Christoph Kammertöns: Kunst als Stabilisierung von Lebensstil und Lebenswelt: Pierre Bourdieu und Hermann Lübbe.
1 Einleitung
1.1 Untersuchungsziel und -modus
Im vorliegenden Aufsatz soll die These einer sozial distinguierenden und lebensweltstabilisierenden Funktion von Kunst geprüft werden, indem einer soziologischen Perspektive auf Kunst eine philosophische gegenübergestellt wird.
Konkret soll dem durchsetzungsstarken, im Sinne breit anerkannter Erklärungsqualität für bürgerliche Kulturbetätigung fast schon klassisch zu nennenden lebensstiltheoretischen Ansatz Pierre Bourdieus Herrmann Lübbes zeitlich überschneidender philosophischer Zugang im Zeichen einer Kompensationsqualität von Kultur, im engeren Sinne von Kunst, gegenübergestellt werden.(1)
Die vorrangig soziale, intersubjektive Perspektive Bourdieus wird also mit einer intrasubjektiven Perspektive konfrontiert, die ein Lebensgefühl von Verunsicherung durch Wandel im Sinne technischen Fortschritts reflektiert. Nach Lübbe soll die Kunst gegenüber der hier drohenden Desorientierung eine kompensierende Wirkung zeigen. Entsprechend unterscheiden sich die Ansätze hinsichtlich eines Performanzfokus (soziokulturelle Analyse des habitusgeprägten Verhaltens) bei Bourdieu, respektive eines wahrnehmungsorientierten Fokus bezüglich des Bewusstseins von wachsender Instabilität der Lebenswelt bei Lübbe.
Vor dem Hintergrund von Joachim Ritters These von »Kunst« als »gelungene Bewahrung und just darum Kompensation« (Paraphrase von Marquard, S. 161) entfaltet Lübbe, unterstützt und grundiert durch Odo Marquard, die These von der philosophischen Aufgabe des »Orientierungskrisenmanagement«, in deren Zusammenhang er auch die über Kompensation orientierungsstiftende Funktion von Kultur bzw. von Kunst ausführt.
Meine zentralen Thesen sind:
Die Bestätigung der ersten These soll in soziologischer Hinsicht vor dem Hintergrund der angeführten Durchsetzungskraft und der Konsistenz einer Verbindung von Lebensstil und Kultur bei Bourdieu lediglich als referierende Aufgabe behandelt werden. In philosophischer Hinsicht jedoch ist argumentativ erst zu erhärten, inwiefern sich Lübbes Thesen als Bestätigung einer lebensstil- und lebensweltstabilisierenden Qualität von Kunst nutzen lassen. In diesem Zusammenhang müssen auch seine impliziten Bezüge auf Bourdieu herausgestellt werden.
1.2 Begriffsbestimmungen
Gegenüber der - für die Argumentation möglicherweise organischeren Definition am Ort ihrer ersten Erwähnung durch Bourdieu oder Lübbe - gebe ich hier einer vorgeschalteten Begriffsbestimmung den Vorzug, um auch die Abhängigkeit der Begriffe untereinander und ggf. erste Verwendungszusammenhänge bei Bourdieu und Lübbe darzustellen.
Zu präzisieren ist zunächst der Begriff ›Kultur‹, den Herbert Schnädelbach in seinem Bedeutungs- bzw. Sinnumfang umreißt und den er zum Ausgangspunkt seiner unten noch darzustellenden Kritik an Lübbe wählt. Unterschieden werden muss demnach zunächst Kultur als menschgemachte Lebenswelt in Abgrenzung zur Natur, »aus der er heraustrat« (von Schnädelbach als »KULTUR« kenntlich gemacht; Schnädelbach, S. 407). Als »eine vom Menschen selbst geschaffene Ersatzwelt für die natürliche Umwelt der Tiere« ist sie funktional »Kompensation der verlorenen Natur« und zugleich »kreative Potenz« (ebd., S. 407f.). Ihr sind mit Bezug zu Bourdieu auch alle Lebenspraxen zuzuordnen, die auf der Basis eines spezifischen Habitus und der dafür erforderlichen Bildung als Lebensstil erkennbar werden. Im engeren Sinne ist »Kultur« jedoch als »Teilsystem der KULTUR« aufzufassen, das auf die Abgrenzung von Technik, Wirtschaft, Politik etc. zielt (vgl. ebd., S. 407; in diesem Sinne soll ›Kultur‹ im Folgenden verwendet werden).
So ist unter den letztgenannten Sinn von Kultur also auch die ›Kunst‹ zu fassen, die sich vordergründig hinsichtlich einer angenommenen ästhetisch grundierten ›Interesselosigkeit‹ technischen, wirtschaftlichen und politischen Zielen zu entziehen scheint. Indes ist es ein bekanntes Faktum, dass Kunst mittelbar sehr wohl mit diesen Zielen in Verbindung zu bringen ist, was hier nicht weiter dargestellt werden muss. Und insbesondere bei Bourdieu wird in der Tat deutlich, inwiefern Kunst hinsichtlich einer elitären Rezipientenkennerschaft sehr wohl funktional in vorgenannte Interessen (bürgerlicher Erfolg in Technik und Wirtschaft einschließlich politischer Wirksamkeit, flankiert durch kulturelle Distinktion) integriert werden kann.
Dennoch sei Kunst hier vor einem primär ästhetischen - und damit zunächst von wirtschaftlichen und ähnlichen Interessen abgewendeten - Hintergrund sehr weit definiert als das, »was der einzelne (der natürlich auch durch Tradition und die Vorstellungen einer Elite beeinflußt ist) als Kunst empfindet« (Hummel/Berger, S. 23)(2). Diese Definition ermöglicht es, Kunst in Lübbes Kompensationsthese von Kultur einzubinden, da es ja letztlich auf die Kompensationswirkung für den einzelnen ankommt. Enthalten ist in dieser Definition auch die mögliche Zuschreibung, dass Kunst das ist, was im Museum zu finden ist, wie sie in der Folge von Marcel Duchamps objets trouvés möglich wurde. Nach Lübbe ist das öffentliche Museum als »Zentralort, wo das Publikum sich zur Kunst frei vom Zwang der Identifikation mit ihren transästhetischen Zwecken in ein Verhältnis setzen kann [...], statt Entmündigung der Kunst, in Wahrheit die institutionelle Voraussetzung ihres Daseins in der modernen Kultur« (1994, S. 100). Die oben angedeutete Funktionalisierbarkeit von Kunst ist denn auch kein Widerspruch mehr zu ihrer Autonomie, wenn gilt: »Nicht ihre Unbeziehbarkeit auf solche privaten und öffentlichen Zwecke macht die Autonomie der Kunst aus [...], vielmehr die Indifferenz ihrer ästhetischen Schätzung im Verhältnis zu unseren lebensmäßigen Verbundenheiten oder auch Unverbundenheiten mit jenen Zwecken« (ebd., S. 99).
