Thomas Sukopp: Die Geburt des Kosmos aus dem Geiste Richard Wagners: Zur Inszenierung von Weltentstehung und Weltuntergang.
Über Wagner, den Unerhörten, ist viel Erstaunliches und sehr viel Falsches, Unsinniges und Absurdes gesagt wurden. Manche meinen, er sei gar kein Komponist gewesen, sondern schlichtweg ein europäisches Ereignis, wenn wir Nietzsches Aphorismus 256 aus Jenseits von Gut und Böse für bare Münze nehmen(1). Auch Wagner habe, so Nietzsche, die Einheit Europas antizipiert. Die überragende musikgeschichtliche Bedeutung Wagners war so gut wie allen Zeitgenossen klar. In Verdis trockenen Worten unmittelbar nach Wagners Tod heißt es beispielsweise: »Diskutieren wir nicht. - Es ist eine große Persönlichkeit, die vergeht!« (Brief an Giulio Ricordi am 15.2.1883; siehe N. Wagner 1995, S. 20)
Stellvertretend für viele Äußerungen, die den Blick eher verstellen als sie erhellen, hören wir folgendes Zitat (Helmut Berger als Ludwig II in Viscontis gleichnamigem Film):
»Wenn Richard Wagner kein Künstler wäre, er wäre ein Heiliger - sein Genie hat eine Moral, die befreit und reinigt, seine Kunst erleuchtet - eine rettende Kraft gegen die Übel unserer korrupten Gesellschaft! Richard Wagners Name wird die Jahrhunderte überdauern - WEIL KUNST WAHRHEIT IST!« (Hervorhebung im Original; TS)
Fast alles hier ist falsch oder es ist doch mindestens in ein Licht der Verklärung getaucht. Ich überlasse es dem Urteilsvermögen der Leserinnen und Leser, den Ausspruch dieses Parteigängers ins rechte Licht zu rücken. Ich selbst misstraue diesen heroisierenden Äußerungen ebenso wie der theoretisch-allzu theoretischen Musikästhetik. Es ist unverzichtbar, die Musik Wagners im Ohr zu haben, um den kosmologischen Konzepten näher zu kommen, die seinen Kompositionen zu Grunde liegen. Nach einer kurzen Skizze allgemeiner Charakteristika der Opern Wagners (Abschnitt 1) stelle ich Richard Wagner als eminent politischen Komponisten vor (Abschnitt 2), bevor ich auf die im weiteren Sinn kosmologischen Quellen in den einzelnen musikdramatischen Werken Wagners zu sprechen komme (Abschnitt 3). Im Schlusskapitel versuche ich die Frage nach den kosmologischen Vorstellungen Wagners zu beantworten, die sich aus der Interpretation des Wagner'schen »Rings« ergeben.
Erwarten Sie von mir keine durchgehende Objektivität im Sinne von Wissenschaftlichkeit, denn ich bin kein Musikwissenschaftler. Wer amusikalisch ist, der kann sicher noch von meinen theoretischen Ausführungen profitieren, er wird aber nicht hörend das sehen bzw. verstehen, worauf es ankommt. Streng genommen müssten wir alle die Musik »in den Ohren haben«, besser noch »im Kopf«. In der Musik zeigt sich Vieles, um es mit Wittgenstein zu sagen, worüber man nicht reden kann. Trotzdem heißt das noch lange nicht, dass man Wagner in irgendeiner Weise mystifizieren sollte.
Noch ein letztes Vorwort: Wagner ist ein unbekannter Komponist. Ich sollte das schon erklären. Ich meine damit, dass die Heerscharen von Jüngern, Apologeten, Ideologen, Politisierern, Demagogen, am grünen Hügel und in der weiten Ebene geistlosen pseudogermanischen Dräuens uns den Zugang zu Wagner oft verstellt haben. Wir kennen alle diese Wagner-Bilder, die wahrlich keine Abbilder Wagners sind: Wagner zwischen Kitsch, großdeutscher Kleingeisterei, brüllenden Brünhilden, allgemeiner: dicken Sopranen mit wallendem Haar, Wagnerverbandslobhudeleien, zwischen Reaktion und Zukunftsmusik, zwischen Bärenfell-Germanentum mit Wagner-Aufführungspraxis-Keule, Prominenten-Auftrieb am Grünen Hügel, Loriots Bayreuther Pausengepräch, Leiden am Leitmotiv etc.
