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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Kunst? Wissenschaft? Teil VI: Claudia Tolusso.

Bellinzona, 12.05.2009.

Marco Conedera von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in Bellinzona meinte anlässlich der Zürcher Tagung Trespassing allowed vom 19.12.09, dass Kommunikation auf verschiedene Weisen stattfinde. Er verspricht sich vom Aufenthalt der Bühnenbildnerin Claudia Tolusso in seinem Institut eine verbesserte Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse. Damit entspricht er Ping Qius Beobachtung, dass Wissenschaft aufgrund ihrer Zweck-Nutzen-Berücksichtigung bisher eher weniger Interesse an bildkünstlerischen Vorgehensweisen zeigte. Auf diese Weise könnte Kunst natürlich als Instrument zur Kommunikation mißverstanden werden, schlechtestenfalls als Illustration von Wissenschaft.

Claudia Tolusso sprach jedoch eine andere Sprache. Ihr künstlerisches Vorgehen beinhalte systemische Fragestellungen, wie die nach dem Publikum, dem kulturellen Hintergund eines Stückes und von Theater, der Frage nach der Charakterisierung eines Stückes als Raum- oder Landschaftstheater oder als Installation. Darin bezieht sie sich auf Stadt und Landschaft als Lokal für dramatische Kunst. Sie glaubt, das Schauspiel könne Wissenschaft beeinflussen. Wie geht z.B. ein Forscher mit Richtungswechseln in Forschungen um? Wie werden diese dem Publikum vermittelt und wie wird die Resonanz seitens des Publikums aufgenommen? Wie stark identifiziert sich ein Forscher mit seinem Auftrag, was immerhin eine dramaturgische Frage der Charakterisierung einer Figur und ihrer Rolle auf der Bühne darstellt? Und genau das ist der Ansatzpunkt zum Verständnis der Anliegen Claudia Tolussos: sie zielt - wie die anderen Kunstschaffenden auch - auf den Vollzug von Forschung, nicht auf deren Produkte und Ergebnisse. Sie wendet darin den Bildbegriff der Kunst an, fokussiert die Praxis der Wissenschaft, nicht aber deren Ergebnisorientierung, versinnbildlicht durch diskursive wissenschaftliche Erkenntnis. Damit aber läuft sie den Zielsetzungen Marco Conederas quer, der Kunst an die Verbesserung wissenschaftlicher Kommunikation binden möchte, indem sie

»andere Tools [bekommt; d.V.], eben z.B. indem wir auch einen artistischen Ansatz benützen«

- der Begriff artistisch hat im Deutschen - im Gegensatz zu romanischen Sprachen - immer auch eine Konnotation des Gekünstelten, des Verfertigten.

Was kann die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL von der Künstlerin erwarten? Ein Einbringen eines künstlerischen Begriffes von Erkenntnis, der auf die gute Praxis zielt, ein sinnhaftes und sich stetig verbesserndes künstlerisches Handeln. Sie möchte zunächst die Bevölkerung in und um Bellinzona zuerst begleiten, interviewen, die gefundenen Aspekte analysieren. Sie reizen die Möglichkeiten zur vielfältigen Landschaftserfahrungen in diesem Teil der Schweiz. Sie interessiert der im Vergleich zu bisherigen Aufenthaltsorten (Neuseeland) andere körperliche Umgang mit Landschaft, mit Raum und mit Bewegungsgrenzen. Raum bezieht sich auch auf Kultur; Bellinzona liegt in einer international geprägten Region; das setzt sie hinsichtlich des Kontaktes zur Bevölkerung voraus. In einer zweiten Phase will sie Menschen vor Ort aktiver in ihre Fragestellungen einbinden und Individualbezüge herstellen. Das stelle eine Art Intervention dar, bei der auch die Dokumentation, die Arbeit mit Statistiken, das Erlernen wissenschaftlicher Herangehensweisen eine Rolle spiele. Darin nähert sie sich dem Vorgehen Sylvia Hostettlers, Ping Qius, aber auch Chandrasekhar Ramakrishnans an. Drittens aber möchte sie eine Theateraufführung realisieren, in Zusammenarbeit mit dem Labor, das ihr helfen soll, ihr Anliegen in Form zu bringen. Damit bewahrt sie sich ihre künstlerische Freiheit:

»The artistic freedom should stay in the centre, and hopefully this centre can help to increase feedback for the institute, cause discussion and argumentation among the public and reflect back to the institute or even make a communication connection for the Swiss ›down under‹.«

Im Klartext sei auf den Begriff der Situation verwiesen, der in dramaturgischer Sicht - vor allem diese dürfte für die Bühnenbildnerin Claudia Tolusso zählen - ein Zusammentreffen räumlicher, zeitlicher, praktischer, sozialer und individueller Kontexte bezeichnet. Der dreiteilige Plan der Künstlerin sieht eigentlich die Betrachtung, die Analyse und die Beeinflussung einer solchen Situation vor. Handelnde sind die Bevölkerung, das Labor, die Künstlerin, das Publikum. Alle diese Handelnden lassen sich charakterisieren, gehorchen verschiedenen künstlerischen Konzeptionen, handeln in verschiedenen Raum- und Zeitstrukturen, unter verschiedenen Zielsetzungen, mit verschiedenen persönlichen Voraussetzungen. Ihr Handeln gilt es zu vermitteln und eventuell zu begründen, wozu sich verschiedene Kommunikationssituationen anwenden lassen, die ihrerseits von Konzepten der Informationsvergabe geprägt sind. Diese Konzepte beinhalten die Relationierung sprachlicher und außersprachlicher Informationsvergaben, die Orientierung am Erwartungshorizont der Beteiligten, die Darstellung von Figurenperspektiven, aus der sich die Beteiligten auf das Stück beziehen.

Zahlreiche andere Themenbereiche der Dramenwissenschaft ließen sich noch anführen, doch schon an dieser Stelle wird deutlich: die Betrachtung, die Analyse und die Beeinflussung vor Ort als so verstandene dramatische Situation steht der wissenschaftlichen Erforschung eines Ökosystems in nichts nach, überflügelt diese vielleicht sogar in ihrem gesteigerten Bewusstsein der eigenen Einflussnahme durch künstlerisches Handeln, dem das letztendliche Ergebnis nachrangig ist.

Bellinzona, 12.05.2009.

Gespräch mit Claudia Tolusso, Bellinzona, 12. Mai 2009

Claudia Tolusso, Du kommst aus Luzern, was hat Dich nach Bellinzona gezogen?

Ich habe italienische Wurzeln, mag die Sprache, wollte nach Neuseeland hierher: das Tessin ist ja auch so etwas wie eine Insel.

Ist das Tessin das down under der Schweiz?

Nicht so explizit wie auf der Südhalbkugel, aber die Natur ist hier schon anders als im Rest der Schweiz.

Ist die Natur hier wirklich anders oder einfach nur ein paar Jahre voraus, Stichwort Klimaerwärmung?

Es gibt klimatische Unterschiede. Eine üppigere Vegetation. Aber es herrscht hier auch schon eine andere Kultur. Australien ist der große Bruder, Neuseeland ist kleiner, ebenso verhält es sich mit dem Tessin im Vergleich zur Restschweiz. Hier herrscht eine andere Denkstruktur, eine andere Lebensart.

Jetzt bin ich 38 Jahre alt und das ist das erste Mal, dass ich Canneloni in einem Restaurant esse.

Und wie schmecken sie Dir?

Nun ja ...

Hier habe ich das Gefühl, das Essen kommt so ein bisschen aus dem Supermarkt.

Aber sie scheinen ja doch irgendwie handgewickelt zu sein, die Canneloni.

Woran erkennst Du das?

Ja, doch ... sie könnten auch maschinell hergestellt worden sein.

Für mich sieht das so aus, als würden sie wie die Maultaschen verschweißt. Und dann - zack! - auf den Teller ... Inwieweit analysierst Du den Raum, in dem Du in Bern lebst? Du kommst aus Deutschland?