Wenn zuvor von elitärer Rezipientenkennerschaft die Rede war, wird deutlich, dass die Kunsterfahrung, die sich schließlich zur sozial bestätigten Kennerschaft festigen kann, nicht rein individuell, sondern auch in soziale Gruppen, damit in ›Milieus‹ und in ›Lebenswelten‹ von informellen Interaktionen eingebunden ist: Auch eine Elite ist eine, wenn auch zwingend kleine, Gruppe, die in einer spezifischen Lebenswelt und in Netzwerken innerhalb bestimmter soziokultureller und -ökonomischer Bedingungen ein (dann als ›Klasse‹ hierarchisch situiertes) Milieu vorfindet respektive ausbildet, das nach Hradil durch eine spezifische Mentalität im Sinne von Wahrnehmungen, Werthaltungen und Motivationen sowie durch korrespondierende spezifische Verhaltensweisen geprägt ist (vgl. 2006, S. 278). Insbesondere für den kultursoziologisch ausgerichteten Ansatz von Bourdieu steht die Verhaltensorientierung im Sinne einer bestimmten Art der Kulturausübung und der damit verbundenen Rezeption und Bewertung im Vordergrund.
Aus der großen Komplexität des Begriffs ›Lebenswelt‹ sei hier zweckdienlich dessen Definition als »›Hintergrund‹ des Alltäglichen« (Amann, S. 21) aufgegriffen, wobei ›Alltag‹ in seiner »generativen Struktur« und der Qualität, »Interaktionsraum« zu sein, als »empirisches Phänomen« zu verstehen ist, »wenn damit die konkrete und lebendige, umfängliche Fülle der Erlebniserfahrung von Handelnden bezeichnet wird, die sich aufeinander in den unterschiedlichen Reichweiten ihrer Zugriffsmöglichkeiten auf den historischen und biographischen Bestand einer vorgegebenen Gesellschaft beziehen« (ebd.). Da die Erlebenden und Handelnden in vielfältigen Zusammenhängen kommunizieren, kann zudem von »kleinen Lebenswelten« gesprochen werden, die sich abwechseln: »Sie werden als Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit gesehen, die sich die Subjekte sinnhaft ausgestalten« (ebd., S. 21).
In diesen Milieus und den damit verbundenen Lebenswelten und -stilen (s.u.) bestätigt sich - oder erfolgt erst - die individuelle, doch sozial bestimmte Bildung einer ›Identität‹, dies jeweils im Spannungsfeld zwischen (gegenseitig abhängiger) sozialer Bezogenheit als Fremdbild und dem Selbstbild - mit dem Ziel einer ausbalancierten Ich-Identität: »Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrecht zu erhalten« (Erikson, S. 107).(3)
Der ›Lebensstil‹ als Routinemuster individueller Handlungen, Meinungen etc. ist eine Unterkategorie der zum Milieu zusammengefassten psychischen Dispositionen (vgl. Hradil 2001, S. 45f.). Der Lebensstil »symbolisiert [...] Identität und signalisiert Zugehörigkeit«. Darüber hinaus »markiert er eine klare Abgrenzung zu anderen Lebensführungsweisen« und wird »häufig als Mittel und Strategie zur Schließung sozialer Beziehungen und zur monopolistischen Appropriation von Lebenschancen einer Statusgruppe benutzt« (Müller/Weihrich, S. 101). Milieu und Lebensstil stehen also für die Spannung zwischen Ein- und Ausgrenzung wie auch für jene zwischen individueller und Gruppen-Identität. Im Sinne der Thesen Bourdieus und Lübbes ist zudem folgender Fokus wichtig: »Lebensstile rücken expressiv-ästhetische Orientierungen und Handlungen ins Zentrum - die mehr oder weniger bewusste Selbstdarstellung (Stilisierung) der Individuen in Fragen des Geschmacks und der kulturellen Interessen« (Geißler, S. 106, Hervorhebung im Original fettgedruckt).
Wesentlicher Baustein des Ausgleichs zwischen Fremd- und Selbstbild wie auch die Folie, auf der sich eine elitäre Kunstkennerschaft erst etablieren bzw. absetzen kann, ist der ›common sense‹. Die Übersetzung von common sense (oder verwandten Bildungen wie bon sens, sens comun, sensus communis) mit ›gesunder Menschenverstand‹ ist zwar korrekt, trägt jedoch noch nicht viel zur inhaltlichen Erhellung des Terminus bei. Stimmig erscheint im vorliegenden Zusammenhang folgende Definition Bourdieus:
»Die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen der sozialen Welt eingesetzten kognitiven Strukturen sind inkorporierte soziale Strukturen. Wer sich in dieser Welt ›vernünftig‹ verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata [...], mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ›Klassen‹ hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten. Resultat der Inkorporierung der Grundstrukturen einer Gesellschaft und allen Mitgliedern derselben gemeinsam, ermöglichen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Welt, einer Welt des sensus communis« (1982, S. 730).
Es geht also um eine Vernunft in Form von unreflektierten »Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata«. So dient der common sense als diskriminierende Wahrnehmungsinstanz, die aber - im Unterschied zum analytischen Verstand - keine Rechenschaft für ihr Tun ablegen muss. Sie muss sich nicht legitimieren und könnte dies auch nur, wenn ihre Entscheidungen in bewusster Abwägung, im Verlauf eines Diskurses getroffen würden, der ein Für und Wider sowie ausschlaggebende Motivationen reflektieren müsste.