Zum Glück hat Wagner viel geschrieben. Er hat oft zu viel geschrieben. Suchen wir in diesen Quellen und in den Quellen hellsichtiger Wagnerinterpreten, zumeist aus der nichtsingenden Zunft. Genug der Vorbemerkungen.
1 Einige Charakteristika der Opern Wagners
Die folgende Aufzählung dient in erster Linie dazu, einige der Grundtendenzen, die wir in vielen, wenn nicht allen Opern Wagners finden, ins Gedächtnis zu rufen.
»Wir wissen, dass nicht die Verse des Textdichters, und wären es die Goethes und Schillers, die Musik bestimmen können; dies vermag allein das Drama, und zwar nicht das dramatische Gedicht, sondern das wirklich vor unseren Augen sich bewegende Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik, wo dann das Wort und die Rede einzig der Handlung, nicht aber dem dichterischen Gedanken [der Absicht des Dramatikers; Anm. TS] mehr angehören.«
Man beachte, dass auch Verdi von der »parola scenica« sprach, vom Aktionscharakter der Sprache, von der Glaubwürdigkeit der handelnden Personen auf der Bühne etc.
»Genau betrachtet müssen wir [...] erkennen, dass der eigentliche Kunstanteil bei Theateraufführungen den Darstellern zugesprochen werden muss, während der Verfasser des Stückes zu der eigentlichen 'Kunst' nur soweit mit in Beziehung steht, als er die von ihm im voraus berechnete Wirkung der mimischen Darstellung für die Gestalt seines Gedichtes vor allen Dingen verwertet hat.«(5)
So viel ist klar: Das Drama wird erst und immer wieder durch die jeweilige Aufführung neu geschaffen.
2 Richard Wagner: Oper als politisches Welttheater
Der Zeitgenosse Theodor Fontane ist sicher kein Bewunderer Wagners. Deswegen ist das, was er über Wagners »Ring« 1881 in einem Brief an Karl Zöllner(6) sagt, hinreichend unverdächtig:
»Erster Fundamentalsatz: An der Gier, an dem rücksichtslosen Verlangen hängt die Sünde, das Leid, der Tod. Wer den Goldring der Nibelungen hat, der hat ihn immer nur zum Unheil und Verderben. Zweiter Fundamentalsatz: Die Götter sind gebunden und reagieren nur durch Vertrag. Auch dem Himmel kann gekündigt werden. Wächst der Mensch, so sinken die Götter; der eigentliche Weltenherrscher ist der freie Geist und die Liebe.«
Obwohl oder gerade weil Fontane so wenig von Wagners operntheoretischem Überbau verstand, hat er hier sicher prägnant zwei Aspekte des Rings genannt:
Es gibt gute Gründe, Wagner zu kritisieren ob seines Nationalismus, seiner Identifikationsnöte mit seinen Figuren, seiner Gier nach Geld, Luxus, Anerkennung, seines geistigen Dilettantismus(7) und Eklektizismus, seiner Selbstüberschätzung und seines Antisemitismus. Dieser wirkte übrigens auch auf seine jüdischen Zeitgenossen wenig abstoßend. Aber das nur am Rande.(8)
Lassen wir das alles aus unserer Interpretation heraus. Es gibt - auch ohne in die üblichen Denkbahnen einzulenken - genug Schwierigkeiten. Einer dieser Denkpfade ist: Wagners Ring des Nibelungen ist ein Werk für oder gegen die Bismarck'sche Reichsgründung. Hier reicht schon der einfache Verweis auf den Unterschied von post hoc und propter hoc. Martin Gregor-Dellin(9) gibt eine übliche Missinterpretation des »Rings« prägnant wieder:
»Dennoch konnte der Ring des Nibelungen als Symbol der Reichsgründung, diese als erster Schritt zum Dritten Reich und Siegfried als dessen vorweggenommener Repräsentant noch in jüngster Zeit mißverstanden werden. Es gibt Eselsbrücken, deren sich eine solche Interpretation bedienen kann. Sie hat etwas süffig Eingängiges, assoziiert Makart-Dekorationen, Plüsch und Pomp, und nicht ungeschickt bezieht sie sich auf Richard Wagner selbst, seine scheinbare Vereinfachung der Prinzipien des Guten und Bösen und deren Personifizierung in Lichtalben und Schwarzalben, seinen Antisemitismus und die Fanfaren seiner Gelegenheitsgedichte, die zum deutsch-französischen Krieg schmetterten.«
Ebenso wenig ist es hilfreich, Wagner mit Wotan gleichzusetzen. Autobiographisch-psychologische Untersuchungen unterlasse ich hier; sie könnten Details der kompositionshistorischen Zusammenhänge erhellen; nur verraten sie oft mehr über die Zeit, in der sie entstanden sind und über den jeweiligen Autor als über den »Ring« selbst. Wir können zwar den »Ring« nicht als ahistorisches Drama hinstellen, gleichwohl bleibt etwas Politisch-Anthropologisches, das in bestimmter Weise zeitlos ist. Davon möchte ich jetzt sprechen.
