Werner Brück: Die Iconographie photographique de la Salpêtrière in kunstwissenschaftlicher Sicht.
Summary: During the eighteen-seventies the Iconographie photographique de la Salpêtrière showed female patients in erotized protocols and photographic illustrations. To understand this erotization one has to examine perceptable textual and figurative appearances of the Iconographie. It is also important to keep the authorship of D.M. Bourneville and P. Régnard in mind, both collaborators of Jean Martin Charcot.
Zusammenfassung: In der Iconographie photographique de la Salpêtrière wurden in den 1870er Jahren Patientinnen in erotisierten Texten und Fotografien dargestellt. Um diese Erotisierung adäquat zu verstehen, müssen Text- und Bildgestalt der Iconographie untersucht werden. Dabei ist der Urheberschaft der Mitarbeiter Charcots, D. M. Bourneville und P. Régnards, Rechnung zu tragen.
Dem Neurologen Jean Martin Charcot (1825-1893) oblag ab den 1870er Jahren die Leitung der Salpêtrière, der führenden Nervenklinik des fin de siècle. Uns geht es hier um die Darstellung der Forschungsergebnisse. In der Iconographie photographique de la Salpêtrière aus den 1870er Jahren wurden hystéro-epileptische Fälle in Texten und Fotografien dargestellt, die in Beschreibungen und Interpretationen zu untersuchen sind. Die Salpêtrière, 1656 eingerichtet, verwahrte Mitte des 19. Jhd. Tausende Frauen, Hunderte von diesen als explizit geistesgestört. Das waren teils Frauen, die sich in gesellschaftlicher Hinsicht nicht fügten, teils körperliche Missbildungen, Geschlechtskrankheiten oder Epilepsien aufwiesen (Carrez JP (2005) 9ff; vgl. dazu auch die Anerkennung geistiger Störungen als Krankheiten; Pinel P (1798); Pinel P (1804); Pichot P (2002)). Charcot übernahm 1862 mit 37 Jahren die neu gegründete Abteilung der Epileptiker- und Hysterikerinnen.
Abb. 1: NN Patientin im Krankenbett. Bourneville DM, Régnard P (1875), konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière.
In seiner beruflichen Selbstfindung unterstützte ihn die Fotografie, und hier setzt das Erkenntnisinteresse des Kunsthistorikers an. Ab 1869 zeigte die Zeitschrift Revue Photographique des hôpitaux de Paris die interessantesten Fälle der medizinischen Praxis an Pariser Krankenhäusern. Die Veröffentlichung hob an mit der fotografischen Darstellung einer Éléphantiasis de la verge et du scrotum. An prominentester Stelle, im ersten Artikel und in der ersten Abbildung, sah man also ein monströses Glied (Delahaye A (1869) 1). Das entsprach populären Interessen der zweiten Jahrhunderthälfte. Dieses Interesse ließ in England einerseits Joseph Merrick als Elefantenmenschen auf Jahrmärkten auftreten. Andererseits aber mobilisierte es auch Spenden der stadtbürgerlichen Leserschaft der London Times, mit denen ein Hilfsfond für eben jenen Merrick eingerichtet wurde. Dass die Pariser Publikation dem Anspruch nach wissenschaftlich blieb und dem Zweck des medizinischen Fortschritts notwendig schien, das sollte eine den reißerischen Artikel abschließende Notiz suggerieren, in der auf die Operationserfolge des Ärzteteams verwiesen wurde (DelahayeA (1869) 3).
Ein ähnliches Zusammenspiel aus medizinischer Dokumentation und öffentlicher Schaulust fand auch in Charcots leçons du mardi statt, in denen Patientinnen vor illustrem Publikum in Hypnose versetzt, Hysterien ausgelöst, epileptische Anfälle und erotische Delirien untersucht wurden - unter ausnahmsloser, reiner Beobachtung (vgl. Nicolas S (2004); Lécourt E (2006) 23, dort wird auch kurz auf die gesellschaftliche Stellung Charcots eingegangen; Marmin N (2001) 151; Thuillier J (1993)). Doch war es vor allem die Fotografie, die neue, nicht qualitative, eher quantitative Begriffe von Wahrheit und Exaktheit lieferte. Die Fotografie bot die Mittel, medizinische Sachverhalte in systematischer Weise abzubilden und den Fall der zeitlichen und räumlichen Präsenz des Mediziners zu entheben. Ihr ging es nicht mehr um eine Evidenz subjektiver Qualität, sondern um eine intersubjektive Anerkennung positivistischer Quantität. Der Fotografieästhetiker und -historiker Bernd Stiegler fasst in seiner 2001 erschienenen Habilitation über die Philologie des Auges - Die fotografische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert zusammen:
»Der ästhetische Diskurs des 19. Jahrhunderts weist der Photographie einen Platz auf Seiten der Technik, der mechanischen und maschinellen Reproduktion, der leblosen Wiedergabe, kurz der oberflächlichen Kopie oder dem maschinellen Abschreiben der sichtbaren Erscheinung zu« (Stiegler B (2001) 41).
