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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Karl-Friedrich Kiesow: Über den Unterschied von Natur- und Kulturwissenschaften. Eine philosophische Skizze.

Die laufende Debatte über das Verhältnis von Biologie und Kulturwissenschaften gibt Anlass zu den folgenden Vorklärungen:

Wenn man den Begriff der Wissenschaft vorerst einmal beiseite lässt, so ist es der Terminus der Kultur, der eine Klärung vorab zu erheischen scheint. Nun gibt es eine alte und philologisch zuverlässige Ableitung des Kulturbegriffs aus dem lat. Verbum colere, zu deutsch hegen oder pflegen. Ein erstes Sinnverständnis ist also zu erreichen, wenn man sich zunächst vergegenwärtigt, dass der Kulturbegriff selbst mit einem epochalen Einschnitt der menschlichen Kulturgeschichte zusammenhängt, nämlich dem Übergang von der Lebensweise der Sammler und Wildbeuter zur Lebensweise der Ackerbauer und Viehzüchter. dass ein solcher stattgefunden haben müsse, ist eine Tatsache, die selbst tief im Kulturgedächtnis der Menschheit verankert ist, und so hat das Nachdenken über den Kulturursprung sie seit dem Anbeginn schriftlicher Aufzeichnungen begleitet. Was wir heute Kulturwissenschaften nennen, verweist auf einen Hintergrund in der religiösen Selbstvergewisserung und in der philosophischen Spekulation. Es genügt, auf Hesiod, die Sophisten, Plato, Lukrez, Augustinus, Vico, vor allem auf Herder und Hegel hinzuweisen, um diese These zu unterstreichen.

Auf die Eigentümlichkeit, dass die kulturwissenschaftliche Begriffsbildung auf einer Abbildung oder Projektion älterer Kulturstadien auf unser heutiges Gegenwartsbewusstsein beruhe, soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Aber vielleicht noch ein Wort zum Ursprungsbegriff als solchem: Im Horizont der Kulturwissenschaften stellt sich die Wesensfrage oder Kategorienbeschreibung stets als eine Erkundigung nach dem Ursprung des Kulturphänomens selbst dar. Ursprung aber heißt entweder so viel wie Anfang in der Zeit, oder aber es ist an einen Maßstab gedacht, der die Wesensfrage oder Kategorienbeschreibung richtet. In diesem Sinne fragt die ältere Kulturphilosophie vielfach nach Sprache, Mythos, Magie, Religion, Wissenschaft und Technik, und dazu gesellt sich das Problem der materiellen und der geistigen Seite der Kultur bzw. nach dem Vorrang objektiver und subjektiver Wertschöpfung. In dieser Hinsicht unterscheidet sich übrigens die ältere Richtung der Kulturphilosophie, die im deutschsprachigen Raum auf Herder und W. v. Humboldt, sodann auf Simmel und Cassirer zurückgeht, nicht merklich von einer neueren Richtung, die eine stärkere Einbeziehung naturwissenschaftlich-biologischer Erkenntnisse in den kulturwissenschaftlichen Kategorienrahmen fordert. Stets erweist sich die Wesensfrage als unauflöslich verflochten mit der Ursprungsfrage. Freilich rechnen die aktuellen, biologisch aufgeklärten Forschungsansätze mit ganz anderen Zeiträumen, als es ihren Vorgängern vorstellbar war.

Der soeben angedeutete Gegensatz resultiert übrigens aus einer bedeutsamen Differenz zwischen den Wissenschafts-Kulturen der kontinentaleuropäischen und der angloamerikanischen Welt. In Deutschland und insbesondere in Frankreich sind die mit dem Namen Darwins verknüpften Entdeckungen bis tief in das 20. Jahrhundert hinein auf tiefe Ablehnung gestoßen. dass es eine entwicklungsgeschichtliche Kontinuität alles Lebendigen gebe, dass weiterhin der Mensch von der Tierreihe und im besonderen von den sog. Primaten abstammen solle, diese These Darwins und der Darwinisten verletzte ein kulturell tief eingewurzeltes Tabu. Und die weltanschaulichen Befürworter des Darwinismus, in Deutschland etwa die Vertreter des sog. konkreten Monismus mit E. Haeckel an der Spitze, diskreditierten sich ebenfalls durch eine überzogene und verfehlte polemische Verve und einen philosophisch unaufgeklärten Begriff von Wissenschaft. In der englisch sprechenden Welt hingegen wurden die Konsequenzen der Darwinschen Entdeckungen mit weit größerer Besonnenheit diskutiert, man denke nur an die Gelehrtenfamilie Huxley. Ein Dewey(1) konnte für Amerika den Darwinismus als genuine Bereicherung der Philosophie begrüßen, während in Deutschland und Frankreich, wie gesagt, Ablehnung und Abwehr die Reaktionen dominierten.