Das Unbewußte, nicht diskursiv Legitimierbare des common sens wird durch Attribute wie »inneres Licht«, »Sinn« oder »Gabe des Himmels« bereits bei Thomas Reid, dem führenden Kopf der common-sense-Bewegung im 18. Jahrhundert, betont. Er verweist ebenso auf die umfassende (wenn auch graduell verschieden ausgeprägte) Streuung des common sense, den man so nenne, weil sie »allen Menschen, mit denen wir es zu tun haben oder die wir zur Rechenschaft ziehen können, gemeinsam ist« (Reid zit. nach Henningsen, S. 20)«. Es wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass dem common sense nichts Elitäres anhaften kann; er könnte sonst nicht ein - wenn auch eben in seiner Ausprägung nicht gleich verteiltes - Allgemeingut sein.
Nach Lübbe besteht die Qualität des common sense wesentlich in seiner identitätsstiftenden Orientierungsleistung, wie noch auszuführen sein wird. Seine Störung führt entsprechend zur Konfusion (vgl. Lübbe 1974, 1048f.), die dann die Philosophie als Hilfsmedium auf den Plan rufen muss.
2 Bourdieus kultursoziologischer Ansatz(4)
Im folgenden soll in kultursoziologischer Perspektive verdeutlicht werden, wie die Kunst (von Bourdieu sowohl als Bildende Kunst, als Musik und Literatur herangezogen) vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Veränderungen des 19. Jahrhundert zum Medium spezifischen »sozialen Handelns« wurde. Dieses Handeln, das nach Max Weber »seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (S. 1), steht, mit Bourdieu gesprochen, im Dienste einer bürgerlichen »Distinktion«, die gesellschaftliche Ein- und Ausgliederungsprozesse verfolgt (vgl. 1982, S. 104ff.), nach Gerhard Schulze gar die Funktion einer »Waffe« (S. 109) hat. Der Fokus der Distinktionswirksamkeit ist insbesondere auf die Zeit um die und ab Entstehung der entsprechenden Veröffentlichungen (Bourdieu: 1970er und 1980er Jahre mit Schwerpunkt Frankreich, Schulze: 1990er Jahre mit Schwerpunkt Deutschland) bezogen, muss aber als fortgeltend betrachtet werden und lässt sich wirksam bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen (vgl. Kammertöns 2000).
Eine distinguierende Funktion lässt sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kapitalsorten im Sinne eines kulturellen und ökonomischen Kapitals nach Bourdieu einschätzen, die das soziale Kapital im Sinne der Zusammenschau möglicher Teilhabeformen an sozialen Beziehungen mitbestimmen: Bildende Kunst über das zufällige Auftauchen von Kunstabbildungen im öffentlichen Raum hinausgehend zu rezipieren, insbesondere Museen zu besuchen, verlangt für den Erwerb von kulturellem Kapital die Notwendigkeit einer gewissen Freiheit von ökonomischen Zwängen, damit der Kunstinteressierte überhaupt die Muße aufbringen kann, sich mit zweckfrei Kulturellem, hier Kunstgenuss und Erwerb von Kunstkennerschaft beschäftigen zu können: Die »Akkumulation eines [...] kulturellen Kapitals« ist »nur um den Preis gleichsam eines Rückzugs aus der Sphäre der ökonomischen Notwendigkeit möglich« (1982, S. 100). Vor dem Hintergrund des »allgemeinen Vermögens zur Neutralisierung(5) der im Alltag sich manifestierenden Zwänge« wird »jene Distanz zur Welt« vorausgesetzt, »die das Fundament der bürgerlichen Welt-Erfahrung ausmacht« (ebd., S. 101f.).
Dialektisch steht diese Haltung dem bürgerlichen Ehrgeiz und der Potenz gegenüber, durch eigene Leistung wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Während einerseits die Fähigkeit zu wirtschaftlich interessegeleitetem Tun hoch ausgeprägt ist, gefällt sich die materialistische Interesselosigkeit im Kunstgenuss darin, die Distanzierung von der »Sphäre der ökonomischen Notwendigkeit« (ebd., S. 100) durch Zurschaustellung des eigenen überfeinerten Geschmacks in einer Weise zu vergrößern, dass Max Weber von einer »Stilisierung des Lebens« (S. 637) spricht.
Die Ausstellung des eigenen Lebensstils vor dem Hintergrund kultureller Bildung und eines legitimen Geschmacks ist das Mittel der Wahl, soziale Abgrenzung zu vollziehen und die Träger eines illegitimen Geschmacks zu deklassieren. Bourdieu vermutet, es stelle »die Aversion gegen andere unterschiedliche Lebensstile eine der stärksten Klassenschranken dar« (1982, S. 105) und fasst zusammen: »Keine Auseinandersetzung um Kunst, bei der es nicht auch um die Durchsetzung eines Lebensstiles ginge, will heißen die Umwandlung einer willkürlichen Lebensform in eine legitime, die jede andere Form in die Sphäre der Willkürlichkeit verbannt« (ebd., S. 106).
Die distinguierende Möglichkeit zur Kunstaneignung besteht zudem auf der Basis von Kompetenzen, die wiederum an Bildung bzw. eine spezifische Vorbildung geknüpft sind. »Weil die Aneignung der Kulturgüter Anlagen und Kompetenzen voraussetzt, die ungleich verteilt sind [...], bilden diese Werke den Gegenstand einer exklusiven (materiellen oder symbolischen) Aneignung, und weil ihnen die Funktion von (objektiviertem oder inkorporiertem) kulturellen Kapital zukommt, sichern sie einen Gewinn an Distinktion [...]« (ebd., S. 359). Angesprochen ist hier vorrangig das inkorporierte Kapital, das einen »Verinnerlichungsprozess« voraussetzt, der Zeit kostet, »die vom Investor persönlich investiert werden« muss. [...] Das Delegationsprinzip ist hier ausgeschlossen.« Als »feste[r] Bestandteil der ›Person‹ zum Habitus geworden«, zeigt sich so »Bildung«: die »Akkumulation von Kultur in inkorporiertem Zustand« (Bourdieu1983a, S. 187).
Einfacher könnte das objektivierte Kulturkapital zu erlangen sein, sofern die ökonomischen Mittel vorhanden sind. Doch verweist auch dieses Kapital letztlich auf das vorgenannte: »Übertragbar ist allerdings nur das juristische Eigentum. Dagegen ist dasjenige Merkmal, das die eigentlich[e] Aneignung erst ermöglicht, nicht [...] übertragbar: nämlich die Verfügung über kulturelle Fähigkeiten, die den Genuß eines Gemäldes [...] erst ermöglichen; diese kulturellen Fähigkeiten sind nichts anders als inkorporiertes Kulturkapital [...]« (ebd. S. 189).
