütterlichen Weinens präsentiert dieses absolut: hier geht es um das vergegenwärtigte innerliche Empfinden der Mutter ob ihres Verlustes, umso stärker herausgearbeitet im Kontrast zum auf »Hut« gereimten »wohlgemut« des Protagonisten.

Raumzeitstellenbezogene Sachverhaltsaussagen in sinnkonstitutiver Formung kennen verschiedene personale inner- und außerfiktionale Instanzen, z.B. den Zuhörer oder Leser bzw. Betrachter, die Erzählerfigur, den Protagonisten oder den Antagonisten. Die Raumzeitstellenbezogenheit eines Sachverhaltsaussage kennt die Situierung in lokalen und bzw. oder temporalen Relationen, z.B. in der Relation des Vorher-Nachher oder in der Zuhandenheit oder Übersichtlichkeit behandelbarer Objekte. Erzählerische Raumzeitstellenbezogenheit und die damit verbundene personale Differenzierung schafft Situativität als ein Gesamt an Handlungsmöglichkeiten an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt, das Faktizität des Vergangenen bzw. Vorhandenen sowie Potentialität des Zukünftigen bzw. Zuhanden-Erreichbaren beinhaltet. Erzählung, fiktional oder nonfiktional, formuliert damit Vergangenheit und Zukunft oder graduelle Zuhandenheit und Übersichtlichkeit.

Ein Portrait kann erzählen, ebenso eine literarische Beschreibung. Erzählung als raumzeitstellenbezogene Sachverhaltssaussage ist interpretationsabhängig, was in der Sender-Empfänger-Relation der Sachverhaltsmitteilung sowie in der sinnkonstitutiven Formung des Erzähldiskurses zum Ausdruck kommt. Erzählung kommt nicht nur in Darstellungen vor, sondern auch im Abstrakten, z.B. in der raumzeitlichen Situativität der Farbgestaltung (Kandinsky). Die Beschreibung einer Madeleine mit Lindenblütentee birgt erzählerisches Potential (Proust), ebenso die Selbstverstümmelung auf einer Bühne (Abramovic), in der die Protagonistin Fiktionalität verlässt.

Erzählforschung strebt eine systematische Beschreibung von Erzählungen an. Dies kann in einer relativen Nähe zur sinnkonstitutiven Formung erfolgen, wie z.B. in der Betrachtung von »Hänschen klein«. Doch Systematik kann sich natürlich auch auf einem höheren Abstraktionsniveau entwickeln. Im metasprachlichen Diskurs versucht Erzählforschung, raumzeitstellenbezogene Sachverhaltsaussagen auf präsupponierte Gesetzmäßigkeiten zu prüfen, um Erkenntnisse über Entsprechungen oder Abweichungen zu narratologischen Modellbildungen zu finden, die eine Theorie bestätigen oder modifizieren.(Vgl. z.B. literaturwissenschaftlich: Lotmann, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München, 1972. Kunstwissenschaftlich: Lamblin, Bernard: Peinture et temps. Paris, 1987, sowie: Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München, 1996.)

Sich an Begleitmedien zu klammern und geistes- oder ideengeschichtliche, (auto-)biografische Erklärungen für das in sinnlicher Hinsicht Offenkundige künstlerischen Gestaltens zu suchen, kann verhängnisvoll sein. Hierzu ein ausführlicheres Zitat Otto Pächts:

»Kunstgeschichte [und mit ihr eine Theorie bildkünstlerischer Narrativität; d.V.] könnte im Rahmen einer allgemeineren Geistesgeschichte betrieben werden, als Spezialgebiet einer umfassenderen Semantik oder Symbolforschung, es kann dann aber keine autonome Kunstwissenschaft oder Kunstgeschichte mehr geben, sie wäre nur noch als Hilfswissenschaft zulässig, die das Rohmaterial gesichtet und geordnet anderen Disziplinen zur Verfügung stellt. [...] Angesichts der notorischen Vieldeutigkeit der künstlerischen Gebilde, der Schwierigkeit der Entscheidung zwischen Lösungsvorschlägen, deren jeder andere Aspekte am fraglichen Objekt zu erhellen scheint, der Möglichkeit stark subjektiver Färbung aller Geschmacksurteile, die doch in jedem Stilbefund mitenthalten sind, angesichts all dieser Unfestigkeit ist die Verlockung verständlich, von dem schwankenden Grund der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung in Forschungsgebiete auszuweichen, die im wesentlichen mit Schriftquellen operieren und so ein anscheinend höheres Maß an Objektivität oder zumindest von rational Formulierbarem versprechen. Die Ungewißheit des Anschaulichen scheint mit Hilfe einer Inbeziehungsetzung zu schwarz auf weiß Niedergeschriebenem beseitigt werden zu können. Dabei spielt auch mit, daß man ein Kunstwerk zu nobilitieren glaubt, wenn ein einfaches Bild in ein Gedankenbild uminterpretiert werden kann. [...] Die Crux ist nur, daß der Nachweis des faktischen Zusammenhangs zwischen anschaulichem Sachverhalt und aus irgendwelchen Schriftquellen beigebrachtem gedanklichem Konzept in den seltensten Fällen zu erbringen ist und man sich so auf noch unvergleichlich schwankenderen Grund ergibt als es die Schicht der Stilphänomene ist.«(Pächt, Otto: Kritik der Ikonologie. -in: Kaemmerling, Ekkehard (Hrsg.): Ikonografie und Ikonologie. Theorien - Entwicklung - Probleme. Köln, 1979/1994. S. 353-376. Vgl. Held, Jutta; Schneider, Norbert: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche - Institutionen - Problemfelder. Köln, Weimar, Wien, 2007. S. 288ff zur Einführung in das »Problem des Inhalts«.)

Pächt ist unumwunden recht zu geben, und mehr noch: Quellen sind ihrerseits gestaltet, bilden ihrerseits Narrative aus, die zu ergründen sind, da Narratologie sonst willkürlich verführe.

Narrative Sinnkonstitution ist nicht anhand externer Quellen zu behaupten, sondern in der Spezifikation künstlerischer Gestaltungsweisen aufzuspüren. Der Hinweis auf die sinnkonstitutive Formung der Erzählung verdankt sich dem Komparatisten Hayden White. Geschehnisaussagen werden erklärt und gewertet, z.B. in konventionalisierten Darstellungsmustern mit ihrer eigenen narrativen Kausalität, z.B. nach Anfang, Mitte, Ende.(Vgl. White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main, 1990. S. 7 und S. 57f.) Nicht zuletzt unser Kinderlied zeigt, »daß eine Veränderung der Form des Diskurses nicht gleichbedeutend mit einer Veränderung der Information über seinen textexternen Referenten sein muß; mit Sicherheit aber würde dadurch der von ihm produzierte Sinn verändert.«(White (1990), S. 57f.) Der Versbestandteil erhält seinen Sinn erst in der So-Morphie des ganzen Verses. Erzählung ist ein produktives Wie von Veränderungsqualifikationen in einer Folge von Sachverhaltsaussagen.(Vgl. Bergson, Henri: La perception du changement. Conférences faites à l'Université d'Oxford les 26 et 27 mai 1911. -in: Bergson, Henri: Oeuvres. Paris, 1959. S. 1365-1392, S. 1369ff.) Der Anspruch, Was-Ordnungen in der Interpretation von Kunst endgültig »fest-«zustellen, vernichtet das narrative Kunstwerk, das Sinn im Wie kontinuierlicher Refiguration erhält, nicht in der Konstatierung vorausgesetzter Inhalte. Das sagt auch die Semiotik: »Wir sahen aber bereits, dass die semiotischen Modelle [...] fast nur bei der Analyse von Werbung und trivialen Bildern dienlich waren, während sie der ästhetischen Komplexität der traditionellen Malerei nicht gerecht wurden.«(Held (2007), S. 372. Vgl. Brück (2014), S. 35ff. Zur Poetizität vgl. Klausnitzer, Ralf: Literaturwissenschaft. Begriffe - Verfahren - Arbeitstechniken. Köln, 2004, S. 23ff, zur Literazität vgl. Willems, Gottfried: Das Konzept der literarischen Gattungen. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers. Tübingen, 1981, S. 15.)