Doch der Charcot-Hagiograf Henri Meige betonte 1925 auch, dass die Technik nicht nur bewunderungswürdig assistierte, sondern als Fertigkeit auch Bewunderung per se hervorrief. Es war die Fotografie,
»qui ... devint un précieux adjuvant des recherches et des démonstrations cliniques: photographies des malades, ... projections lumineuses, dont la nouveauté et l'heureuse application attirèrent tant de visiteurs, Français ou étrangers« (Meige H (1925) 14). (»die ... ein wertvolles Adjuvans der Forschung und der klinischen Vorführungen wurde: Krankenfotografien, ... leuchtende Projektionen, deren Neuheit und gelungene Anwendung so viele Besucher, Franzosen wie Ausländer, anlockten.«)
Der Kunstwissenschaftler André Rouillé schreibt in La photographie. Entre document et art contemporain aus dem Jahr 2005 über Georg Simmel:
»Triomphe de ›l'esprit objectif‹ sur ›l'esprit subjectif‹, de la quantité sur la qualité, la culture moderne des grandes villes ... se caractérise par la généralisation de valeurs et d'attitudes telles que la ponctualité - ›la diffusion universelle des montres‹ -, la fiabilité, l'éxactitude, la précision, l'extrême impersonnalité, et même la ›brièveté et la rareté des rencontres‹. ... Quant à Baudelaire, ne vilipend-t-il pas, en 1859, le ›public moderne‹ pour son ›goût exclusif du Vrai‹, tout en dénonçant dans la photographie l'industrie diabolique venue le satisfaire?« (Rouillé A (2005) 50). (»Triumph des objektiven Geistes über den subjektiven Geist, der Quantität über die Qualität,« - des Maßes über die Besonderheit - »die moderne Kultur großer Städte ... zeigt sich in der Generalisierung von Werten und solcher Grundeinstellungen wie derjenigen der Pünktlichkeit - die universelle Verbreitung der Uhren -, der Zuverlässigkeit, der Exaktheit, der Präzision, der äußersten Unpersönlichkeit, und selbst der Kürze und Seltenheit der Zusammenkünfte. ... Und Baudelaire: schmähte der etwa nicht 1859 das moderne Publikum für seinen exklusiven Geschmack am Wahren, indem er an der Fotografie die teuflische Industrie entlarvte, die über jenes kam, diesen zu befriedigen?« )
Die Fotografie ermöglichte die systematisierende und beliebige Betrachtung von Reproduktionen, hergestellt im Kollodiumnassverfahren. Die fotografische Detailtreue des pencil of nature lieferte Authentizität und versicherte das Abgebildete. Die unbetroffene Betrachtung schwarzweisser Abbildungen wahrte den Anstand. So wurde die Forschung an der Hystéro-Epilepsie mit dem Medium enggeführt, was die Schaulust befriedigte und das Medium nobilitierte. Ab 1875 erschien die Iconographie als Ausdruck der Forschungsergebnisse (Bourneville DM, Régnard P (1875)). Das Hysterieprojekt an der Salpêtrière verbreiterte sich außerordentlich. Sein Erfolg und die finanzielle Förderung wog umso mehr, als dass Charcots Methode der Hypnose zur Behandlung hysterischer Zustände in Konkurrenz zur Schule von Nancy stand und sich gegen deren Einwände beweisen musste:
»Des phénomènes physiologiques, contracture, catalepsie, léthargie ... peuvent être provoqués par des manipulations diverses ou par l'action physique des aimants: des phénomènes psychiques, actes, hallucinations, illusions, peuvent être réalisés par suggestion dans quelques phases de cet état complexe« (Bernheim H (1891)) (»Physiologische Phänomene... können durch verschiedene Manipulationen oder durch die physische Einwirkung von Magneten hervorgerufen werden: psychische Phänomene, Handlungen, Halluzinationen, Illusionen können in einigen Phasen dieses komplexen Zustandes durch Suggestionen erzeugt werden.«)
Der Hypnotismus der Salpêtrière ist eine Hypnose der Kultur.
Wir fokussieren das Anschauliche. Wurden die Bilder vor 1877/78 noch im Krankensaal oder im Hof aufgenommen (Abbildung 1), so konnte man nach den ersten beiden Ausgaben auf ein fotografisches Atelier zurückgreifen. Die Aufnahmebedingungen wurden damit invariant, die Abbildungen vergleichbar hinsichtlich Lokal, Anordnung, Maßstab, Kontrastumfang und Schärfe. Und die Bedingungen wurden kontrollierbar, was die Aufnahme hinsichtlich Lichtverfügbarkeit, Bewegungsfreiheit und Tiefenschärfe auch bei längeren Brennweiten vereinfachte. Damit wurden die Aufnahmen - und das ist das Widersprüchliche an der vermeintlichen Neutralität invarianter Aufnahmebedingungen - gestaltbar (vgl. Londe A (1893); Londe A (1899)).