Den Distinktionscharakter von Kulturausübung sieht Bourdieu Ende der 1970er Jahre durch Befragungsdaten bestätigt und behauptet, dass »die Unterschiede, die sich aus unterschiedlicher sozialer Herkunft« ergeben, »niemals klarer hervortreten [dürften] als im Zusammenhang mit der Ausübung einer bildenden Kunst oder dem Spielen eines Instruments« (1982, S. 134Fn). Er nennt statistische Korrelationen zwischen der sozialen Herkunft und dem Spielen eines Musikinstruments unter der Berücksichtigung eines identischen Bildungsabschlusses und ergänzt: »[...] auch was Bildende Kunst angeht [...] ist bei gleicher Bildungsstufe dennoch ein höherer Prozentsatz von Mitgliedern der herrschenden Klasse zu verzeichnen« (ebd.). (Es soll hier argumentativ als einerlei gelten, ob Kunst rezipiert oder/und selbst praktisch ›ausgeübt‹ wird.)
Im Zusammenhang von Abgrenzung geht es schließlich um die Selbstversicherung, die durch die Kunst geleistet werden soll: »Die Bourgeoisie erwartet von der Kunst [...] eine Bestätigung ihrer Selbstgewißheit [...]« (ebd., S. 459).(6) Zusammengefasst betont Bourdieu also den identitätsstiftenden distinktiven Charakter von Kunstausübung und Kunstrezeption im Sinne einer dem jeweiligen »Klassenhabitus« entsprechenden Abgrenzung von Lebensstilen, die einen »systematischen Charakter« (ebd., S. 175) haben.
3 Lübbes philosophischer Ansatz
3.1 Darstellung und Abgleich mit Bourdieu
Während Bourdieus soziokultureller Ansatz in Bezug auf die lebensstil-, damit auch milieustabilisierende Funktion von Kultur etabliert ist,(7) muss das spezifisch Philosophische und aus dieser Perspektive Lebensstil- und vor allem Lebensweltstabilisiernde in Lübbes Thesen erst aufgefunden bzw. geprüft werden. Zentral erscheint für Lübbe folgende Funktionsbestimmung von Philosophie: Philosophie vertritt »Schemata unserer Wirklichkeitsorientierung. [...] Ihre Funktion ist es, die kategorialen Voraussetzungen intakt und leistungsfähig zu halten, die es uns erst erlauben, uns relevant zu orientieren« (Lübbe 1974, S. 1046). Entsprechend sind Philosophen »professionelle Konfusionsspezialisten, Fachleute für Orientierungskrisenmanagement« (ebd., S. 1047).
Lübbe verortet die Funktion von Philosophie hier nicht nur esoterisch, sondern exoterisch, insofern »sie zumindest einen Teil ihrer Probleme, für die sie dann ein exoterisches Interesse findet, nicht erfunden, vielmehr als die offenkundigen oder latenten Probleme ihres Publikums gefunden und aufgenommen hat [...]« (Lübbe 1980, S. 18). Lübbe präzisiert begrifflich: »Exoterisch ist [...] in Relation zur esoterischen Fachphilosophie diejenige Philosophie, die jeweils als zumeist sogar explizit gemachte Orientierung letzter Instanz auf Sorten von Praxis bezogen ist [...]« (ebd., S. 20).
Diese Funktionalisierung der Philosophie kommt m.E. der Intention mancher, phänomenologisch-lebensweltlich orientierten soziologischen Theorien nahe, allerdings ohne deren Instrumentarium in Anspruch zu nehmen.(8) Dies mag zum einen mit einer Schutzsuche im Sinne von (auch materiell bedeutsamen) Nützlichkeitserwägungen zu tun haben, die pauschal »die Soziologie« als »emanzipierte ›Einzelwissenschaft‹« (Lübbe 1980, S. 24) und damit als privilegierte Geisteswissenschaft bedient(9); dies belegt jedoch auch eine Vergleichbarkeit von Lübbes Thesen mit jenen Bourdieus, wobei für Bourdieu eher das Deskriptive von Performanz in einem bestimmten Milieu, letztlich in einem Schicht- bzw. Klassenzusammenhang, im Vordergrund steht, während Lübbe eben in philosophisch-exoterischer Hinsicht eine Krisenhilfe im Auge hat.
Um welche Krise aber geht es? Als Herausforderung stellt sich Lübbe die »gegenwärtige historisch-gesellschaftliche Situation«, die auf der Makroebene geprägt ist von der »zunehmende[n] Beschleunigung im Tempo gesamtgesellschaftlicher Veränderungen«. Die Veränderungen werden von Lübbe als »Fortschritt von Exponentialkurvengestalt« (ebd., S. 1048) charakterisiert. Diese Herausforderung kann in Beziehung zur Kunst gesetzt werden: Den »Wandlungszwängen« der »dynamischen modernen Zivilisation«, damit der »Folgelast stattfindenden Fortschritts« soll Kunst »statt als engagierte Kunst, kompensatorisch um so mehr als kulturelles Medium der Entlastung und der Versetzung in Lebenszusammenhänge« begegnen, »in denen wir Wandlungszumutungen nicht unterliegen« (Lübbe 1994, S. 101f.;(10) hier betont Lübbe nun komplementär zur o.g. Makroebene die Meso- und Mikroebene). Flankiert wird diese Qualität von Kunst durch ihren Weg ins Museum: »Durch die progressive Musealisierung kompensieren wir die belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes« (Lübbe 1989, S. 29).
Diese These gründet auf der Annahme einer »Ästhetisierung unseres Verhältnisses zur Kunst« als einem von drei »modernitätsspezifischen« Vorgängen »kultureller Ausdifferenzierung und Spezialisierung« (1994, S. 99). Die »Autonomie« der Kunst ließe sich begründen durch »die Indifferenz ihrer ästhetischen Schätzung im Verhältnis zu unseren lebensmäßigen Verbundenheiten oder auch Unverbundenheiten mit [privaten und öffentlichen] Zwecken« (ebd.). Als eine mögliche Zweckbezogenheit wird von Lübbe zuvor von »Fälligkeiten symbolischer Repräsentation« gesprochen, »die nur mit Mitteln der Kunst sich erfüllen lassen und die gleichwohl nicht Repräsentationen sind, in bezug auf die die Kunst uneingeschränkt souverän wäre«, z.B. als »Funktion, Symbolmedium gruppenspezifischer Identifikationen und erzählender Wiedererkennung zu sein« (ebd.), womit implizit der Distinktionscharakter von Kunst im Sinne Bourdieus aufgerufen wird (zur symbolischen Form bei Bourdieu vgl. 1983b).