Bevor ich auf den Ring in Bezug auf den Beginn und das Ende der Welt zu sprechen komme, möchte ich noch eine weitere Quelle nennen, in der vom Ende der Welt die Rede ist.
3 Die Quellen
3.1 Der Fliegende Holländer: »Ew'ge Vernichtung, nimm' mich auf«
Dass permanent die Wagner'schen Figuren erlöst werden wollen, hat Nietzsche Wagner mehrfach vorgeworfen(11). Todessehnsucht, die Sehnsucht nach dem Ende der Welt, ist in der Tat ein entscheidender Zug der Seelenlandschaft der Titelfigur. Betrachten wir dazu den Eingangsmonolog des Holländers, insbesondere den Schluss des Monologs:
»Nur eine Hoffnung soll mir bleiben,
nur eine unerschüttert steh'n:
so lang' der Erde Keim' auch treiben,
so muß sie doch zugrunde gehn!
Tag des Gerichtes! Jüngster Tag!
Wann brichst du an in meine Nacht?
Wann dröhnt er, der Vernichtungschlag,
mit dem die Welt zusammenkracht?
Wann alle Toten auferstehn.
Dann werde ich in Nichts vergehn.
Ihr Welten, endet euren Lauf!
Ew'ge Vernichtung, nimm mich auf!«(12)
Der Monolog kann seine musikdramatische Wirkung nur entfalten, wenn er zunächst unmittelbar wirkt. Wagner(13) hat dazu genaue Anweisungen gegeben. Hier ein Auszug:
»Endlich aber bei den Worten: »Vergeb'ne Hoffnung« u. s. w. macht sich die ganze Kraft seiner Verzweiflung Luft: wüthend richtet er sich auf, und mit der energischesten Aktion des Schmerzes stößt er, das Auge immer noch auf den Himmel gerichtet, alles »vergeb'ne Hoffen« von sich: er will nichts mehr von der verheißenen Erlösung wissen, und sinkt nun (mit dem Eintritte des Paukenwirbels und der Bässe) wie vernichtet zusammen. Bei dem Eintritte des Allegro-Ritornells beleben sich seine Züge wie zu einer neuen, grauenvoll letzten Hoffnung, der Hoffnung auf den Weltuntergang, an welchem doch auch er vergehen müsse. Dieses Schluß-Allegro bedarf jetzt der schrecklichsten Energie im Gesangsvortrage, wie in der mimischen Aktion; denn hier ist Alles unmittelbarer Affekt. Der Sänger mache es aber doch möglich, dieß ganze Tempo, trotz aller Gewalt des Vortrages, nur wie ein Zusammenfassen aller Kraft erscheinen zu lassen, die ihren stärksten, zermalmendsten Ausbruch erst auf den Worten: »Ihr Welten! endet euren Lauf!« u. s. w. erhält. Hier muß die Erhabenheit des Ausdruckes auf ihrem höchsten Gipfel sein. Nach den Schlußworten: »ewige Vernichtung, nimm mich auf!« bleibt er in großer Stellung, fast wie eine Bildsäule, während des ganzen Fortissimo's des Nachspieles, stehen: erst mit dem Eintritte des Piano's, während des dumpfen Gesanges aus dem Schiffsraume, läßt er allmählich in der Kraft der Stellung nach; die Arme sinken ihm; bei den vier Takten »espressivo« der ersten Violine senkt er matt das Haupt, und wankt unter den letzten acht Takten des Nachspieles nach der Felsenwand zur Seite hin: hier lehnt er sich mit dem Rücken an, und verbleibt nun, die Arme auf die Brust verschränkt, lange in dieser Stellung. - Ich habe diese Scene so ausführlich besprochen, um an ihr zu zeigen, in welchem Sinne ich den »Holländer« dargestellt verlange [...]«
