Andreas Woyke: Eudämonistik und Willensverneinung: Zwei Seiten der Ethik Arthur Schopenhauers.
Arthur Schopenhauer(1) greift Thomas Hobbes’ Definition der Glückseligkeit als ständiges Fortschreiten von einer Lust zur nächsten(2) auf, wendet sie jedoch negativ, wenn er die Befriedigung unserer Begierden als ein immerwährendes Beseitigen bestehender und stets neu entstehender Mängel deutet:
»Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv.«(3)
Fällt der Kontrast zwischen Mangel und erwünschter Stillung weg, so verharren wir in einem Zustand der Langeweile.(4) Eine Annäherung an einen glückseligen Zustand in diesem Leben kann er insofern in Anlehnung an die Epikureische Ethik darin erkennen, möglichst schmerzfrei und ohne Langeweile zu leben:
»Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit von Langeweile; so ist das irdische Glück im Wesentlichen erreicht: denn das Uebrige ist Chimäre.«(5)
Schopenhauer spricht Kant zwar das Verdienst zu, die Ethik von allem Eudämonismus gereinigt zu haben,(6) kritisiert aber dezidiert ihr imperativisch-normatives Fundament.(7) Im Gegensatz zum Kantischen Rigorismus einer vollständigen Abstraktion von den konkreten Aspekten des individuellen Glücksstrebens, rückt er den individuellen Charakter in den Mittelpunkt der Frage nach dem Glück.(8) Der Hauptgrund für diese hohe Auszeichnung charakterlicher Eigenschaften ist die Beständigkeit und allgemeine Präsenz des Bewusstseins, zumindest hinsichtlich seines moralischen Kerns, im Unterschied zu allen anderen Dingen, die zeitweise wirken und ständigem Wandel unterworfen sind.(9)
Der Grundsatz aus Kants Anthropologie, dass Schmerz und Unbehagen gleichsam der Motor unseres Lebens sind, findet bei Schopenhauer zu einer wesentlichen Verschärfung und einer grundsätzlichen Akzentverschiebung: Begreift ihn Kant als Ausgangspunkt einer aktiven Lebensführung, innerhalb derer man sich die Veränderung und Beseitigung negativer Umstände zum Ziel setzt, so versteht ihn Schopenhauer als Quell einer resignativen und pessimistischen Lebenseinstellung, innerhalb derer die Verneinung des Lebenswillens zum höchsten Zweck erhoben wird.(10) Dennoch muss in seiner Philosophie zwischen jener metaphysischen Ebene, auf der alles Geschehen und damit auch alle Aspekte des menschlichen Lebens als Ausdruck des Wirkens des Weltwillens interpretiert werden, und einer lebenspraktischen Ebene unterschieden werden, hinsichtlich derer auf der Basis konkreter Regeln ein möglichst gelassenes und schmerzfreies Leben verwirklicht werden soll.
Der Kanon dieser Regeln, der ganz wesentlich durch antike Positionen inspiriert ist, behält zwar die pessimistische Tönung des Schopenhauerschen Denkens bei, orientiert sich aber deutlich stärker an den materialen Aspekten des individuellen Lebens im hic et nunc und wird ihm damit bedeutend besser gerecht als das rein formale Moralprinzip Kants, das von allen konkreten und individuellen Aspekten unseres Glücksstrebens abstrahiert. So sind es insbesondere vier subjektive wie objektive Größen, die nach der Auffassung Schopenhauers Grundbedingungen dafür bilden, ob und inwieweit ein Mensch ein glückliches Leben führen kann:(11) Hierzu zählt insbesondere ein heiteres Gemüt (εύκολία), das uns das rechte Maß an Empfindungsfähigkeit für Angenehmes und Unangenehmes verleiht und es uns erleichtert, auch unter misslichen Umständen eine ausgeglichene Stimmung zu bewahren.(12) Eng verbunden mit einer solchen Heiterkeit ist unsere physisch-psychische Gesundheit, die wir vor allem durch ein maßvolles Leben und einen Verzicht auf allzu exaltierte Tätigkeiten, Erwartungen und Stimmungsumschwünge erhalten sollten.(13) Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Intellektualität und Glück konfrontiert uns Schopenhauer mit einer widersprüchlichen Relation: Zum einen steht für ihn fest, dass eine selbstbestimmte geistige Existenz »das glücklichste Loos auf Erden« bedeuten kann;(14) zum anderen kann er aber nicht leugnen, dass gerade eine übersteigerte Neigung zur Reflexion eine Quelle des besonders tiefen Leidens an der Welt sein kann.(15) Schließlich bedarf es eines geringen Maßes äußerer Güter, um sich in einer gewissen Unabhängigkeit vom täglichen Kampf um das physische Überleben maßvoll den angenehmen Dingen des Lebens widmen zu können.