An letztgenannten Aspekt schließt sich logisch der zweite Ausdifferenzierungsvorgang an, die »Verwissenschaftlichung unseres Verhältnisses zur Kunst«, die sich »exemplarisch in der fortschreitenden Akademisierung und Professionalisierung der Kunstvermittlung« zeigt. In diesem Zusammenhang muss auch der Kunstrezipient über eingeübte spezifische Fähigkeiten (und die Bereitschaft, sich die Kunst explizit vermitteln zu lassen) verfügen, insbesondere wenn Avantgarde-Kunst (um die es Lübbe im gewählten Zusammenhang ja vorrangig geht) »im Regelfall gerade nicht durch reflexionslose Spontaneität und sinnliche Evidenzen gekennzeichnet« (1994, S. 103) ist, sondern durch den Zusammenhang »esoterischer und elitärer kultureller Anspruchsniveaus« (ebd., S. 104) wirkt. »Allein schon die schlichte Phänomenologie eines differenzierten Werkes moderner Kunst verlangt heute Beschreibungsleistungen, zu der einzig kunstgeschichtlich erfahrene esoterische Kennerschaft befähigt« (S. 103).
Hieraus folgt die Ungleichheit an Teilhabe, obwohl die Chancen dazu in der modernen Gesellschaft zugenommen haben: Es gilt, »daß mit der Gleichheit der Partizipationschancen die Ungleichheit der Partizipationsniveaus, statt abzunehmen, zunimmt. [...] Die Chancen, produktiv oder rezeptiv am künstlerischen Lebenszusammenhang teilzunehmen, sind größer als je zuvor.« Die Ungleichheit der Partizipationsniveaus leitet sich aber gerade aus der verbesserten Chancengleichheit ab, denn »entsprechend hoch ist der Grad erreichter Differenzierung in den produktiven und rezeptiven künstlerischen Betätigungen« (S. 104). Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu Bourdieu, der, wie oben dargestellt, ungleich verteilte Kompetenzen voraussetzt, um sich distinktiv »exklusiv« Kulturgüter anzueignen, bzw. um konkret »den Genuß eines Gemäldes« erst möglich zu machen.
Zudem lässt sich der Distinktionsaspekt als ins Intraindividuelle zur Funktion der Abwehr von Identitätsdiffusion im Sinne des Einhaltens und Verteidigens von Gruppennormen nach innen bei gleichzeitig aggressiver Abgrenzung nach außen begreifen. Hier liegt wiederum eine Parallele zu Bourdieu vor, nach dem Kunst bzw. ein bestimmter Aspekt von Kultur Teil eines Lebensstils im Sinne eines kohärenten Komplexes von Haltungen, Einstellungen und Umgangsformen wird, die eine symbolisch-soziale Form der Selbstdarstellung und der Erwartung ihrer bestätigenden Widerspiegelung durch andere ergeben. Es wird damit zu einem Mittel der Selbstexpression in einem mit anderen geteilten kulturellen Umfeld. Zugleich erfüllt sie eben distinguierend eine Abgrenzungsfunktion gegenüber allen anderen.
Hintergrund der gefährdeten Identität ist für Lübbe die geschwundene Orientierungsleistung des common sense - im metaphorisch verstandenen »schlichten Sinne« dessen, »was als Antwort auf die Frage erteilt wird, wer einer sei, wie beschäftigt, wohin unterwegs und was er zu welchen Zwecken mit sich führe. [...] Die Beantwortung dieser Frage wird mit anwachsender Inkonstanz der Verhältnisse schwieriger« (Lübbe 1974, S. 1048f.). Diesen Teilaspekt zusammenfassend gilt die Behauptung: »Identitätskrisen sind Folgen von Orientierungskrisen als Dauerzustand [...]« (ebd., S. 1049). An anderer Stelle wird deutlich, inwiefern für Lübbe die Krise und die »Schwächung der Urteilskompetenz des Common sense« (hier allerdings mit Wertlegung auf dessen politische Relevanz) durch »Erfahrungsverluste« (1989, S. 116) ausgelöst werden. Die verminderte »soziale Reichweite unserer Primärerfahrungen« (ebd., S. 108) steht im Zusammenhang mit »strukturellen Haupteigenschaften unserer zivilisatorischen Evolution, nämlich Komplexitätszuwachs, also funktionale Differenzierung einerseits und evolutionäre Beschleunigung andererseits«; sie sind die »Folge der Informationsakkumulation, durch die sich die zivilisatorische Evolution in letzter Instanz kennzeichnen läßt« (ebd., S. 107).
Im Zusammenhang dieser Minderung und folgender »kulturelle[r] und moralische[r] Orientierungskrisen« wird die Philosophie zur »Lebensweltanalyse« (ebd., S. 118), die vor dem Hintergrund einer Dichotomisierung in Zivilisation, Wissensproduktion, letztlich Wissenschaft (und damit Fortschritt) auf der einen Seite und in ›Erfahrung‹ auf der anderen Seite nötig wird (vgl. ebd., S. 105, 118): So »wirkt die Wissenschaftspraxis auf unsere Lebenswelten zurück, differenziert sie und macht die soziale Verteilung von Erfahrung und Wissen wie nie zuvor ungleich« (ebd., S. 118).
Im Sinne der dargestellten Verteilungsungleichheit betont Lübbe die »moralische Selbstbestimmungsfähigkeit« als gefährdet: »Die moralischen Kompetenzen der Individuen und damit die Niveaus ihrer sozialen, politischen und kulturellen Betätigungen und Partizipationen driften immer weiter auseinander. Und das wiederum bedeutet: Nicht die vor Jahrzehnten einmal so genannte Massengesellschaft wird uns künftig zu schaffen machen, vielmehr das Problem, wie wir auf die selbstbestimmungsabhängig zunehmende Ungleichheit erreichter Partizipations- und Betätigungsniveaus zu reagieren haben werden« (Lübbe 1998, S. [1]).