Natürlich kann Gestaltgebung sich auch mit vorausgesetzten Vorstellungen, die wir von einer bestimmten Stoffen oder bildkünstlerischen Traditionen haben, auseinandersetzen. Stabreime, Tempusmorpheme, Präpositionen, Tonhöhen, Farbvorkommnisse oder Formflächengestalten werden ja stets in einer Subjekt-Objekt-Relation betrachtet, die einen Sachverhalt in Beziehung setzt. Die Identifikation eines Sachverhaltes muss diesen notwendig von anderen abgrenzen, auf die distinguierende Vereigenschaftungen nicht zutreffen. Man kann Sachverhalte in einer einzigen Hinsicht vereigenschaften, um sie von anderen Sachverhalten zu unterscheiden. Diese eine Vereigenschaftung beinhaltet ein Alleinstellungskriterium. Man kann Sachverhalte auch in mehreren Hinsichten vereigenschaften, z.B. in einer Beziehung eines alleingestellten Sachverhaltes zu anderen Sachverhalten, was die Hinzunahme einer zusätzlichen Hinsicht bedingt. Kunst suspendiert oft Vereigenschaftungen des Alltäglichen und bietet eine Thematisierung von Hinsichten an (Aspektewechsel), basierend auf distinkten Eigenschaften des jeweiligen künstlerischen Produktivmittels. Die künstlerischen Produktivmittel formulieren Beziehungsgeflechte zwischen vereigenschafteten Sachverhaltssetzungen, in deren gestaltungssinnerzeugendes Miteinander sich das vereigenschaftende Subjekt einzufinden hat, um die Logik dieser Beziehungssetzung zu erfassen. Das gestaltungssinnerzeugende Miteinander der künstlerischen Produktivmittel ist die »Struktur«. In der Struktur werden vereigenschaftete Sachverhalte in Vereigenschaftungen höherer Ordnung gebracht, nach einer Gesetzmäßigkeit, die sich strukturanalogisch abbilden und reformulieren lassen soll, mit Hilfe von Hypothesen und Theorien, die sich mit Hilfe der Empirie modifizieren, falsifizieren oder bestätigen lassen.

Spezifisch bildkünstlerische, elementare Gestaltungsmittel, die in der Malerei, der Zeichnung, der Fotografie und auch der Plastik auftauchen, sind v.a. Farbe und Form, wobei Form analog der Modellierung akustischer Töne eine Modellierung von Farbwerten darstellt, somit als deren Vereigenschaftung verstanden werden kann. Hinsichtlich der Form kann man von folgenden Aspekten ausgehen: Formbeschaffenheit, Formstrukturierung, Formausdrucksqualität, Formkontrastbildungen, Sehformen (Wölfflin). Hinsichtlich der Farbe ist die Analyse folgender Aspekte ein guter Ausgangspunkt: Farbbeschaffenheit, Farbwirkung zur Form, Farb- und Formrhythmusmodifikationen, Farbkomposition, Farbkontrastbildungen, Farbraumkonstitution, Wirklichkeitsbezug. Dies zum Ausgangspunkt. Die Liste der Begrifflichkeiten ließe sich nach Zweck und Interesse erweitern. Eine Übersicht bietet der Anhang.