Eine Wissenschaft der bildenden Künste kennt - vergröbert und verkürzt - elementare und strukturelle Ausdrucksmittel. Elementare Gestaltungsmittel in Bildern sind Farbe und Form, strukturelle sind beispielsweise solche der Komposition, des Rhythmus, von Bildachsen, Lichtführung oder Plastizität (Vgl. für die Fotografie um 1862 Disdéri E (2003) 52f). Ähnlich verhält es sich mit dem literarischen Ausdruck, der elementar von Lautgestalt und -klang abhängt, strukturell ebenfalls z.B. Komposition, Rhythmus, Tropen und Figuren kennt, auch wenn Literatur sich nicht einfach in Bildkunst übersetzen lässt, weil dann die distinkten Eigenschaften der jeweiligen Kunst verloren gingen. Charcot selbst war nicht sonderlich befähigt, mit solchen Mitteln zu operieren. Zeitgenossen bemerkten die didaktische Fähigkeit, das Dazustellende in Zusammenhängen zu sehen, was bedeutet, Zusammenhänge zu konstruieren. Er interessierte sich also für gedankliche Zuspitzung, was bisweilen auch als provozierte Beobachtung gewertet wird. Ein französischer Kunsthistoriker, der sich eingehend und grundlegend mit Charcot und der Iconographie beschäftigte, Georges Didi-Huberman, zog das Fazit, dass bei Charcot
»die Beobachtung weniger zu einer intimen Erzählung der pathologischen Geschichte [tendiere; d.V.] ... als zu einer gut gemachten Beschreibung der Körperzustände« (Didi-Huberman G (1997) 35f; Bernard C (1865) 24),
was von Henri Meige bereits 1925 nahegelegt wurde:
»La faculté de discerner dans un paysage ou sur le corps humain les contours essentiels, de percevoir instantanément un ensemble, d'isoler dans cet ensemble les éléments nécessaires à son expression, - et ceux ci seulement, au mépris de tous les accessoirs, - cette faculté, Charcot la possédait au plus haut degré. Médecin, il en a donné d'éclatants témoignages« (Meige H (1925) 9). (»Das Vermögen, an einer Landschaft oder am menschlichen Körper die wesentlichen Züge herauszuarbeiten, augenblicklich das Zusammenspiel zu erkennen, aus diesem Miteinander die notwendigen Bestandteile zu isolieren, die es zu seiner Darstellung braucht, - und nur diese, ungeachtet allen Beiwerks, - dieses Vermögen besaß Charcot in höchstem Grade. Als Mediziner hat er das eindrucksvoll bewiesen.«)
Es sind indes gerade die naivlichen Ausführungen Meiges, die Charcot als Dilettanten erscheinen lassen, zumal Meige auch Abbildungsmaterial vorlegt, das den Schluss zulässt, dass Charcot über eine durchschnittliche Schulung bildnerischen Sehens verfügte. Nein, die ästhetische Professionalisierung ist eher Désiré Magloire Bourneville, dem medizinischen Verfasser, sowie Paul Régnard, dem medizinischen Fotografen der Iconografie, zu verdanken. Der Aufsatz L'appropriation neurologique de l'hystérie von Gladys Swain betont die Arbeitsteilung zwischen Bourneville und Charcot, dem Napoleon der Neurosen. Bourneville wollte Patientinnen in nichthysterischen Normalphasen Konflikte vermitteln, wozu auch ein akzentuierendes Protokoll beitragen sollte (Gauchet M, Swain G (1997) 62ff). Wenn Gladys Swain auch nicht dem spezifisch künstlerischen Vorgehen der beiden Autoren der Iconographie Rechnung trägt, so kann sie doch angesichts der eher analytisch-abstrahierenden, sich zu großen Wortschöpfungen aufschwingenden Geistestätigkeit Charcots den methodischen Vorsprung Bournevilles und damit auch Régnards betonen:
»D'une certaine façon ... Bourneville pourrait paraître en avance sur son maître Charcot et se poser dès 1876-1878 des questions qu'on ne verra Charcot aborder qu'á partir de 1882, avec les premières leçons sur l'hystérie traumatique, et ne traiter pleinement qu'à la toute fin de sa vie« (Gauchet M, Swain G (1997) 65). (»In gewisser Weise konnte Bourneville gegenüber seinem Meister Charcot voraus sein und sich ab 1876-1878 Fragen stellen, die Charcot erst ab 1882 im Zusammenhang mit den ersten Vorlesungen über die traumatische Hysterie anging und erst am Ende seines Lebens voll behandelte«)
Bournevilles Methode der reviviscence findet in der künstlerischen Text- und Bildkonfiguration und der Refiguration durch Leser bzw. Betrachter durchaus ihre Entsprechung. Um Bournevilles und Régnards Anliegen gerecht zu werden, werden wir uns also auf Gestaltungsweisen in Text und Bildern beziehen.
Bildkünstlerische Ästhetisierung jugendlicher Normalität
Abb. 2: Régnard P Hystéro-Epilepsie - État Normal. Bourneville DM, Régnard P (1878) XIV, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Im Text der Iconographie von 1878 werden den hysteroepiletischen Anfällen Normalansichten und die Patientinnengeschichte vorangestellt. Augustine Louise X. kam mit 15 Jahren in die Salpêtrière. Angsterlebnisse, eine versuchte Vergewaltigung, sexueller Missbrauch im Zusammenhang mit Alkohol und Versprechungen seitens des Liebhabers der Mutter, ein Genitaltrauma, familiäre Auseinandersetzungen, die Thematisierung der mütterlichen Untreue, Zweifel an der Vaterschaft: diese Aspekte bilden die Vorgeschichte (Vgl. Bourneville DM, Régnard P (1878) 124). Die schriftliche Darstellung Bournevilles betont jedoch das selbstbewusste Auftreten der jungen Frau:
»X... [Louise; d.V.] est grande, bien développée (cou un peu fort, seins volumineux, aisselles et pénil couverts de poils), decidée de ton et d'allures, d'humeur mobile, bruyante. N'ayant plus rien des manières de l'enfant, elle a presque l'air d'une femme faite et pourtant jamais elle n'a été réglée« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 125) (»X... ist groß, gut entwickelt (Hals etwas stark, Brüste voluminös, Achseln und Scham von Haar bedeckt), entschieden im Ton und im Gehabe, von beweglichem Humor, brausend. Ohne kindliches Verhalten macht sie fast den Eindruck einer ausgewachsenen Frau und hatte dennoch noch nie menstruiert.«)
Dem entspricht die Darstellung der Patientin im Normalportrait. Das Normalportrait wird durch Paul Régnard individualisiert (Abbildung 2). Dazu schrieb der Portraitfotograf Eugène Disdéri in L'Art de la Photographie von 1862, dass durch weiches Licht Individualähnlichkeit erreicht werde, während gerichtetes Licht dazu diene, die Gesichtszüge zu verallgemeinern, zu typisieren, zu martialisieren (Vgl. Disdéri E (2003) 81). Reflexe und Aufhellungen akzentuierten, silhouettierten im Gegensatz zu figurübergreifendem Helldunkel. Straff sitzende Kleidung hebe Kopf- und Handdimensionen hervor (Vgl. Disdéri E (2003) 69). Differenzieren wir die charakterliche Individualisierung Louises. Deren kompakter Körper in engansitzender Kleidung wird durch den dunkleren Hintergrund silhouettiert. Die Figur beansprucht Autonomie in räumlicher Formulierung, gemäß einer der wichtigsten Fragestellungen der Fotografie im 19. Jhd (Vgl. Disdéri E (2003) 52f). Zugunsten dieser Kompaktheit erscheint der Kopf durch den dunklen Hintergrund ebenfalls klar begrenzt. Und die ganze Gestalt des enggekleideten Körpers tritt gegenüber den bedeutend helleren Tonwerten in Gesicht und Händen zurück. Der zarte Gesichtsausdruck entspricht der künstlerischen Konzentration auf die Individualzüge. Das direkte Gegenüber des Blickes schafft situative Bezüge. In diesen wird die Figur in ihrer statuarischen Erscheinung eingehüllt, die betrachtende Bewegung um das Schauobjekt herum vorweggenommen. Diese verinnerlichte Bewegung um das Sitzbild des Mädchens unterstützt der nach rechts abschließende Bogen des linken Armes. Die Verwendung eines Objektivs kurzer Brennweite und großen Bildwinkels betont die Proportionen und bildet tiefenscharf ab. Und trotzdem herrscht zwischen Modell und Betrachter figürliche Distanz, die von der Portraitform als Kniestück, vom ungegliederten Rock und von der statuarischen Autonomie rührt.