Die Ungleichheit dieser differenzierten Teilhabe lässt sich wiederum auf den Distinktionscharakter beziehen. Insofern Lübbe hier im Unterschied zu Bourdieu aber den existentiell krisenhaften und lösungsbedürftigen Charakter betont (die Frage moralischer Selbstbestimmung muss wohl, im Unterschied zu Lebensstildifferenzen im Zeichen geschmacklicher Vorlieben, als existentiell gelten), bestätigt sich Lübbes geschilderter philosophischer Zugang: Die Einsetzung des Philosophen als »Konfusionsspezialist« und Fachmann »für Orientierungskrisenmanagement«.
Für die »soziale Stellung der Philosophie« präzisiert der Autor die Herausforderung für seine Disziplin: »Ständiger Anpassung an veränderte Lagen bedarf auch das Ensemble der ideologischen und moralischen Stabilisatoren unserer kulturellen Identität«, was wiederum u.a. von der »professionellen Philosophie« (1974, S. 1047) geleistet wird. Krisenhaft sind zudem die »sozialpolitisch prekären Einkommensumverteilungen der privilegierenden Akademisierung einer rapide anwachsenden Bürgerminderheit«, sowie die zunehmende »Unfähigkeit, uns in eine durch Primärerfahrung unterstütze Beziehung zum Ganzen hochkomplexer Gesellschaften zu setzen« (S. 1048).
Geht es nun bei der Lebensstilstabilisierung in der Tat um die Frage einer Bestätigung von Identität (sowohl der Ich-Identität, der sozialen Identität und damit zusammenhängend der kulturellen Identität), so ist hier ein weiterer Hinweis auf die inhaltliche Beziehbarkeit von Lübbes Thesen auf jene Bourdieus gegeben.
In der Lebensstilstabilisierung liegt ein Beharrungscharakter, etwas Konservierendes bzw. Konservatives, das im Sinne der Bourdieu‹schen Kapitalsorten ein bürgerliches Distinktionsverhalten einschließt, das sich weit ins 19. Jahrhundert hineinverfolgen lässt (vgl. Kammertöns 2000). Zugleich lässt sich dieses Beharrungsstreben im Kontext o.g. Kompensation beschleunigter Veränderungsprozesse und als Folge zunehmend differenzierter - und nach Lübbe erfahrungsreduzierter - Lebenswelten verstehen. Lübbe selbst ist sich dieses Umstands bewusst, wenn er von der zwangsläufig »konservative[n] Präokkupation durch das Erfahrungsproblem« im Sinne einer »Kultur der Trauer im Verhältnis zu schätzenswerten Unwiederbringlichkeiten« (1989, S. 106f.) spricht.(11)
Lübbes Thesen seien hier nochmals kurz zusammengefasst:
3.2 Versuch einer Kritik
Lübbes Thesen zum Kompensationscharakter von Kunst sind in einem übergeordneten Zusammenhang zu würdigen, der durch das Verhältnis der Geisteswissenschaften zu anderen, scheinbar ›nützlicheren‹ Wissenschaften gekennzeichnet ist.(12)
Den Überlegungen Lübbes haftet diesbezüglich etwas Defensives an, insofern er glaubt, die Philosophie angesichts von Nützlichkeitserwägungen, die andere Disziplinen entlasten und als materiell förderwürdig erscheinen lassen, »rechtfertigen« zu müssen bzw. seine eigene Disziplin als nützlich glaubhaft machen zu sollen (vgl. Lübbe 1980, S. 36) - vor allem als quasi Zulieferdisziplin mit der Bestallung als »methodische Disziplin der Reflexion« auch in Diskursen anderer Wissenschaften und im Rahmen der »Konjunktur der sogenannten Bindestrich-Philosophien« (ebd., S. 25).(13)
Lübbe sieht u.a. durch die Soziologie seine Disziplin vordergründig ihres Gegenstands beraubt: »Die Welt ist an die emanzipierten ›Einzelwissenschaften‹ gegeben, und die akademisch-institutionelle Verselbständigung der Psychologie und Soziologie seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts wären jüngste und für die Philosophie besonders folgenreiche wissenschaftsgeschichtliche Beispiele dieses Prozesses« (ebd., S. 24). (M.E. schwingt in der Formulierung des ›Gegebenseins‹, implizit des ›Weggegebenseins‹, eine gewisse Melancholie über verlorene Größe der Philosophie mit, die das Defensive ins Emotionale verstärkt.)
Der zugewiesene Kompensationscharakter kann vor diesem Hintergrund als unzulässige Vereinnahmung der Geisteswissenschaften aufgefasst werden, wenn man Herbert Schnädelbach folgt: »Modernisierungsermöglichung durch Kompensation von Modernisierungsschäden - das kann nicht alles sein [...]« (1992, S. 411, Hervorhebung im Original). Der Autor legt Wert darauf, dass es keine Alternative »Kompensation oder Fortschritt« (ebd., S. 409) gibt. Dem Kompensationsgedanken haftet etwas Affirmatives an, wenn »wissenschaftlich-technische Modernisierung« als schicksalhaft und unabwendbar gewertet wird (vgl. ebd., S. 400). Zudem widerspräche die Indienstnahme der Geisteswissenschaften für die Kompensation der Modernisierungsschäden der Freiheit der Wissenschaft, insofern sie als durch die Kompensation letztlich »modernisierungsermöglichend« funktionalisiert würde (vgl. S. 403).
Wenn Schnädelbach in diesem Zusammenhang Jürgen Habermas bemüht, nach dem »der Kulturkonservatismus unserer Tage wesentlich gekennzeichnet« sei »durch die ›Verbindung der affirmativen Einstellung zur gesellschaftlichen Moderne mit einer gleichzeitigen Abwertung der kulturellen Moderne‹« (S. 400), ergibt sich die Diagnose, dass auch die Kunst als weiterer Ausschnitt jener ›Kultur‹, die von Technik, Wirtschaft etc. geschieden ist, nichts wesentlich Erneuerndes, gar Revolutionierendes beitragen können müsste. In diesem Sinne schließt Schnädelbach logisch, dass Kultur ja nur kompensierend wirken könne, wenn sie selbst keinen »Innovationsdruck« ausübt, damit also konservativ zu sein hat (vgl. S. 406).