Eine Kosmologie oder kosmologische Vorstellungen liegen dieser recht frühen Oper(14) von Richard Wagner nicht zu Grunde, aber wir finden hier den Beginn einer oft wiederkehrenden Struktur von Erlösungssehnsucht, Herbeisehnen des Endes schlechthin, Sehnsucht nach Vernichtung dieser äußeren, irdischen Welt. Wenn Sie den Monolog des Holländers, ein epischer Monolog, um mit Carl Dahlhaus (Dahlhaus 1996, S. 29) zu sprechen, gehört haben, dann finden Sie allerdings auffällige Parallelen zu antiken griechischen Mythen: Erstens wacht über den Holländer ein mehr oder weniger grausames, jedenfalls unbeeinflussbares Schicksal; zweitens handelt der Holländer gemäß einer Bestimmung, deren er sich plötzlich bewusst wird, nicht als selbstbestimmtes, autonomes Subjekt und drittens spricht er von sich selbst wie ein wissender Chor in einer griechischen Tragödie, nämlich in der Art eines Kommentators. Wenn der Holländer singt, er werde in Nichts vergehen, so können wir hier davon ausgehen, dass der ewige Fortgang von Werden und Vergehen durchbrochen wird, von einer »ewigen Vernichtung« ist die Rede, vielleicht, das ist eine Spekulation, vom Eingang in ein Nichts buddhistischer Färbung.
Was hier zudem auffällt, ist das Ineinandergreifen von Leben und Tod, ein Motiv, das auch in Tristan und Isolde enorm wichtig ist: Ich kann mich der Meinung von Hans Melderis (Melderis 2001, S. 143) nicht anschließen(15), dass hier die Darwin'sche Vererbungslehre, die Weitergabe von Genen und damit das Leben durch Tod und der Tod durch Leben gemeint ist. Doch dass Leben und Tod sowie Entstehen und Vergehen sich wechselseitig bedingen, ist eine uralte naturphilosophisch-kosmologische Idee, die wir im abendländischen Kulturkreis bereits beim Vorsokratiker Anaximander finden und die Wagner aufgreift (Rapp 1997, S. 45):
»Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit. (Übersetzung von Christof Rapp)]«
Ein weiteres Beispiel für die Verkettung von Zeugung, Geburt und Tod bietet uns Tristan im 3. Aufzug von Tristan und Isolde: »Da er mich zeugt und starb, sie sterbend mich gebahr«.(16)
Halten wir in Bezug auf den Holländer noch fest: Zur Inszenierung des Untergangs-Dramas hatte Wagner anscheinend klare Vorstellungen, wie wir gehört haben. Nun aber zurück zum Ring.
3.2 Wagners kosmologische Vorstellungen im »Ring«
3.2.1 Die Geburt der Welt aus dem Geiste des Es-Dur-Akkords
Jetzt müssten Sie, liebe Leserinnen und Leser, eigentlich die Musik hören, oder sich an das Vorspiel zum Rheingold erinnern. Es ist einer der am glaubhaftesten, am eindringlichsten oder wenigstens einer der am anschaulichsten komponierten Anfänge der Welt, eine kleine Kosmogonie. Vielleicht sind Sie auch schon über den Strukturreichtum in der Erzählung mancher mythologischer Kosmogonien gestolpert. Diese haben einen anderen Erklärungsanspruch, sie wollen nicht die Entstehung des Kosmos »aus dem Nichts« darstellen. Denken Sie vor dem Beginn des Vorspiels zum Rheingold an einen Anfang, besser an den Anfang schlechthin. Der erste Ton klingt dann ins Nichts hinein und das kann man dann als die Geburt des Kosmos aus dem Geiste der Musik par excellence verstehen. Es ist die Musik des Anfangs. Etwas profaner können Sie sich vorstellen, wie sie sich der ligurischen Küste bei Genua im Überflug langsam annähern und wie das Meeresrauschen, die Brandung langsam klangvoller wird(17).