Ach, aus einer ziemlichen Randlage. Das Saarland ist ein wenig abgeschieden vom Rest. Die Randlage führt manchmal zur Grenzausrichtung, zu einem eigenen Kosmos, der seine Identität und Originalität aber noch nicht so richtig gefunden hat. In der Vergangenheit gab es eine gemeinsame Schwerindustrie, lothringische Minette wurde zu Eisen verhüttet, Kohle wurde abgebaut, auch die Kochrezepte und die Dialekte sind ähnlich. Man versucht jetzt, über die Grenze zusammenzuwachsen, eine gemeinsame Identität zu finden, die es wie in der Willensnation Schweiz so vielleicht nie gab, siehe Romandie, Röschtigraben, Tessin, Berner gegen Zürcher, Katholiken gegen Evangelische, Basel gegen den Rest ...

Aber das ist schon so zwischen Bellinzona und Lugano. Du hast also die multikulturelle Seite der Schweiz kennengelernt.

Das ist vielleicht auch der Wunsch, sich kulturell nicht so festlegen zu wollen, über Identität nicht immer wieder reden zu müssen ...

... sich ständig neu zu finden ...

... und zu erfinden - wie gehen die Menschen hier im Tessin mit solchen Fragen um? Betrachtet ein Ökologe auch so etwas?

In seinem Institut oder in seiner Lebenswirklichkeit?

In seiner Forschung?

Soweit ich das jetzt beobachtet habe, geht es da um wirtschaftliche Aspekte und um kulturelle. Um Gelder für die Forschung zu bekommen, das WSL funktioniert national, braucht es schon konkrete Forschungsvorhaben. Und die führen hier im Tessin zu einer Sensibilisierung für das Lokale.

Wie ist das mit den Köhlern und Kastanien? Man sagt ja, die Kastanienbäume bildeten eine Kulturlandschaft, und es wäre schade, wenn die Tessiner Kulturlandschaft verschwände. Übernimmt die ökologische Forschung hier die Rolle der Landwirtschaft, wird man zu Kastanienbauern?

Das Institut führt vor allem Modellpflanzungen durch, z.B. oben an einer der Burgen von Bellinzona, wo man einen ganzen Wald pflegt, und in gewissen Gemeinden, die sich in der Herstellung von Ökosystemen auf frühere Erscheinungsbilder beziehen. die ökologische Forschung gibt hier eine technologische und ideologische Hilfestellung, die zu einer veränderten Praxis führt.

Rollenübernahmen finden also eher nicht statt, aber indem man sich mit der hiesigen Kultur beschäftigt, wird man Teil davon.

Jein, ich würde schon behaupten, dass Rollenübernahmen dann doch entstehen, als Projektleiter, der das Gelände vermisst, waldwirtschaftliche Überlegungen anstellt, försterisch arbeitet. Doch Forschung bleibt Forschung. Aber kannst Du das so trennen? Wo findet für Dich die Trennung oder die Verbindung von Geist und Handwerk statt?

Was ist mit dem bewussten Handeln, der Moral? Das Bewirtschaften, die Produktion, die Raumpflege: da geht es ja um die Fabrikation einer festgelegten Systemform oder -struktur. Da käme aber doch auch das Handeln aus ethischem Antrieb dazu, dass man etwas macht, weil man eine Situation beeinflussen will, die Fakten vorgibt und Entscheidungen fordert.

Bellinzona, 12.05.2009.

Das ist der Punkt. Früher wurden die Kastanien angepflanzt, zur Bewirtschaftung. Jetzt sind sie überall. Keine Monokultur zwar, aber da die Buche hier ja auch einheimisch war, stellt sich die Frage, wieviele Kastanien man behalten möchte und wo es Sinn macht, Biodiversität zu sichern. Ein anderes Beispiel: Neophyten, die Tessiner Palmen. Die sind nicht einheimisch, auch wenn wir die in der Nordschweiz am Tessin so lieben. Die Palmen wachsen hier überall. Sie kamen hierher als Zierpflanzen. Heute kann man sie nicht mehr eliminieren, man muss damit leben. Das merkte man seit den 1960ern Jahren. Angesichts der Klimaerwärmung heute fragt man sich nach den Folgen für den hiesigen Wald.