Dies lässt sich mittelbar in Lübbes Perspektive bestätigen: Zwar unterliegt die Avantgarde-Kunst der »Selbstverpflichtung der Künstler, als Neuerer tätig zu sein, die Gegenwart endlich von der Vergangenheit zu befreien« (1994, S. 95), was im Sinne Schnädelbachs doch als »Innovationsdruck« einzustufen sein müsste. Doch mündet dieses sich selbst überbietende Neuerertum flugs - und vom Künstler geplant - im Museum (vgl. ebd.), womit es bereits als bloße Erinnerung an die gewesene Neuererrolle der Vergangenheit anheimgegeben ist. Wirklich Neues, gar Provozierendes kann als solches dann kaum wirken, da es - gewissermaßen im Wortsinne - domestiziert, eben ins Museum gesteckt wird. In Lübbes Sicht ist dies jedoch keine ›Abschiebung‹ oder gar »Entmündigung« der Kunst, sondern ihre unvermeidbare und letztlich wünschenswerte Bestandssicherung durch das Museum als »eine der wichtigsten institutionellen Garantien autonomer Kunst« (vgl. ebd., S. 96f.).
Es kann hier nicht darum gehen, zwischen der Position Lübbes und Marquards (an dem sich die Kritik vorrangig entzündet) und jener Schnädelbachs zu entscheiden. Dies umso weniger, als Schnädelbach den Kompensationsgedanken durchaus für plausibel, wenn auch wegen seiner »tendenziösen Vereinfachung« und der fehlenden begrifflichen Trennung zwischen ›KULTUR‹ und ›Kultur‹ (s.o.) für nicht ausreichend hält (vgl. S. 404ff., 407f.; Hervorhebung im Original).(14)
Ein kritischer Blickwinkel sei aber insofern eingenommen, als die Wirksamkeit von Kunst, allgemein von ›Kultur‹, m.E. bereits logisch nicht zur »Autonomie« führen kann, wenn sie vorrangig als Kompensation bezweckend eingestuft wird. Auch die oben zitierte Behauptung der Kunst als autonom durch »die Indifferenz ihrer ästhetischen Schätzung im Verhältnis zu unseren lebensmäßigen Verbundenheiten oder auch Unverbundenheiten mit Zwecken« erscheint so logisch problematisch.
Es bestätigt sich schließlich der oben erwähnte Eindruck des Defensiven bei Lübbe (dem Schnädelbach ›offensiv‹ mit der Bejahung einer - darin letztlich wohl autonomen - Wirksamkeit von ›Kultur‹ begegnet, die gar die gerade umgekehrte »Kompensation mit Mitteln technisch-wissenschaftlicher Modernisierung« erforderlich machen kann, vgl. S. 406f.). In einer Extremperspektive müsste sich bei Lübbe die Daseinsberechtigung von ›Kultur‹ von ihren Kompensationsleistungen ableiten, was letztlich eine schwache Fürsprecherposition sein dürfte.
Das Misstrauen gegen die innovativen Möglichkeiten der Kunst steht zweifellos einerseits in der Tradition vielfältiger und unterschiedlich gelagerter Ankündigungen und Diagnosen des ›Endes‹ der Kunst, vor allem seit Hegel (vgl. kommentierend auch Marquard S. 162f.). Auffällig erscheint mir aber die Parallelität einer impliziten Rechtfertigung von Kunst über den Umstand ihrer Kompensations-Nützlichkeit mit Lübbes oben dargestelltem Bemühen, die Philosophie als nützlich für andere (sie sonst in ihrem Bestand eventuell gefährdende) Disziplinen zu verteidigen.
Es sei in diesem Zusammenhang die vorsichtige (und kaum wirkungsvoll zu begründende) psychologische Spekulation erlaubt, dass die defensiv-apologetische Haltung zur Kunst bei Lübbe (und ggf. bei anderen ideenähnlichen Autoren) zumindest anteilig derselben Haltung gegenüber der bedrohten Philosophie entspringen könnte. So gesehen läge im von Schnädelbach als unterkomplex kritisierten Kompensationsgedanken nicht nur eine Form ›rechtshegelianischen‹ Konservatismus (vgl. Schnädelbach, S. 400) vor, sondern es ließe sich ein innerer Prozess annehmen, der ein substantielles Bedrohungsempfinden in der eigenen Daseinsberechtigung als Philosoph (im Zuge einer Projektion?) auf ein allgemeingesellschaftliches Bedrohungsempfinden angesichts eines unaufhaltsamen und implizit unsteuerbaren, daher situativ lediglich kompensierbaren Fortschritts übertrüge. Es ist in diesem Zusammenhang nur eine Fußnote, dass Marquard den Kompensationsbegriff, wenn auch nur in Form einer einmaligen Erwähnung, u.a. »dem Umkreis der Psychoanalyse« (S. 160) zuordnet.
4 Fazit und Ausblick
Es war zu zeigen, dass Lübbes Argumentation Bezüge zu Bourdieus Thesen aufweist und bereits deswegen implizit einen lebensstilstabilisierenden Charakter von Kunst nahelegt. Indes verweist sein philosophischer Fokus mit der Funktionalisierung zur Identitätskrisenbewältigung insbesondere auf die Stabilisierung der bedrohten Lebenswelt bzw. Lebenswelten. Kunst soll hier helfen, Zumutungen abzuwehren, und persönliche Stabilität angesichts umfassender lebensweltlicher Veränderungen im Zeichen von Fortschritt gewähren.
Beiden, dem Soziologen wie dem Philosophen, ist gemein, dass die Kunst die Qualität von Identitätsverteidigung angesichts äußerer Bedrohungen hat - sei es durch den sozial nicht gleichgestellten Mitmenschen, sei es durch den pauschal als überfordernd verstandenen Fortschritt. Wenn Bourdieu von oben beschriebenen, identitätssichernden Kapitalsorten spricht, so befindet er sich begrifflich in der Nähe zu Erikson, der die Identitätsstabilität von der Akkumulation eines »inneren Kapitals« (S. 107) abhängig macht, das leicht als Zusammenfassung der Bourdieu‹schen Kapitalsorten zu verstehen ist.