Die näheren Regeln zur Verwirklichung eines glücklichen Lebens lassen sich gemäß der stoischen Disziplinierungstechniken dem Bereich der Leidenschaften und Emotionen und dem Bereich der Vorstellungen und Denkinhalte zuordnen, wobei unsere Einstellung zu ihnen sowohl Auswirkungen auf uns selbst als auch auf unseren Umgang mit anderen haben kann. Hinsichtlich unserer Vorstellungen ist es für Schopenhauer entscheidend, dass wir uns über die Unerreichbarkeit eines bleibenden glücklichen Zustandes im Klaren sind und uns daher nicht unausgesetzten Genuss, sondern ein möglichst schmerzfreies Leben zum Ziel setzen. Damit wesentlich verbunden ist für ihn die Einsicht in die Vergänglichkeit allen Besitzes und aller materiellen Gaben, sowie die grundlegende Variabilität unseres Schicksals: Ein Missverhältnis zwischen den eigenen Ansprüchen und den eigenen Möglichkeiten führt einen Menschen beinahe notwendig ins Unglück, so dass wir uns hinsichtlich unserer Ziele und Wünsche immer im Bereich unseres jeweiligen Horizontes bewegen sollten.(16) Das Gefühl, mit den eigenen Mitteln ein gesetztes Ziel tatsächlich erreichen zu können, kann uns glücklich machen, was sich allerdings leicht ändern kann, wenn sich bei seiner Verwirklichung konkrete Schwierigkeiten ergeben. All das, was außerhalb unseres Gesichtskreises liegt, übt dagegen weder einen tröstenden noch einen beunruhigenden Einfluss auf uns aus. Schmerz empfinden wir also nur, wenn wir unsere Ansprüche an der Realität scheitern sehen oder einen Verlust erworbenen Besitzes oder Ruhmes erleiden; das Herunterschrauben der eigenen Ansprüche und das Verarbeiten erlittener Verluste lassen auch die Schmerzempfindung zum Erliegen kommen. Ganz analog hält auch die Freude über einen Glücksfall nur solange vor, bis die erweiterten Ansprüche zum Normalfall geworden sind. Das einzig Gewisse dabei sind die Veränderlichkeit unserer näheren Lebensumstände und das Schwanken unseres Schicksals.(17) In diesem Sinne ist es für den Erhalt eines halbwegs zufriedenen Lebens äußerst hilfreich, alle Güter, Eigenschaften und Talente nicht als etwas Bleibendes, sondern als etwas uns für eine bestimmte Zeit Geschenktes zu betrachten, welches uns zu einer anderen Zeit auch wieder entrissen werden kann:(18)
»Man sollte beständig die Wirkung der Zeit und die Wandelbarkeit der Dinge vor Augen haben und daher bei Allem, was jetzt Statt findet, sofort das Gegenteil davon imaginieren.«(19)
Das Elements des Zufalls(20) besitzt für Schopenhauer eine außerordentlich große Bedeutung innerhalb unseres Lebens, weshalb es sich ganz passend mit einem Würfelspiel vergleichen lässt, in dem die geworfene Zahl klug und verständig verwendet werden muss, oder einem Schachspiel ähnelt, in dem all unsere Züge auf die Züge unseres Gegners verwiesen sind.(21) Die Reflexion auf die Wandelbarkeit unseres Schicksals im Verlaufe der Zeit führt uns auch dazu, Gegenwärtiges und Zukünftiges in ein richtiges Verhältnis zueinander zu setzen und so sowohl ein allzu leichtgläubiges Vertrauen in die Beständigkeit der Gegenwart als auch ein allzu ängstliches Verhalten zu dem, was die Zukunft uns wohl bringen mag, zu vermeiden.(22) Wir sollten uns unser gegenwärtiges Dasein nicht durch die Furcht vor Ungewissem vergällen lassen und davon ausgehen, dass nur wahrscheinliche Übel uns gar nicht treffen und gewisse aber zeitlich unbestimmte Übel wie insbesondere der Tod uns zumindest nicht sofort treffen werden.(23) Dieses Bemühen, unser Leben zwar in seinem dynamischen Charakter zu denken, den Blick aber vorrangig auf seine gegenwärtige Verfasstheit zu richten, schließt auch ein, dass wir jedes unserer Lebensalter in der ihm eigenen Qualität sehen: So ist das Alter gegenüber der Jugend dadurch ausgezeichnet, dass man zumeist von dem ungestümen und unstillbaren Drang, sein Glück zu finden und fest zu halten, geheilt ist und in einem Zustand der Seelenruhe und einer möglichst großen Freiheit von Schmerzen Zufriedenheit finden kann.(24)