Ist es dem Ökologen ein Anliegen, diese Zweite Natur auszuschalten? Einen möglichst authentischen Urwald zu haben? Ein Anfangssystem? In der Denkmalpflege hat man ja ähnliche Probleme. Wie sieht es mit dieser Burg hier aus: gibt es diesen Schiefer, der da im Dach verbaut wurde, hier im Tessin überhaupt? Wenigstens im Baumarkt?

Die Ökologie forscht anhand von Bodensegmenten, die man vom Grund der Seen nimmt, worin sich pflanzliche Reste und Pollen ablagerten.

Das heisst, man definiert den Urzustand einer Landschaft über abstrakte Sedimentierungen.

So abstrakt ist das ja nicht, eher wie Archäologie ... Ich habe mal eine Abhandlung gelesen, über ein Parkhaus, das man im Jahr 2300 entdeckte. Es gab da Metallkisten für Paare, Kisten für Familien, mit kleinen Extrakisten mit Symbolen darin, z.B. Dosen mit süßen Flüssigkeiten, aus denen man schloss, dass es sich um Grabbeilagen handeln musste. Es ist interessant, wie man alte Zeiten liest, was man von den alten Generationen noch weiss. Was ich hier als Realität erlebe, sehen andere ganz anders, aufgrund ihrer Kultur. Freunde aus Neuseeland meinten bei einem Besuch in Europa: Das gibt es ja alles tatsächlich! Wenn Du alle Deine Informationen aus dem Internet beziehst, in einem fernen Land lebst, dann gibt es ein ziemliches Erwachen, wenn Du hierher kommst und die Realität hier erlebst.

Bellinzona, 12.05.2009.

Machst Du deshalb Bühnenbilder, die ja physisch präsent sind, so wie der zentrale Platz hier in Bellinzona, von dem Du meintest, er sei für manche Menschen aufgrund seiner Präsenz so schwierig zu begehen, es brauche Mut, die teilweise rutschigen Bodenplatten zu betreten und den Platz selbst zu überqueren, sich den Blicken der am Rande Sitzenden auszusetzen, den Radfahrern auszuweichen ...

Ich lote solche Sachen aus. Aber da müssen wir unterscheiden. Den performativen Raum baut man für Leute, die man nicht um jeden Preis beeinflussen will, die dann einfach über einen Platz gehen, sich frei bewegen können. Der Raum im Theater, wo ich ein Publikum habe, das ich dann ganz klar mit Stühlen positioniere, das ist etwas anderes.

Ein performativer Raum wäre also ein Raum des Alltags, durch den Menschen sich ganz alltäglich bewegen, während ein Zuschauerraum stärker auf das dramatische Schauspiel bezogen ist, was hier bei dem Hauptplatz in Bellinzona nicht gegeben ist.

Das unterstellst Du mir jetzt! Hinsichtlich der Terminologie bin ich mir da gar nicht so klar. Für mich ist ein performativer Raum ein Raum, in dem der Ablauf von Handlungen nicht so klar ist, im Unterschied zu einem Theaterstück. Die Performance hat zwar Anfang und Ende, aber die Zeit und der Raum dazwischen ist offen für das, was außerhalb ihrer selbst passiert.

Das heißt, Du siehst am performativen Raum wie diesem Hauptplatz hier die Möglichkeit, die Chance, sich als Schauspielerin performativ auf das Publikum zu beziehen, als Künstlerin die umgebende Lebenswirklichkeit anzusprechen.