Hier ist eine Jugendliche ganz sie selbst. Es gibt hier keine aliénisation, keine Selbstentfremdung. Die Formkonturen im grafischen Schwarzweiß, z.B. in der oberen Kontur des Rockschurzes, in der Knopfleiste über dem kompakten Busen, in der Form des Kragens. Diagonal von links unten nach rechts oben aufsteigende, längsführende und impulsive Konturen des rechten Arms. Ein vielfach abgestufter Abstieg des Blickes am linken Arm mit einer langen, quer verlaufenden Faltentreppe. Hinführung und Verweilen im Antlitz des Mädchens. Die links sichtbare Rückenstütze des Stuhls leitet von der aufsteigenden Rockkontur zum rechten Arm. Die gekrümmte Flächenkontur der kompakten Rückenlehne übersetzt den schwungvollen Bogen der Rockkontur nach oben.
Aus einer leicht geöffneten rechten Hand entfaltet sich Jugend in weißer Kragenblüte. Augenbrauen und Kinn zeigen sensible Tonwerte. Beide Konturen entsprechen den grafisch-linearen Angaben der Lippen und der Augen auf weißem Teint. Belebt werden sie durch die Volumina der zart herausgearbeiteten Unterlippen- und Augenpartien. Gezopftes Haar, ein Ohrring und eine Schleife verleihen dem Antlitz Sinnlichkeit. Zuletzt schafft eine große dunkle Hintergrundfläche dem im Goldenen Schnitt positionierten Haupt Bewegungsfreiheit. Hierin zeigt sich die Fähigkeit Régnards zur Figurencharakterisierung. Eine solide und dauerhafte Portraitleistung, die keineswegs en passant, zwischen hysteroepileptischen Attacken, erbracht worden sein kann (Vgl. dazu aber Didi-Huberman G (1997) 126).
Abb. 3: Régnard P Attitudes Passionelles - Erotisme. Bourneville DM, Régnard P (1878) XXI, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Sprachliche Ästhetisierung der Protokollsituation
Der Verlauf der Hystéro-Epilepsie zeigt Zuckungen und Krämpfe, bis zur vollständigen körperlichen Inbesitznahme. Es folgen Strecken des Deliriums. Louise spricht mit fiktiven Sexualpartnern. Sie kämpft gegen moralische Verurteilung und für ihr Recht auf selbstbestimmte Liebe. Den einen sieht sie als Bedrohung, mit dem anderen imaginiert sie Liebesakte. Louise sei an dieser Stelle etwas ausgiebiger zitiert:
»Je ne pensais qu'à toi ... Je ne savais pas ce que j'avais dans la tête ... Qu'aurions-nous fait la deuxième fois ... En me quittant la deuxième fois, tu m'avais dit que tu me ferais autre chose ... Où, je ne savais pas encore ça ... (Elle rit.) La deuxième fois, je n'aurais pas pleuré. Je ne savais pas que les gosses se faisaient comme ça ... Je ne trouve pas qu'il y ait tant de délices. Il est vrai que j'avais encore le souvenir du gros cochon ... La deuxième fois ce serait meilleur ...« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 150). (»Ich dachte nur an Dich ... Ich wusste nicht, was ich im Kopf hatte ... Was hätten wir beim zweiten Mal getan ... Als Du mich das zweite Mal verlassen hast, sagtest Du mir, Du machtest andere Dinge mit mir ... Wo, das wusste ich noch nicht ... (Sie lacht.)) Beim zweiten Mal hätte ich nicht geheult. Ich wusste ja nicht, dass man so die Kinder macht ... Ich finde nicht, dass das so köstlich ist. Ja, ich musste immer noch an das große Schwein denken ... Beim zweiten Mal wäre es besser ... «)
Die Darstellung des Falles der Louise wird dabei von diesen beiden Themen beherrscht: von den geltenden Moralvorstellungen, denen eine Frau ihrer Zeit zu entsprechen hat, sowie vom eigenen Lusterleben dieser Frau, die mit jenen Moralvorstellungen kollidieren. Die Opazität der psychologischen Figureneigenschaften einer Person, deren Bewusstsein der direkten Rede entströmt, wird als Erzählmittel seitens der Literaturwissenschaft als Infragestellung der Konsistenz von Charakteren verstanden (Meid V (1993) 765f).