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Der soeben bezeichnete weltanschauliche Widerstand gegen die Ausbreitung des darwinistischen Gedankengutes hatte vorwiegend religiöse, aber auch innerwissenschaftliche Motive. Die hier in Betracht kommenden Werke des großen Entwicklungsbiologen, also der Origin of Species(2) und der Descent of Man(3), wie ich die beiden Schriften mit ihren geläufigen Kurztiteln benennen will, sammeln Belege zunächst einmal nur für die These, dass die anatomisch-morphologischen Merkmale einer Art dem Anpassungsdruck der physischen Umwelt unterliegen. Der geistesgeschichtliche Hintergrund dieser These ist übrigens selbst komplex; denn Darwin schöpft nicht nur aus biologischen Erkenntnisquellen, sondern bedient sich auch der Hilfe anderer Wissenschaften und selbst der Philosophie. Zu seinen Vorläufern gehören neben dem Pariser Gelehrtenkreis um Buffon und Erasmus Darwin, seinem Vater, auch der Geologe Lyell, der ähnlich wie A. v. Humboldt in Deutschland den Schichtungs- und Entwicklungsgedanken in die Geologie einführte, und der Bevölkerungswissenschaftler Malthus, dessen düstere Entwicklungsprognose auf der vergleichenden Abschätzung arithmetischer und geometrischer Wachstumsreihen der Bevölkerungsdichte einerseits, der Nahrungsmittelproduktion anderseits beruhte. Ein Zeitgenosse und Mitstreiter Darwins war B. Wallace, dem Wissenschaftshistoriker sogar eine Vorreiterrolle gegenüber dem berühmteren Kollegen zubilligen wollen.(4)

Ein erhebliches Manko des älteren Darwinismus besteht unleugbar in dem Fehlen einer klaren Konzeption des Erbganges. Darwin selbst huldigte lamarckistischen Vorstellungen und verfolgte die Idee der Panmixie, d. h. er verwarf die Vererbung erworbener Eigenschaften nicht durchaus und glaubte, dass im Akt der Fortpflanzung die elterlichen Anlagen gewissermaßen bloß zusammengewürfelt würden. Noch die erste Generation von Darwinisten, man denke etwa an den scharfsinnigen und tiefgründigen A. Weismann, vermochte diese Mängel nicht zu beheben. Die weitere Abklärung des Problemkomplexes erfolgte in mehreren Schritten: R. A. Fisher und S. Wright entwarfen mathematisch-statistische Modelle der Merkmalsausbreitung in biologischen Populationen, T. Dobzhansky(5), J. Huxley(6), G.G. Simpson(7) und E. Mayr(8) revidierten die biologischen Kategorien und insbesondere die sog. Nomenklaturlehre und versuchten, die Triebfedern der Evolution zu beschreiben. Der Erbmechanismus wurde erst durch die Entdeckungen von Watson und Crick zu Beginn der 50er Jahre des verflossenen Jahrhunderts umfassend dargestellt.(9) Der Begriff der Mutation, von de Vries an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ins Spiel gebracht und nach wie vor unentbehrliche begriffliche Voraussetzung der Evolutionsbiologie, harrt weiterhin der wissenschaftlichen Durchdringung.