Das kann ein offenes Drama auch machen, aber in einer anderen Form. Das klassische geschlossene Drama hatte ja eine Vierte Wand, nämlich die zum Publikum. Interaktion konnte nicht stattfinden. Heute geht das eher, und man muss da schon unterscheiden, ob man in einem Theaterraum ist, der eh' schon künstlich wirkt, oder in einem öffentlichen Raum, der vielleicht auch künstlerisch gestaltet wurde von Architekten. Oder in einem natürlichen Raum, und hier mache ich meine Studien, mit Hilfe des Mediums der Fotografie, im Feld, Feldstudien.

Das heißt, das Studieren ist ein performativer Akt, damit Teil eines Kunstwerkes, das durch Dich im natürlichen Raum zur Aufführung kommt, mit Anfang und Ende, idealerweise symbolisiert durch die Koordinaten Deines Aufenthaltes hier, aber mit offenem Vollzug dieses Aufenthaltes, unter ständiger Beeinflussung durch die Menschen und Sachverhalte, denen Du dabei begegnest.

Was mache ich mit dem Theater? Wie behandele ich diese Räume? Beim performativen Raum frage ich mich, ob der nur für sich besteht, und da gibt er ja schon viel her, oder ob er dann noch zusätzlich vom Bühnenbildner mit gewissen Sachen bestückt und dann geformt wird, mit Personen, die mit ihm und mit denen er interagiert.

Die Bestückung wäre dann die Inszenierung.

Ja. Sie kann das sein. Die Bestückung kann auch darin bestehen, dass Du das während des performativen Teils machst. Der Raum ist dann nicht schon bestückt, wenn Du kommst. Sondern das Bestücken ist ein Teil einer Aktion - wie das Wegräumen übrigens auch. Es kann aber auch alles schon vorhanden sein: dann wird oder wird nicht interagiert oder wahrgenommen. Weshalb nimmt man etwas (nicht) wahr? Nehme ich etwas, z.B. dieses Restaurant, bewusst wahr, drehe ich mich um? Oder spüre ich, da ist etwas, was mich interessiert, aber es gehört sich nicht, sich umzudrehen?

Beim Interview spielt das ja auch eine Rolle. Interviews gehören zu Deiner Performance hier in Bellinzona.

Die Regisseurin, mit der ich zusammenarbeite, hat noch viele weitere Projekte. Und ich bin nicht die Sprachfrau. Sondern ich arbeite am Bild. Wie zeige ich nun aber die Protagonisten? Wie kriegen die bei mir eine Stimme? Welche Stimme? Ich mache Interviews mit Tessinern, aber auch mit einzelnen Forschern vom WSL, die ich fragen werde, wie sie denn ihre eigene Rolle sehen, wo ihre Forschung hingehen würde, wenn sie jetzt ihr eigener Regisseur wären, denn das ist ja auch unterschiedlich, so als ob Du jemanden fragst, der seiner täglichen Arbeit nachgeht, was er denn machen würde, wenn Geld keine Rolle spielte.

Wäre es sinnvoll, nur die Untersuchungsergebnisse zu sammeln? Dadurch, dass Du sammelst, Interviews durchführst, beeinflusst Du ja schon die Leute - das ist doch eigentlich schon ein Drama, in dem Akteure agieren.

Ja. Mein Aufenthalt hier ist das eigentliche Stück. Wie aber hält man einen solchen Prozess fest? Ist das mein eigener Prozess, für wen ist der gedacht? - Die Fragen von Max Frisch gehen ja auch in die Richtung: "Wieviele Freunde hast Du ... Was sind wirkliche Freunde ... könntest Du ohne Freunde sein?"

Kommt Frisch zu einem Ergebnis?

Ich glaube, ihm selbst geht es vor allem um seine Reaktion, sein eigenes Leben, er war ja auch der Autor von vielen Stücken.

Also definiert er keine Normalzustände.

Nein, er baut sich die Zustände so zusammen, wie er sie sieht.

Bellinzona, 12.05.2009.

Aber steht das nicht im Widerspruch zu einer Forschungseinrichtung, wie der, an der Du Dich aufhältst. Die hat doch das erklärte Ideal, sich die Zustände nicht zu konstruieren, sondern wie vorgefunden abzubilden, als Formeln, Aufsätze, Erzählungen.