Abb. 4: Régnard P Attitudes Passionelles - Crucifiement. Bourneville DM, Régnard P (1878) XXV, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Jedoch wird der direkten Rede Louises trotz bündiger Zusammenfassungen ein Umfang eingeräumt, der zur Beschreibung der Delirien nicht notwendig wäre. Zumal der Protokollant das innere Erleben Louises zwar erfasst, aber auch mit Auslassungszeichen moderiert. Gerade diese Zeitraffungen dramatisieren. Auslassungen und Ergänzungen lassen sich als Verankerung des Deliriums in das konsistente Bezugssystem wissenschaftlicher Informationsvergabe verstehen, als intersubjektive Authentifizierung einzelner Subjektivität. Im Zusammenfall von Erzählzeit und erzählter Zeit in der dramatisierten Figurenrede wird erotisches Erleben herausgearbeitet. Weitere erotische Details sind in jenen Stimmungsevokationen nur zu erahnen. Diese ambivalente Dramatik nährt das Interesse des Lesers unter den Vorwänden der Wissenschaftlichkeit.
Abb. 5: Régnard P Attitudes Passionelles - Supplication Amoureuse. Bourneville DM, Régnard P (1878) XX, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Die Rede zeigt Dramatisierung. Dass Bourneville die wörtlichen Äußerungen Louises mitschreibt, intensiviert den Ausdruck mehr als jede Paraphrasierung. Zugunsten dieser Realitätsnähe beschränkt sich der protokollarische Rahmen hier auf Einschübe zum Gesichtsausdruck, zur Körpertemperatur sowie zur Vaginalsekretion (Bourneville DM, Régnard P (1878) 153). Der observatorische Anspruch wird dann verstärkt durch hypotaktische Satzkonstruktionen mit Häufungen von Satzgliedern. Diese legen eine minutiöse, auf Vollständigkeit und Umgebungsparameter bedachte Informationsvergabe nahe, im Fall der Patientenvorgeschichte zum Zweck der
»reconstitution anamnestique des vies, de la notation détaillée et fidèle des récits« (Gauchet M, Swain G (1997) 62) (»zur anamnetischen Rekonstruktion des Lebenslaufes, zur detaillierten und wortgetreuen Notation« ).
Man beachte die subtile Intensivierung des Ausdrucks durch Satzfragmente, die stakkatoartig zu Steigerungsformen gereiht werden, wenn es um das Verhalten der Patientin geht:
»La tête et le tronc se portent en arrière et vont toucher le lit et l'oreillier; en même temps: 1° le bras se colle contre le tronc; l'avant-bras, qui était allongé, se fléchit; la main, qui était en supination, se met en pronation, se fléchit, et vient toucher l'épaule; - 2° le membre inférieur, qui était allongé, se fléchit, la cuisse sur le bassin et la jambe sur la cuisse; dans ce mouvement, le talon seulement ou la plante du pied toute entière frotte sur le lit« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 155). (»Der Kopf und der Rumpf strecken sich nach hinten und berühren Bett und Kissen und zugleich: 1° drückt der Oberarm gegen den Rumpf; der Unterarm , vormals gestreckt, wird angezogen; die Hand, die nach ist in Supination, dreht sich in Pronation und berührt die Schulter; - 2° die untere Extremität, vormals ausgestreckt, wird angezogen, den Oberschenkel über dem Becken und den Unter- am Oberschenkel; in dieser Bewegung reiben lediglich die Ferse oder die ganze Fußsohle reiben auf dem Bett.«)
Dramatisch vermittelte Stimmungen können aber auch gestört werden. So betont der Literaturwissenschaftler Emil Staiger in seinem Werk über die Grundbegriffe der Poetik, dass Kausalisierungen relativieren, objektivieren. Erzeugen unverbundene Aneinanderfügungen von Sätzen, Parataxen, und Wiederholungsfiguren eine dramatisierte Stimmung, geben Handlung unvermittelt wieder, so rationalisieren Kausalisierungen den Textinhalt (Staiger E (1961) 39, Martinez M, Scheffel M (1999) 50f). In der Iconographie spielt der Protokollant mit Louises unverbundenem Redefluss und kausalisierenden, rationalisierenden, objektivierenden Zwischennotizen:
»les paupières palpitent, la malade devient immobile, le regard est fixe; les bras se croisent et sans avoir ni période épileptoïde ni période clonique, elle retombe dans la période du délire« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 148). (»Die Augenlider zucken, die Kranke wird bewegungsunfähig, der Blick ist fest; die Arme kreuzen sich, und ohne eine epileptoide Periode noch eine klonische Periode zu haben, fällt sie in die eine Periode des Deliriums.«)
Diese parallelisierende Beschreibung dramatisiert den Bericht. Die Wortakkumulation période erzeugt eine Emphase, mit der die medizinische Klassifizierung des hystero-epileptischen Krankheitsbildes als selbstverständlich vorausgesetzt wird. - Es folgt dann aber ein in sich vielverbundener, kausalisierender Textabschnitt, der das gerade Erlebte und rhetorisch Untergeschobene wie selbstverständlich relativiert:
»il s'agit donc là d'attaques constituées uniquement par la troisième période et anoncées, comme on le voit, par les modifications, les changements de la face qui surviennent d'habitude au début des attaques complètes« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 148). (»Es handelt sich hier also um Anfälle, die sich lediglich aus der dritten Periode zusammensetzen und die - wie man sieht - durch Modifikationen, durch Veränderungen des Gesichtes angekündigt werden, die normalerweise überraschend zu Beginn vollständiger Anfälle auftauchen.«)
Hier wird auf Emphasen, parallelen Satzbau und Parataxen verzichtet, der zeitliche Ablauf wird entschleunigt. Das Protokoll klingt dann mit Nebenbeobachtungen aus, wurde doch noch im Satz zuvor noch von einem Periodensystem der Hystero-Epilepsie phantasiert.