Auch wenn Lübbe keine Reflexion über fortgeschrittene Konzeptionen von Identität anstellt, ist doch offensichtlich, dass er über die klassisch zu nennende, auf Basis »regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe« (Keupp 2009, S. 55) entstandene Identitätskonzeption von Erikson hinausgeht, zu seiner Zeit hinausgehen muss: Die »gesellschaftliche Kontinuität und Berechenbarkeit, in die sich die subjektive Selbstfindung verlässlich einbinden kann« (ebd.), vermisst Lübbe zur Zeit seiner Veröffentlichungen, wenn er das beschleunigte und unaufhaltbare Entwicklungstempo als desorientierend ausmacht.
Man kann dieser »Wandlungszumutung« (s.o.) begegnen, indem man sein Leben als immer wieder wandelbar oder sogar der Wandlung verpflichtet begreift. Es ginge dann um die »Abfolge von Projekten, wahrscheinlich sogar um die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Projekte über die ganze Lebensspanne hinweg« (Keupp 2009, S. 56). Es entstünde so ein Leben permanenter »Identitätsarbeit«, metaphorisch gesprochen gar eine »Patchworkidentität« (ebd., S. 58).
Lübbe scheint aber diese - sehr heutige und seitens des Individuums eigenproduktive - Begegnung mit den Wandlungsherausforderungen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichungen nicht zu Gebote gestanden zu haben (was historisch verständlich ist).(15) Seine Antwort ist also das Beharrungsstreben in der eigentlich bereits verlorenen stabilen Lebenswelt durch das Mittel der Kompensation und auf der Basis eines common sense (der mit dem Anspruch eines verlässlichen Klassifikationsschemas jedoch nicht mehr ausreichend stabiler Bezugspunkt sein kann).
Man könnte hier ein Fluchtverhalten diagnostizieren, käme damit aber in einen unangemessen normativen Fokus (gleichzeitig stünden ›kleine Fluchten‹ einer sonst ausgeprägten Flexibilität gegenüber Wandlungserfordernissen durchaus nicht im Wege - an anderer Stelle ließe sich kunstbezogen eine Erweiterung von der ›Kompensation‹ zum moderneren Konzept der ›Resilienz‹ einfügen).(16)
Für die Erhärtung meiner Thesen geht es zudem nicht um die Frage, wie wünschenswert die lebensstil- und lebensweltstabilisierende Wirksamkeit von Kunst ist, sondern lediglich um die Beweisführung, dass sie in dieser Weise als wirksam beschrieben werden kann.
Zusammenfassend bleibt festzustellen:
Bourdieu betont vorrangig den distinktiven Charakter von Kunstausübung und Kunstrezeption im Sinne einer habitusgeprägten Klassen- bzw. moderner: Milieuabgrenzung, die Lübbe implizit über seine Diagnose elitärer Kennerschaft bzw. der zwangsläufig elitär ausgelegten Avantgarde und im Sinne der Funktion von Kunst als »Symbolmedium von Gruppenidentifikation« (s.o.) teilt.
Lübbe verficht über den weitergeführten Kompensationsgedanken der Ritter-Schule die Stabilisierung einer einheitlichen Lebenswelt (bzw. von nicht disparaten Lebenswelten), die auf dem Wege der Kunstrezeption Kollateralschäden der technischen, letztlich gesamtgesellschaftlichen Modernisierung verkraften und so stabil bleiben können soll.
Ähnlich sind sich Bourdieu und Lübbe also argumentativ hinsichtlich der Betonung einer lebensstil-, damit klassen- respektive milieustabilisierenden Funktion von Kunst (bei Bourdieu explizit, bei Lübbe implizit).
Unterschiede zeichnen sich jedoch hinsichtlich der Perspektiven ab: Während Bourdieu auf der Mesoebene sozialer Milieus bzw. der Schicht und auf der beitragenden Mikroebene individueller Verhaltensweisen einen deskriptiven Fokus wählt, bezieht Lübbe sich vor dem Hintergrund einer bedrohlichen Makroebene gesellschaftlicher Bedingungen (unabwendbare Fortschrittszumutungen) vorrangig auf die lebensweltliche Mikroebene des Individuums in seiner erschütterten Befindlichkeit. Die Rolle von Kunst bzw. von ›Kultur‹ wird hier nicht deskriptiv, sondern normativ eingeführt: Lübbe weist ihr die lebensweltschützende Funktion der Kompensation zu.
Die Eingangsthesen wären demnach wie folgt zu präzisieren:
Abschließend sei ein Ausblick auf mögliche weiterführende Untersuchungsaspekte der Bedeutung von Kunst als lebensweltlich stützende Kompensation gegeben:
Es böte sich eine Untersuchung an, inwieweit Lübbes Thesen auch auf die kompensatorische Wirkung von Musik beziehbar sind bzw. in verwandtem - oder aber widersprüchlichen - Sinne bereits gedacht wurden. Ausgangspunkt könnte, in allerdings pejorativer Perspektive, die klassisch zu nennende Hörertypologisierung Theodor W. Adornos von 1961/62 sein, der zufolge man dem »emotionalen Hörer« auch die »tired businessmen zurechnen« kann, »die in einem Bereich, der für ihr Leben konsequenzlos bleibt, Kompensation für das suchen, was sie sonst sich versagen müssen« ( S. 186f.; Hervorhebung CK).
Als weiteres und aktuelles Untersuchungsinteresse läge schließlich die Überführung des Kompensationsgedankens in den oben erwähnten Gedanken einer Resilienzqualität von Kunst im umfassenden Sinne (einschließlich Musik und Darstellende Kunst) nahe. Kunst erscheint dann als produktive Ressource, die persönliche, auch krisenhafte Entwicklungen unterstützen kann, anstatt nur eine Nische zu eröffnen, Wandlungszumutungen ›auszuhalten‹.
Anmerkungen
Literatur
Der Autor
Christoph Kammertöns, Dr. phil., ist Musikwissenschaftler, Erziehungswissenschaftler und Musikpädagoge. Er arbeitet als Lehrer für Musik und Erziehungswissenschaft sowie als Autor, Dramaturg und Korrepetitor. Zuletzt erschien: Das Klavier (Wissen in der Beck'schen Reihe), München: C.H. Beck 2013 (http://kammertoens.info).
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777