Aber wenn so wie hier gearbeitet wird, mit angewandter Forschung, finde ich, wärst Du bei den Waldbrandthemen ... - Du kannst Dir keine eigene Realität bilden. Du musst auf das reagieren, was da ist, Gefahrenfaktoren, potentielle Gefahren. In den 1980ern wurde ein Gesetz verabschiedet, dass in der Landschaft keine Feuer mehr gemacht werden dürfen, und da ging die Waldbrandstatistik zurück. Man findet keine Urzustände vor, sondern Faktoren, die sich auswirken. Für mich heißt ökologisches System im Moment zwar Natur oder Wald, doch die sind ja schon nicht mehr wild, im Urzustand.

Wie war das mit den Faktoren, als Du nach Neuseeland gingst?

Ich wollte mal soweit weg wie möglich, auf die andere Seite der Welt, um mich dann vom entferntesten Punkt aus meiner Heimat anzunehmen, aber das war nur ausschlaggebend für meinen ersten Aufenthalt dort. Bei meiner zweiten Reise konnte ich helfen, den Studiengang Bühnenbild an der Massey-Universität in Wellington aufzubauen, und das waren dann drei Jahre performance design, spatial design. Dass ich dann von Neuseeland zum Swiss Artists in Labs-Projekt wechselte, war ein guter Einstieg in die Rückkehr nach Europa. Eine Freundin schickte mir die Unterlagen. Ich fragte mich, ob ein Bühnenbildner ein guter Regisseur sein kann. Da gab es ja einen starken Wandel in letzter Zeit, im Theater. Anne Viebrock, die Bühnenbildnerin, macht jetzt auch Regie, arbeitete übrigens lange mit Marthaler zusammen. Da gibt es schon Tendenzen, wo einen Bühnenbildner sagt: Mit meinen Bildern mache ich doch eigentlich schon Regie, oder?

Welche Rolle spielt die Situation im Theater? Wenn ich Dich richtig verstanden habe, ist ein Ökosystem eine Landschaft mit Faktoren - Kultur, Natur, Vegetation, Ökonomie, Religion ... - in einem bestimmten Stadium, das man vor einer bestimmten Fragestellung sieht, das man erzeugen, erhalten, verändern möchte. Eine dramatische Situation ist eine Situation, in der Menschen miteinander agieren, reagieren, interagieren, Rollen, Funktionen übernehmen, also so etwas ähnliches wie ein Ökosystem. In der Situation sind sie ebenfalls abhängig von den Faktoren des Kontextes. Allerdings fehlte der explizite Landschaftsbezug.

Soll die Situation ein künstlich-inszeniertes Ökosystem sein?

Vielleicht einfach nur ein bewusstgemachtes. Wenn ich Dich in einer dramatischen Situation begreife, Deinen Aufenthalt hier im performativen Raum von Bellinzona, als Mitglied des WSL, und ich frage nach dessen Leiter als Regisseur und nach Deiner Rolle als Bühnenbildnerin in diesem Zusammenhang, dann würde ich ja nicht behaupten wollen, dass Ihr Situationen als dramatische Grundeinheiten herbeiführen wollt. Sondern es handelt sich bei Eurem Tun ja um eine Art Lebensvollzug. Anders ausgedrückt: gehört nicht zur dramatischen Situation, sich klar zu machen, wann, vor welchen Hintergründen man etwas tut?

Ich weiss nicht, ob ich Dich richtig verstehe. Was ich z.B. als dramatische Situation verstehe, zeigt sich darin, dass gewisse Handlungen anders ausgeführt werden, dadurch dass es halt einen Beobachter gibt. Man weiss, dass man beobachtet wird. Ich glaube, das kann man nicht auslassen. Ich begleite z.B. die Exkursionen der Forscher in die Tessiner Umgebung mit meiner Kamera. Ich beobachte. Das ist interessant: die Forscher sind nun selbst Forschungsobjekte, aber auch dramatisch Interagierende.