Dann steigt der Protokollant aber umgehend wieder voll ein in die Darstellung des Deliriums und die Erreichung einer stärkeren Geschehensnähe durch Figurenrede (vgl. Sowinski B (1991) 859). Unverbundene Sätze Louises teils leidenschaftlich-elliptischen Charakters richten sich an einen imaginären Besucher, der sich später als der geliebte Emile erweist. Der Protokollant benennt diesen nicht sofort, sondern lässt den Leser im Unklaren, so dass dieser sich direkt angesprochen fühlen kann. Bezeichnend für dieses Vorgehen, die Äußerungen der Louise dem Leser unvermittelt wiederzugeben, ist, dass diese unvermittelt aufhören, mit den Worten Louises:
»Tu te figures que j'en ai six à quinze ans ... Les paroles s'en vont, les écrits restent ... Dans des moments, doux comme un mouton, dans d'autres furieux comme un lion ...« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 148). (»Du malst Dir aus, dass ich sechs bis 15 Jahre alt bin ... Worte vergehen, Geschriebenes bleibt ... Bisweilen sanft wie ein Lamm, manchmal wild wie ein Löwe ...«)
Der Autor scheint in der Schilderung des nächsten Tages noch ganz unter dem Eindruck der Louise zu stehen. Jedenfalls versucht sein sprachlicher Ausdruck die Ergriffenheit der Kranken aufzunehmen:
»L... a bavardé sans cesse depuis hier sans avoir d'attaques et son bavardage continue encore : c'est un véritable délire de paroles.« (»L. ... hat seit gestern ohne Unterlass gebrabbelt und ohne Anfälle zu haben und ihr Brabbeln dauert noch an: das ist ein wahrhaftiges Delirium an Worten.«) (Bourneville DM, Régnard P (1878) 148, Hervorhebung durch Bourneville).
Die Wiederholungsfigur »a bavardé sans cesse...et son bavardage continue encore« zeugt als Stilmittel von Kontinuität. Angereichert mit dem Bindewort »et« leitet sie zu einer Steigerung der »bavardage« bis in die Gegenwart hin. Diese Steigerung wird nachdrücklich bekräftigt durch die übertriebene Feststellung eines »véritable délire de paroles«, die zudem im Text der Iconographie emphatisch kursiv gesetzt wird.
Abb. 6: Régnard, P Attitudes Passionelles - Menace. Bourneville DM, Régnard P (1878) XVIII, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Bildkünstlerische Ästhetisierung der Protokollsituation
In den Abbildungen der Iconographie wird der Betrachter ins Bett genommen. In Tafel 21, Erotisme, legt sich Louise zur Seite (Abbildung 3). Intimität, leichte Bekleidung, Verdichtung der Bildtiefe durch das Aufnahmeobjektiv, Handlungsentfaltung innerhalb einer bildflächenparallelen Raumbühne, vor gestaltlosem Hintergrund. Formlose Offenheit des Haares, freigelegte Arme, verrutschte Kleidung, entblößte Schulter, Freizügigkeit.
Abb. 7: Régnard P Attitudes Passionelles - Extase 1876. Bourneville DM, Régnard P (1878) XXII, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Der Fotograf versucht die bildliche Umsetzung der Intimität der Figurenrede. Auch hier fällt das Zusammenspiel aus vermeintlicher wissenschaftlicher Distanz und gesteigertem erotischen Interesse auf. Gegen die allzu intime Einbeziehung in die weibliche Erlebniswelt nimmt der Fotograf das Bettgitter zu Hilfe. Gegenüber der Auflösung der persönlichen Integrität der Patientin wahrt der Betrachter Distanz. Dabei verliert das Gitter seine ursprüngliche Funktion, die Patientin vor dem Herausstürzen zu bewahren. Denn die Gebirge aus Matratzen und Kissen ragen weit über das Gitter hinaus. Strukturell entsprechen der Rhythmus der Gitterstäbe und der obere Abschluss des Gitters den Auslassungen und Einschüben des Protokolls, in dessen kausalisierender Distanz ein Rezipient nicht mehr mit Louise allein sein muss.
Abb. 8: Régnard, P Attitudes Passionelles - Extase 1878. Bourneville DM, Régnard P (1878) XXIII, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
In der Menace, der Bedrohung, Tafel 18, blickt Louise gegen die Bildleserichtung (Abbildung 6). Die Betrachtung hebt aus der Bildschwere des fragmentarischen Gitters links an, setzt sich über die Decke und über Gewandbauschungen nach dem Gesicht der Louise fort. Louise wehrt sich. Die geballte Faust des linken Arms nimmt in den Fingern die Faltenbewegung auf, leitet aber sogleich durch den Unterarm nach unten ab. Der linke Unterarm bildet gegenüber den aufstrebenden Gewandfalten eine Zäsur, die eine nahtlose Fortsetzung der Blickbewegung im Haar verhindert. Der Fotograf geht soweit, dass er, um partielle Bildschwere zu schaffen und damit eine blickbindende Bilddynamik anzustoßen, den Bereich des Gitters in seiner räumlichen Situation stark verunklärt. Man kann bei den Faltenwürfen zwischen den Gitterstäben Retuschen vermuten, zum Zwecke der Anreicherung mit Bildinformationen zur Erreichung ponderativer Bedeutung. Und überhaupt entspricht das Gitter in seiner räumlichen Stellung nicht dem Tiefenzug des eigentlichen Bettes. Hier wird am deutlichsten, dass es sich also um eine requisitorische Zutat handelt, die zur fotografischen Inszenierung des Bildes und des Bildeindruckes beitragen soll.