Wir hören einen Es-Dur-Dreiklang, der sich mit einigen Brechungen im ständig wiederholten Natur-Motiv über 136 Takte erstreckt. Mit einigem interpretatorischen Aufwand kann man diese Musik, diesen Es-Dur-Dreiklang eine Musik der Singularität nennen, so wie es Hans Melderis tut. Dem Charme seiner vielen Parallelisierungen und Analogien kann man sich vielleicht nur schwer entziehen, doch dass Wagner hier wirklich irgendeine Form moderner Kosmologie oder Kosmogonie vorwegnimmt, ist mindestens eine kühne These. Doch hören wir Melderis selbst:
»Nur der Anfangs-Urakkord im Rheingold-Vorspiel ist von den ständigen Wiederholungen ausgenommen. Das musikalische Klangbild des Weltanfangs verweist auf nichts, und nichts verweist auf diese Klangchiffre. Der liegende Kontra-Es-Orgelton der ersten Takte taucht auch dann nicht wieder auf, wenn im Vorspiel zum dritten Aufzug der Götterdämmerung der Rhein noch einmal in Erscheinung tritt [...] Damit ist der Rheingold-Uranfang auch musikalisch eine ›Singularität‹: Das Universum und die Zeit haben beim ›Urknall‹ zu existieren begonnen, ein Vorgang der in der Physik zeitlich und kausal voraussetzungslos sein kann.« (Melderis 2001, S. 101)
Hier wird Singularität in Anführungszeichen gesetzt und damit gerade nicht so gebraucht wie wir da in der Physik tun. Etwas weniger spekulativ können wir sagen: Dieses Natur-Motiv ist selbstverständlich das 1. Motiv des Rings. Doch was zuerst als ruhige, in leichten Wellenbewegungen erklingende Natur, komponiert ist, wirkt gegen Ende des Rheingoldes anders: Zuerst ist es eine allegorische Darstellung des Weltenbeginns, elementare Musik sozusagen, zwar in sich bewegt, doch stationär. Die gleiche Musik wirkt am Ende des Rheingoldes bedrohlich, macht misstrauisch; die Zuhörer wissen längst, dass es mit der scheinbaren Idylle des Anfangszustandes vorbei ist, doch nur ein Protagonist des Rheingoldes, nämlich Loge, durchschaut den Trug und die Täuschung der Götter.
3.2.2 »Ihrem Ende eilen sie zu«: Weltuntergang, und dann?
Loge sinniert im 4. Bild des Rheingoldes: »Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen. Fast schäm' ich mich mit ihnen zu schaffen.«(18)
Für unsere Interpretation des Weltuntergangs ist der Hinweis Loges von Nutzen, dass die Götter ihrem Ende zueilen, nicht etwa die Welt insgesamt. Brünnhildes Abgesang in der Götterdämmerung wird unser letztes Beispiel sein, bevor ich eine Interpretation des Endes skizziere, von dem hier die Rede ist. Brünnhilde(19) singt am Ende des 3. Aktes der Götterdämmerung(20).
»Fliegt heim, ihr Raben!
Raunt es eurem Herrn,
was hier am Rhein ihr gehört!
An Brünnhild's Felsen
fahret vorbei:
der dort noch lodert,
weiset Loge nach Walhall!
Denn der Götter Ende
dämmert nun auf:
so - werf' ich den Brand
in Walhall's prangende Burg.«
Über den Schluss ist viel geschrieben und spekuliert worden. Es gibt die Rede von einem Schopenhauer'schen Ende, von einer utopischen und eher optimistischeren Fassung, und das alles hat sicher einiges für sich. Zunächst war Wagner stark von Schopenhauer beeinflusst. Eine Vorherrschaft Schopenhauers in der weltanschaulich-philosophischen Landschaft Wagners bis in die Endphase der Komposition des Rings lässt sich nicht nachweisen. Ich möchte stichpunktartig einige Interpretationslinien zusammenfassen und die in meiner Sicht plausibelste Fassung herausstellen.
»Aus Wunschheim zieh ich fort, Wahnheim flieh' ich auf immer; des ew'gen Werdens offene Tore schließ' ich hinter mir zu: nach dem wunsch- und wahnlos heiligsten Wahlland, der Weltwanderung Ziel, von Wiedergeburt erlöst, zieht nun die Wissende hin. Alles Ew'gen sel'ges Ende, wißt ihr, wie ich's gewann? Trauernder Liebe tiefstes Leiden schloß die Augen mir auf: enden sah ich die Welt.«
Dieser selbstverneinende, entsagende Schluss ist ebenso wie der utopische Schluss in 2 nicht komponiert.