Entfernt man sich da wieder von der Wirklichkeit, durch die Distanz des Zuschauens, während Forscher sich den Dingen stark annähern?

Ich bin ja sowohl Forscherin, als auch Zuschauerin.

Bellinzona, 12.05.2009.

Und Du schaust auch auf Dich selbst, wie Du Dir beides aneignest?

Ja, das ist die Reflexion, die ich da mache. Beim Bühnenbild weiss ich ungefähr, wie ich an eine Idee herankomme. Und dann überlege ich, wie ich an die Essenz dessen gelange, was letztlich das Bühnenbild sein soll. Zuerst richte ich mich nach dem Text, der hat ja immer ganz viele Lücken. Durch meine Bildersammlung fallen irgendwann auch verschiedene Farben und Formen zusammen. Meistens geht es um Raum, um abstrakte Volumen, ohne explizite Gegenstände, keine definierten Objekte. Tage des Jammers spielte draussen an verschiedenen Spielorten, da ging es um 1798, den Einfall der Franzosen in Obwalden, die Gegenwehr der Schweizer, um Freiheit oder Habsburgertum. Das war komplex, und in einem Raum wie hier, der schon reich an Zeitzeugen ist, frage ich mich, was man da noch groß an Bühnenbild hinstellen möchte? Für mich war es damals wichtig, Würfel, Container zu schaffen, in denen Gedanken enthalten waren. Es gab Leute von innen nach aussen und Leute, die den Würfel in Besitz nahmen. Es ging um Gedanken, Ideale. Der Würfel wurde von Bild zu Bild mitgenommen, nicht unbedingt als Denkideal, aber als Frage, wohin man eigentlich will. Im letzten Bild konntest Du dann durch die verbleibenden Reste wie durch einen Rahmen schauen und die Landschaft des letzten Bildes vor der Schlacht sehen.

Diente Raum hier der Erzählung?

Der Rahmen legt nahe, dass es eine Geschichte in der Landschaft gibt. Man fragt sich ja, welche Landschaft man sich für welche Geschichte suchen soll. Ich versuche, einen Ort zu finden, der dem Text Raum gibt, und durch den ein Subtext entsteht, indem sich verschiedene Sachen neu verbinden.

Für die Bühnenbildnerin ist Raum also Raum für den Text. Wenn man darauf die Situation hier in Bellinzona bezieht, müsstest Du den Text vorher schon haben.

Ja.

Um dem nachher Raum zu geben.

Ja. Habe ich aber nicht.

Der Text braucht noch Zeit.

Ja.

Das kommt in der letzten Sekunde.

Ja. Oder es baut sich dieses Mal anders auf. Es baut sich vielleicht nicht aus der Bildersammlung auf, über die Bilder könnte ich mir vorstellen, Texte zu sammeln.

Texte über Bilder, die gesammelt werden?

Oder Interviews. Eine Figur, die sich selber erzählt. Wo sich mit meinen Fragestellungen natürlich die Frage stellt, ob ich die Figur mit dem, was ich von ihr will, beeinflusse. Und welche Texte nehme ich? Ich bin der Regisseur. Wie bringe ich meine Daten zusammen? Ich habe mir überlegt, welche Fragen ich stellen werde. Ich lerne die Leute über Monate kennen, und sollen sie mir doch erzählen, wie sie ihre Forschung sehen. Wie nehme ich jemanden wahr, wie ist seine Rolle in diesem Institut, was ist meine Rolle? Oft denkt man, das Bühnenbild, die Szenografie bediene andere, den Text, den Regisseur. Ein schönes Bild entsteht. - Aber ich glaube, das ist nicht so. Zwar macht es für mich einen Unterschied, Bühnebildnerin oder Regisseurin zu sein. Das hängt mit dem künstlerischen Ausdruck zusammen. Aber auch Schauspieler können bisweilen Regie führen.

Fortsetzung folgt ...

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