Je nach Intention gibt der Fotograf die Tonwerte identischer Haut-, Gewand- und Stoffpartien unterschiedlich wieder. In Erotisme ist Louises Haut dunkel, die Wangenpartien punktuell akzentuiert (Abbildung 3). Gewand und Laken kommen als Grautöne. In anderen Bildern jedoch wirkt Louise verklärt, z.B. in der Extase. Dort herrscht Überbelichtung vor (Abbildung 7). Die Aufhellung des monochromen Hintergrundes hinter überbelichteten Kissen suggeriert Überstrahlungseffekte. Die intensivierte Lichtflut sakralisiert. Die Herrschaft des Lichtes ist in einer zweiten Extase noch ausgeprägter (Abbildung 8). Louises Gesichtszüge sind treten im übermächtigen Licht zurück. Im Crucifiement wird eine Louise zur Märtyrerin (Abbildung 4). Im Delirium der Frau geht es um Traumata sexuellen Ursprungs. Das Krankenbett bezeichnet den Ort dieser Leiderfahrung. Das niedergedrückte Bettzeug zeigt die Körperhaltung in einer breitgespannten Diagonale ausgebreiteter Arme. Dieser Ausgriff entspricht der Geltung, die die wiederholten Exklamationen Louises beanspruchen. Eine frivole wie monumentale Inszenierung. Frivol das nackte Gesäß, monumental die Körperhaltung aus dem niedrigen Betrachtungsstandpunkt, pathetisch der entrückte Blick in die Ferne.
Abb. 9: Régnard, P Attitudes Passionelles - Appel. Bourneville DM, Régnard P (1878) XIX, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
In Louise, im Normalportrait, wurde zur Subtilisierung weiches Licht benutzt. Die Zartheit ihrer Züge ließ den Betrachter an dieser Stelle verweilen, bevor er sich in die Erkundung des Umraumes um Louise begab. Der Umraum erstreckte sich in tiefenräumlicher Sicht gleichmäßig nach allen Seiten und geht von der statuarischen Erscheinung Louises aus. Das wurde als Zeichen ihrer jugendlichen Energie und Ausstrahlung verstanden, wobei aber in lichtbildnerischer Hinsicht ganz prosaisch auf enge Kleidung, auf kompakte Körperformung mit gleichzeitiger Dynamisierung und auf jugendliche Physiognomie zurückgegriffen wird. In den Deliriendarstellungen hingegen erzeugt gerichtetes Licht die von Disdéri erwähnte Typisierung der Abgebildeten. Die Krankheit wird verallgemeinert, Louise ist nur ein Einzelfall. Hier herrschen nicht nur formübergreifende Zusammenhänge in Faltenspielen oder formordnende Dynamiken in Faltenscharen zur Vorbereitung und Begleitung ausgreifender Gebärden. Das figurübergreifende Hell-Dunkel stellt die Figur vielmehr in einen Zusammenhang zum Bildganzen. Das reliefierende Licht bezieht sich auf die klassischen bildflächenparallelen Aktionsräume französischer Historienbilder. Keineswegs bestimmt Louise das räumliche Umfeld in ruhiger Akkumulation von Raumvolumen, wie im Normalportrait. Vielmehr ist die Figur durch Bildgrenzen beschnitten. Und dort, wo die Hysterikerin körperlich vollständig erfasst wird, z.B. in der Extase, bewirkt das grelle Streiflicht die Verunklärung der Körper- und Gesichtskonturen. Im Crucifiement bezieht sich dasselbe Prinzip auf den Oberkörper der Hysterikerin, der einer gewaltsamen Verspannung in die Bildgrenzen unterworfen ist.
So stellt Régnard die Delirien in Kontrast zur Normalansicht mit ihrer Darstellung einer autonomen Figur in selbstbestimmter Umgebung. Man kann behaupten, dass Régnard Disdéris zeitgenössische Forderung nach einem
»intérêt dominant d'un charactère déterminé« und der »unité d'intérêt dans la composition« (Disdéri E (2003) 61f) (»dominantes Anliegen eines bestimmten Charakterzuges« bzw. »Einheitlichkeit des Anliegens innerhalb der Komposition«)
in den elementaren und strukturellen Gestaltungsmitteln umsetzt - und dies nicht nur in der Darstellung der bekleideten Louise im Normalzustand, sondern auch in der Entsprechung des Deliriums. Mithin ist von einer aktiven Bildgestaltung zu sprechen, von einer den literarisch aufbereiteten Observationen entsprechenden bildkünstlerischen Inszenierung.
Abb. 10: Régnard, P Attitudes Passionelles - Menace. Bourneville DM, Régnard P (1878) XXVII, konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière
Die Folge der Bilder der Iconographie stellt nur eine paradigmatische Konfiguration aus Einzelbildern dar:
»Dans une autre attaque, après la période épileptoïde et la période clonique, nous observons l'attitude du crucifiement, ... de la menace ..., l'appel, l'érotisme, la supplication amoureuse, enfin la lutte ...« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 164). (»Bei einem anderen Anfall beobachten wir nach der epileptoiden und nach der klonischen Periode die Haltung der Kreuzigung, ... der Bedrohung ..., des Appells, des Erotismus, des Liebesflehens, schließendlich des Kampfes ...«)
Abb. 11: NN Le corps se courbe en arc ... Bourneville DM, Régnard P (1878) 145, Abb. 4. konserviert an der Bibliothèque Charcot (Université Pierre et Marie Curie) - Hôpital de la Salpêtrière.