All diese Lebensmaximen, die Schopenhauer zur Disziplinierung unserer Vorstellungen empfiehlt, besitzen zwar auf der Ebene ihrer Begründung den Status generalisierbarer Aussagen, aber die notwendige Verschiedenheit der menschlichen Charaktere bedingt, dass sie sich nur insoweit praktizieren und leben lassen, als sie sich mit der jeweiligen Persönlichkeit »vertragen«. Gerade die mögliche Verbindung der Einsicht in die Aporetizität unseres Glücksstrebens mit einer eudämonistisch-individuellen Lebensführung hängt zweifellos stark damit zusammen, was man ist und wird nur geringfügig dadurch tangiert, was man hat oder vorstellt. In Anspielung auf einen Goethe-Vers heißt es daher bei Schopenhauer: »Das größte Glück ist die Persönlichkeit.«(25)
In einer klaren Geste gegen jeden universalistisch-normativen Anspruch einer Moralphilosophie setzt Schopenhauer damit auf eine deskriptiv-anthropologische Ethik, deren Adressaten zwar letztlich immer noch alle Menschen sind, die aber ein klares Wertgefälle zwischen den geistig Höherstehenden und der breite Masse beinhaltet. Den Wert einer großen Persönlichkeit für das Glück sieht er vor allem darin, dass sie Schutzmittel gegen zwei seiner besonderen Feinde liefert: Gegen geistigen und körperlichen Schmerz bietet sie ein heiteres Gemüt, gegen die bohrende Langeweile bietet sie den Genuss und die Freude an geistiger Tätigkeit auf. Da diese Gaben jedoch gewöhnlich ungleichgewichtig verteilt sind und sich in den hohen Graden beinahe ausschließen,(26) ist es auch dem größten Menschen nicht vergönnt, ein Leben ohne Schmerz und Langeweile zu führen. Dennoch erlaubt es gerade ein halbwegs ausgeglichenes Verhältnis zwischen Heiterkeit und Intellektualität eine sowohl kognitive als auch emotionale Kontrolle über die uns häufig beherrschenden Leidenschaften und Begierden auszuüben und so eigenen Schädigungen und falschen Verhaltensweisen im Umgang mit anderen vorzubeugen. Mit dem Gedanken, sich den Prämissen der Vernunft zu unterwerfen, trifft sich Schopenhauer einerseits mit dem ratiozentrischen Menschenbild der Stoa,(27) andererseits mit dem neuzeitlichen Projekt einer umfassenden rationalen Kontrolle auf der Basis instrumenteller Setzungen des Subjekts. En detail unterscheidet sich seine Sicht allerdings wesentlich von beiden Positionen: Von den Stoikern unterscheidet ihn, dass es im Rahmen seiner voluntaristischen Metaphysik keine vernünftige Weltordnung mehr gibt, an der sich auch das sittliche Handeln des Menschen orientieren könnte. Von Descartes, Locke und anderen Vordenkern einer »desengagierten Haltung« unterscheidet ihn, dass er die Verwiesenheit alles menschlichen Denkens und Handelns auf objektiv gegebene Größen auf unterschiedlichen Ebenen betont und sich so dezidiert kritisch gegenüber überzogenen Machtphantasien des Subjekts positioniert. Die utopistischen Staatsentwürfe, die auf der Grundlage des instrumentalistischen Vernunftgebrauchs und eines übersteigerten Vertrauens in die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technologie in der neuzeitlichen Philosophie und Literatur konzipiert werden,(28) lassen sich nach Schopenhauer als Ausdruck einer Haltung verstehen, in der phantastische Bilder und Vorstellungen und nicht vernünftige Begriffe den Leitstern bilden, was in seiner realistisch-pessimistischen Sicht nur ins Unglück führen kann.