4 Welche kosmologischen Vorstellungen hatte Wagner?
In Cosima Wagners Tagebüchern(27) (14. Oktober 1879) finden wir einen einzigen Hinweis auf eine Beschäftigung mit Kosmologie. Nach Studium eines entsprechenden Werkes sagte Wagner,
»die Nebelflecke und die [...] in der Sonne hätten ihm viel über das Universum zu denken gegeben, 'das Ganze ist ein Feuerwerk', ruft er aus, 'und alles so barbarisch, gewaltsam, und dabei so sicher mathematischen Gesetzen unterworfen, und wie kommt unsre Erde uns dabei vor, wie ein reiner Quark!'«(28)
Wagner diskutierte zwar mit Heinrich von Stein neueste Ergebnisse der Naturwissenschaften seiner Zeit (Charles Darwin, Robert Mayer, aber auch das Raum-Zeit-Problem), aber er war nicht besonders an naturwissenschaftlicher Forschung interessiert (Melderis 2001, S. 72). So bleiben uns Parallelisierungen und Analogien zwischen Wagner und kosmologischen Vorstellungen. Einige davon habe ich bereits skizziert. Richtig und wichtig ist sicher das, was Ernest Newman in A Study of Wagner 1974 schreibt: Der Ring ist »kein reines Drama im gewöhnlichen Sinn, sondern wirft Licht auf die Menschheit und das Universum.« (Newman 1974, S. 205 und 207; zitiert nach Melderis 2001, S. 69f.) Was das heißt, wird in einigen Interpretationen von Theoretikern und auch in Inszenierungen des Rings deutlich. Davon soll abschließend die Rede sein.
Eine Frage ist, ob Wagner ein zyklisch wiederkehrendes Universum in seiner Komposition vorschwebte oder ein weniges Ende und ob es auch genau ein komponiertes Ende des Universums gibt. Die letzte Frage hatten wir ausdrücklich verneint.
Ich möchte mit der Deutung der Weltentstehung beginnen: Zu Beginn des Rheingoldes gibt es keinen Hinweis auf einen ersten Beweger oder eine göttliche Schöpfung der Welt. Doch in der textlichen Grundlage Wagners, seine stark durch Fabulation beeinflusste Wibelungen (1849) finden wir die Vorstellung von Wotan als ersten Beweger(29):
»Der Inbegriff dieser ewigen Bewegung, also des Lebens, fand endlich selbst im »Wuotan« (Zeus), als dem obersten Gotte, dem Vater und Durchdringer des All's, seinen Ausdruck, und mußte er seinem Wesen nach als höchster Gott gelten, als solcher auch die Stellung eines Vaters zu den übrigen Gottheiten einnehmen, so war er doch keinesweges wirklich ein geschichtlich älterer Gott, sondern einem neueren, erhöhteren Bewußtsein der Menschen von sich selbst entsprang erst sein Dasein.«
Wagner ist hier stark von Ludwig Feuerbachs Position beeinflusst, nach der Gott ein Produkt des menschlichen Bewusstseins ist. Die Feuerbach'sche Liebesethik und aufklärerisch-religionskritische Haltung Feuerbachs passt gut in Wagners Sicht: Nicht eine göttlich verkündete Liebe, sondern Liebe unter Menschen durch Menschen allein, kann die alte bürgerliche Herrschaft zugunsten einer neuen gerechten Ordnung begründen.
Die Schlüsse der Götterdämmerung, die ich teilweise skizziert hatte, fasse ich am Ende noch einmal tabellarisch zusammen (Melderis 2001, S. 120f.):
Inszenierung | Ende Götterdämmerung | Interpretationsrichtung |
Bayreuth 1980 (Chéreau) | Weltbrand | Ewiges Ende: Schopenhauer |
Bayreuth 1992 (Kupfer) | Weltgeschehen geht nach dem Ende auf der Ewigkeitsstraße weiter | Feuerbach/Buddha |
Bayreuth 2000 (Flimm) | Untergang der bestehenden Welt und Verweis auf Utopie | Parsifal als 5. Teil des Rings (Bermbach) |
Braunschweig 2002 (Schwarz) | Menschen bevölkern die Bühne. | Feuerbach |
Anmerkungen
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Der Autor
Thomas Sukopp, geb. 1968, studierte Chemie, Mittelalterliche und Neuere Geschichte und Philosophie in Braunschweig. Promotion in Philosophie 2006. Von 2007 bis 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Philosophischen Seminar der Universität Bamberg; Lehrbeauftragter für Politische Philosophie an der TU Braunschweig. Von 2009 bis 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Augsburg und am Seminar für Philosophie der Technischen Universität Braunschweig. Seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar/Fachdidaktik Philosophie der Universität Siegen.
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777