Dem einzelnen Protokollabschnitt entspricht bis auf wenige Abweichungen das einzelne Bild. So beziehen sich die ersten Protokollpassagen auf die Menace durch Ratten, auf sexuelle Annäherung und auf das Verhältnis zu den Eltern (Bourneville DM, Régnard P (1878) 147f) Dem Appel (Abbildung 9) entsprechen die Passagen, in denen Louise Verschwiegenheit anmahnt und Fluchtpläne schmiedet (Bourneville DM, Régnard P (1878) 148f). Die Supplication amoureuse (Abbildung 5) findet sich im Werben um Emile (Bourneville DM, Régnard P (1878) 149), dann folgt wieder eine Bedrohungssituation (Bourneville DM, Régnard P (1878) 151). Handfeste Erotismen finden sich im Protokoll ebenfalls:
»Effroi: ›Des rats!‹ X... [Louise; d.V.] donne des coups violents à son lit. ›Cette fois il nous laissera tranquille.‹ Ensuite, elle sourit, donne des baisers, se met debout, est suppliante. ›Encore! encore!‹ Fait signe, supplie: ›Tu ne veux plus ... Je vais monter.‹ (On dirait que son amant est placé au-dessus d'elle, descend à coté d'elle, remonte, etc.)« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 163). (»Entsetzen: ›Ratten!‹ X... versetzt ihrem Bett gewalttätige Stöße. ›Diesmal läßt er uns in Ruhe.‹ Dann lächelt sie, gibt Küsse, richtet sich auf, fleht. ›Weiter! Weiter!‹ Macht Zeichen, fleht: ›Du willst nicht mehr ... Ich gehe nach oben.‹ (Anscheinend befindet sich ihr Liebhaber über ihr, legt sich neben sie, beugt sich wieder über sie, etc.)«)
Es liegt nahe, den kompositorischen Nachdruck der bildlichen Darstellung auf die literarische Dramatisierung des Sujets zu beziehen. Dass diese literarischen Gestaltungsmittel der Dramatisierung dienen, entspricht der thematischen Steigerung von Tetanismus, Bedrohung, Appell, Liebesflehen, Erotismus, Ekstasen, Halluzination, Kreuzigung, der später - aber nicht mehr damit zusammenhängend - noch weitere Zustände nachgereicht werden. Diese Steigerung über die nicht alltägliche Lusterfahrung hin zum übernatürlichen Erleben, zur Transzendenz, korrespondiert dem pathetischen Übergang vom Alltäglichen in die Sphäre des Erhabenen:
»Der pathetische Mensch ... ist bewegt von dem, was sein soll; und seine Bewegung ist gerichtet wider das Bestehende. Immer bleibt das Bestehende hinter dem zurück, was im Pathos bewegt. oder, von der anderen Seite aus gesehen, das Pathos ist erhaben« (Staiger E (1961) 151).
Abb. 12: Brouillet PA Une leçon clinique à la Salpêtrière. Salon von 1887, Öl auf Leinwand, 300 x 425 cm, Faculté de Médecine, Paris.
Was taten nun die Ärzte mit diesem minderjährigen, traumatisierten Objekt der Forschung? Man veröffentlichte nicht nur deren Äußerungen aus dem Verbaldelirium und die dazugehörigen, spannenden Fotografien, sondern man konnte sie auch öffentlich, in Charcots leçons du mardi, in einen Starrkrampf versetzen und dann mit Hypnose, Magneten, Elektroschocks und dem besonderen zeitgenössischen Highlight malträtieren, der Ovarienpresse (Bourneville DM, Régnard P (1878) 165):
»A sa leçon, M. Charcot a provoqué une contracture artificielle des muscles de la langue et du larynx (hyperexcitabilité musculaire durant la somniation). On fait cesser la contracture de la langue, mais on ne parvient pas à détruire celles des muscles du larynx, de telle sorte que la malade est aphoné et se plaint des crampes au niveau du cou. Du 25 au 30 novembre, on essaie successivement: 1° l'application d'un aimant puissant qui n'a d'autre effet que de la rendre sourde et de contracturer la langue; - 2° de l'éléctricité; - 3° de l'hypnotisme; - 4° de l'éther: l'aphonie et la contracture des muscles du larynx persistent. Le compresseur de l'ovaire demeure appliqué pendant trente-six heures sans plus de succès. Une attaque provoquée ne modifie en rien la situation« (Bourneville DM, Régnard P (1878) 165f). (»In seiner Vorlesung hat M. Charcot eine künstliche Kontraktion der Zungenmuskeln und des Kehlkopfes hervorgerufen (muskuläre Übererregbarkeit während der Somniation(in der Hypnose, Anm.d.Autors)). Man hat die Kontraktur der Zunge aufgehoben, aber nicht erreicht, die der Kehlkopfmuskeln aufzuheben, weshalb die Kranke aphon ist und über Krämpfe im Bereich des Halses klagt. Zwischen dem 25. und dem 30. November versuchten wir nach und nach: 1° die Anwendung eines starken Magneten, der keinen andere Wirkung hat, als die Patientin stimmlos zu machen und ihre Zunge zu kontrahieren; - 2° Elektrizität; - 3° Hypnose; - 4° Äther: die Stimmlosigkeit und die Kontraktur der Kehlkopfmuskeln bleiben. Die während 36 Stunden applizierte Ovarienpresse bleibt ohne zusätzlichen Erfolg. Ein provozierter Anfall ändert in nichts die Lage.«)
Mit der anschaulichen Monumentalisierung des befunden-erfundenen Krankheitsbildes zum Zweck der reviviscence und der grausamen Unbeholfenheit der Behandlungsmethode wird die Iconographie photographique de la Salpêtrière aus den 1870er Jahren zu einem der bizarrsten Beispiele bild- und sprachkünstlerisch angereicherter Wissenschaftspropaganda.
Literatur
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777