(29) Sein Programm der vernünftigen Herrschaft über unsere Gefühle und Leidenschaften intendiert höchst lebenspraktische Ziele, deren Verwirklichung unser Selbstverständnis verbessern und uns zu einem moralisch verpflichteten Handeln in der Gemeinschaft führen kann. Angestrebt sind dabei Tugenden, über deren sittlichen Wert sich – zumindest z. T. – auch im Austausch zwischen antiker Eudämonistik und christlicher Moral Einigkeit erzielen ließe.(30) Diese lebenspraktische Relevanz der Schopenhauerschen Regeln für ein glückliches Leben und ihre Orientierung an einem vor allem in den Härten realistischen Menschenbild jenseits der Abstraktion moralischer Normen oder der Verstiegenheit religiöser Gebote machen sie ebenso wie die antiken Glückslehren von Platon bis Plotin(31) auch für jeden halbwegs vernünftigen Menschen der Gegenwart bedeutsam hinsichtlich der Reflexion über die Möglichkeiten eines gelingenden Daseins. Von den instrumentellen »Glückskonstruktionen« Descartes’ und Lockes und der formalen Moralphilosophie Kants unterscheidet sie außerdem die viel stärkere Betonung der Unverfügbarkeit von Glücksmomenten und ihrer notwendigen Verwobenheit in die gegebenen Verläufe und Umschwünge des Weltgeschehens.
Der Pessimismus Schopenhauers bedingt allerdings, dass auch er zu einem soteriologischen Sprung aus dieser Verwobenheit in eine transzendente Sphäre ansetzt: Glück gibt es nie als bleibenden Zustand, sondern immer nur im Akt der Befriedigung eines Mangels, der sich immer wieder erneuert und uns so zu unausgesetzt Getriebenen und nach Glück Suchenden macht.(32) Den metaphysischen Hintergrund dieser Unmöglichkeit eines letzten und bleibenden Stillens dieser Suche bildet für ihn das endlose und ungerichtete Streben des Weltwillens, als dessen Objektivation wir unser Leben wie jede andere Erscheinung auch begreifen müssen. Die Leben der allermeisten Menschen gleichen daher Uhrwerken, »welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum; und jedes Mal, dass ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs Neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz, Takt vor Takt, mit unbedeutenden Variationen.«(33) Jeder, der nicht zum Schluss kommt, dass unser Leben von Irrtum und Zufall, Torheit und Bosheit regiert wird, sitzt nach Schopenhauers Ansicht einem eingeprägten Vorurteil auf, das seine Fähigkeit lähmt, richtig zu urteilen. Die Grundaussage des weltberühmten Hamlet-Monologs muss seiner Auffassung nach gerade so verstanden werden, dass unser aller Zustand ein in jeder Hinsicht elender ist, dem »gänzliches Nichtseyn ... entschieden vorzuziehen wäre«.(34) Da aber auch der Suizid in der metaphysischen Perspektive kein wirklicher Ausweg aus dieser Misere ist,(35) ist eine wirkliche Erlösung vom Leiden nur durch eine vollständige Verneinung des Willens zum Leben zu erlangen:
»Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.«(36)
In der christlichen Religion wird die Bejahung des Willens, die durch die Bindung an die Welt zu Leiden und Tod führt, durch die Lehre von der Erbsünde ausgedrückt, während der Verneinung des Willens die Erlösung von der Sünde durch Jesus Christus entspricht:
»Wirklich ist die Lehre von der Erbsünde (Bejahung des Willens) und von der Erlösung (Verneinung des Willens) die große Wahrheit, welche den Kern des Christenthums ausmacht. ... Dass in neuerer Zeit das Christenthum seine wahre Bedeutung vergessen hat und in platten Optimismus ausgeartet ist, geht uns hier nichts an.«(37)