Was Strukturanalysen bildkünstlerischer Produktivität angeht, kann man von verschiedenen Strukturaspekten ausgehen, die die Elementare Farbe und Form in Beziehung setzen: Komposition und Rhythmus (Kuhn), Disposition, Bewegungslinien, Figurausgriffe, Räumlichkeit, Körperlichkeit, Leiblichkeit (Merleau-Ponty), Lichtgestaltung (Schöne). Man vergleiche auch hier den Anhang.

Eine der Grundstrukturen des Erzählens besteht darin, dass die Vereigenschaftung von Sachverhalten nach Hinsichten erfolgt, durch verschiedene an der Vereigenschaftung beteiligte Instanzen, die jene Sichtweisen auf ihre Umgebung generieren und diese damit orientieren. Stets ist die Vereigenschaftung eines Sachverhaltes Leistung eines Subjektes, sei es einer sich im Duktus artikulierenden Malerin oder Musikerin, sei es einer (a-)personalen Erzählerfigur, sei es eines Rezipienten, Lesers, Betrachters. Das Subjekt besteht nicht nur aus Gehirn, sondern erfährt und konstituiert Vereigenschaftungen mit allen Sinnen bzw. leiblich, das heisst in der Gesamtheit seines Daseins in dem Gefäss, was das Subjekt als »Welt« vom eigenen »Leib« unterscheidet.(Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Frankfurt am Main, 1945/1966, S. 291ff.) Gerade in Kommunikationsbeziehungen künstlerischen Erzählens als raumzeitstellenbezogener Sachverhaltssaussage in sinnkonstitutiver Formung wird eigene Leiblichkeit zugunsten einer fremdfiguralen Leiblichkeit suspendiert, mit der sich der Rezipient im Erzählkontinuum engagiert. Der Rezipient schlüpft in die Rolle einer Figur und erlebt und vereigenschaftet die Sachverhalte ihrer Welt aus figuraler Sicht, verbunden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Bewusstsein eben dieser Rollenübernahme. Die Analyse von Fiktionalität muss daher Strukturen des Engagements fiktiver Leibsubjekte betrachten, im gestimmten Raum, im Aktionsraum und im Anschauungsraum.(Vgl. Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt am Main, 1977, S. 19ff. ) Im Unterschied zur nicht-fiktiven Wirklichkeit des Zuschauers können Dramen- und Bildfiguren in Aktions- und Anschauungsräumen einer Situativität agieren, die die nichtfiktive Welt des Betrachters suspendiert: gerade die Rezipienteneinbindung durch Rekonstruktion figürlicher Situativitäten mittels der bildkünstlerischer oder literarischer Aktions- und Anschauungsräume stellt die grosse Leistung von Narrativität dar, die Fiktivierung. Fiktivierung ist jedoch mehr oder weniger bewusst, und das steigert das Ergötzen an der Fiktion.(Vgl. Brück (2014), S. 44ff zu Aristoteles.)

Welche Ausgangspunkte haben wir also für eine Betrachtung der narrativen Strukturbildungen? Raumzeitstellenbezogene Sachverhaltssaussagen in sinnkonstitutiver Formung entstehen in Vereigenschaftungen höherer Ordnung, z.B. in Rückwendungen, Vorausdeutungen, Wiederholungen, Kontinuität oder Diskontinuität, Zeitraffung oder -dehnung, Geschehnisabfolge im Vergleich zur Erzählfolge usw. Betrachtet werden muss z.B. die Perspektivenbildung, die Figurcharakterisierung und Figurkonzeption, die Plotstruktur, narrative Gattungszugehörigkeit sowie Text-Bild-Vergleiche als elementar-strukturelle Vergleichen mit literaturwissenschaftlichen Analysen als möglichen Kontexte oder Prätexten. Auch hier bietet der Anhang eine Übersicht.

Abseits steinernen Pracht: die Brache, weites Feld, Neuland. Mit uns altes Geschirr. Das werden wir auch noch los.

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