Wie von Augustinus betont und von Luther aufgegriffen, ist unser Wille keineswegs frei, sondern »dem Hange zum Bösen ursprünglich unterthan«,(38) so dass allein der Glaube an die gnadenvolle Erlösung durch Gott uns selig machen und uns von unserer Sündhaftigkeit befreien kann. Indem Schopenhauer den Glauben mit der philosophischen Erkenntnis parallelisiert, die zu seiner voluntaristischen Metaphysik führt, kann er sich in völliger Übereinstimmung mit der christlichen Lehre sehen, welche für wahre Tugend und Seligkeit eine möglichst vollständige Distanzierung von den Bindungen an die Welt fordert. Unser Zustand ist von seinem Ursprung und seinem Wesen her heillos, so dass wir, da wir es selbst nicht leisten können, auf Erlösung durch Gnade angewiesen sind. Alle Schmerzen und Leiden, von denen unser Leben so voll ist, erweisen sich in diesem Zusammenhang als dienlich, um uns von der alltäglichen Überzeugung zu heilen, der Zweck unseres Daseins sei die Glückseligkeit, und uns zu seinem wahren Zweck, nämlich der Abwendung vom Willen zum Leben zu führen:
»Das Sterben ist allerdings als der eigentliche Zweck des Lebens anzusehen: im Augenblick desselben wird alles Das entschieden, was durch den ganzen Verlauf des Lebens nur vorbereitet und eingeleitet war. Der Tod ist das Ergebnis, das Résumé des Lebens ...«(39)
Schopenhauer verweist hierzu auf einen Spruch aus dem Buch Koheleth:
»Das Herz des Weisen ist im Haus der Trauer, das Herz der Toren aber im Haus der Freude.«(40)
Wenn dem Leiden die Kraft zukommt, uns im Unterschied zu unseren Taten zu reinigen und so gleichsam zu heiligen, so muss der von uns so gefürchtete Tod in einem noch größeren Maße ein solches Potential bergen. Unser Sterben bildet den eigentlichen Zweck unseres Lebens, da es uns endgültig über die Eitelkeit und Vergeblichkeit all unseres Strebens belehrt. Der Mensch ragt aus der Gemeinschaft der anderen lebendigen Wesen ganz wesentlich dadurch heraus, dass er den Willen zur Verneinung besitzt und sich folglich vom Leben abwenden kann.(41) Jeder Wille, der nicht zu dieser Negationshaltung findet, tritt erneut in den Kreislauf der Wiedergeburten ein und erscheint in einem neuen Leben mit einem anderen Intellekt, was sich solange wiederholt, bis er das Wesen der Welt erkannt hat und beginnt, sich von ihr loszusagen. Schopenhauer findet also seine pessimistische Weltsicht und seine Forderung, sich von allen Bindungen an die Welt zu trennen, sowohl durch die Grundsätze des Buddhismus, sich aus der Kette der Reinkarnationen zu lösen und so den weltentrückten Zustand des Nirwana zu erreichen,(42) als auch durch die asketischen und antikosmischen Tendenzen des Christentums bestätigt.(43) Die Lebenspraxis seiner ganz auf die Immanenz des Irdischen bezogenen eudämonistischen Regeln wird demnach zugunsten einer soteriologischen Weltflucht und einer Hinwendung zu religiösem Weltüberdruss und überzogenem Asketismus aufgegeben. Er negiert damit nicht nur den aufklärerisch bedeutsamen Gedanken, dass jeder Mensch die Freiheit besitzt, sein Handeln durch seinen eigenen Willen zu bestimmen, und reduziert diese Freiheit darauf, sich für eine selbstzerstörerische Lebensorientierung zu entscheiden, er verrät letztlich auch die von ihm ausgiebig rezipierte antike Ethik, indem er die Unmöglichkeit, unser Glücksstreben im Irdischen zu befriedigen, in eine nicht näher spezifizierte Transzendenz verlagert.(44)
Anmerkungen
Literatur
Der Autor
Dr. Andreas Woyke, Jg. 1966, Studium der Chemie, Physik, Erziehungswissenschaft und Philosophie an der Universität Siegen, 1. und 2. Staatsexamen, 2004 Promotion, seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Philosophischen Institut der TU Darmstadt, DFG-Projekt »Philosophische Implikationen von Nanoforschung und Nanotechnologie«.
recenseo
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ISSN 1437-3777