Der Darwinismus ist demzufolge eine bedeutende wissenschaftliche Wahrheit und eine grundstürzende Transformation des naturwissenschaftlichen Weltbildes, die aber von nach wie vor undurchschauten Grundlagenproblemen belastet wird. Wie die Gegner der neuen Physik von Galilei, Kepler und Newton teilweise respektable Gründe haben mochten, dem erreichten wissenschaftlichen Fortschritt die Anerkennung zu versagen, bis dieser durch Descartes, Locke, Leibniz, Hume und Kant eine auch philosophisch befriedigende begrifflich-spekulative Bearbeitung erfahren hatte, so sind auch die Einwände der Gegner des älteren Darwinismus nicht von vornherein von der Hand zu weisen, wofern sie nicht erkennbar ausschließlich auf bloß religiös-klerikalen oder sonstwie weltanschaulichen Vorurteilen beruhen. So fand Darwin in S. Butler(10), in E. v. Hartmann(11) und H. Bergson(12) bedeutende Kritiker, und noch vor wenigen Jahrzehnten konnte ein Teilhard de Chardin so nüchterne Denker wie Dobzhansky und Huxley zeitweilig mit der Konzeption beeindrucken, dass alles Naturgeschehen zweckursächlich auf den Punkt Omega ausgerichtet sei.(13) Die Skeptiker der Evolutionsbiologie sehen sich im Tatsächlichen ihrer Vorbehalte durch immer neue Beweise ins Unrecht gesetzt, aber der Einwand ungeklärter begrifflicher Grundlagen und die sich hieraus ergebende reservatio mentalis hat vorläufig Bestand. Diese konfliktreiche Konstellation zwischen dem spekulativen und dem Tatsachendenken ist für die Umbruchsphasen der Wissenschaft nicht untypisch, und man wird es den Kulturwissenschaftlern daher nicht verdenken dürfen, wenn sie heute ebenso wie zu Darwins Zeit auf ihrer Eigenständigkeit bestehen und in einem Übergreifen darwinistischer Fragestellungen und Problemlösungsverfahren eine ernste Gefahr für die Autonomie ihrer Wissenschaft erblicken.

Das Gesagte dürfte hinreichend sein, um eine erste These zu begründen und die Perspektive für den Fortgang unserer Betrachtung zu umreißen. Unsere These besteht in der Behauptung, dass der Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaften jüngeren Datums, kompensatorisch und mutmaßlich transitorisch ist. Ich behaupte demnach, dass dieser Gegensatz in der Form, die uns heute nahezu ausschließlich beschäftigt, erst mit Darwin und dem Darwinismus ins Leben gerufen worden ist; dass er der methodischen Selbstbehauptung der Kulturwissenschaften dient; und dass er mit der Bereinigung der beiderseitigen Missverständnisse in Fortfall geraten wird. Die Perspektive der weiteren Betrachtung besteht demgegenüber in der Erörterung von zwei Modellen, wie der Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaften zu denken sei; es sind dies die ältere, um die Namen von Herder und W. v. Humboldt, Simmel und Cassirer zentrierte Richtung der Kulturphilosophie sowie eine neuere, welche sich als Soziobiologie bezeichnet und mit dem wissenschaftlichen Schaffen lebender Autoren wie E. O. Wilson zusammenhängt.

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Dass der zeitgenössische Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaften keineswegs von altersher bestanden hat, erkennt man ohne weiteres aufgrund der Tatsache, dass der philosophische Ehrgeiz eines Herder, W. v. Humboldt, A. v. Humboldt oder H. Lotze darin bestanden hat, von der physischen Geographie und Geologie über die Anthropologie bis hin zur Kultur- und Sprachwissenschaft das gesamte damalige Wissen über das Universum und den Menschen unter gemeinsamen Oberbegriffen zu vereinigen. Wenn Herder die verschiedenen Kulturepochen des Abendlandes betrachtet,(14) W. v. Humboldt die Individualität der Kultursprachen zu ergründen versucht(15): so scheuen sich diese Denker durchaus nicht, mit dem Alleräußerlichsten, wie etwa Landschaft und Klima, einzusetzen. A. v. Humboldt dehnt diese Sicht auf die Geschichte des Kosmos und der Erdzeitalter aus(16), während H. Lotze, das Ausholende und Weitschweifige des Gedankens korrigierend, dem Kosmos des Älteren wiederum einen Mikrokosmus (!) folgen lässt und entgegensetzt, d. h. sich auf die Natur- und Kulturgeschichte der Menschheit konzentriert.(17) Auch ist das Land von Herder, Goethe und Schelling dem Entwicklungsgedanken keineswegs feind gewesen, wenn auch die Genannten ihn in seiner darwinistischen Gestalt noch nicht zu begreifen vermochten. Die Ideen Herders enthalten immerhin eine großartige Vision des Zusammenspiels von aufrechtem Gang, Schädelform und -kapazität sowie Sprachlichkeit des Menschen; Goethe entdeckte die Zwischennaht des Schädels und griff vermittelnd in die Kontroversen des Gelehrtenkreises um den Direktor der Pariser Gärten, Buffon, ein; und in Schellings zu Unrecht so verrufener Naturphilosophie erblickt ein kenntnisreicher Ideenhistoriker wie A. O. Lovejoy die Temporalisierung und Dynamisierung der alten Idee der Seinsfülle, die von den Alten bis hin zu Leibniz die philosophische Spekulation beherrschte hatte: auch sie und gerade sie eine Grundvoraussetzung für die Herausbildung der neuen Gestalt des Entwicklungsgedankens im 19. Jahrhundert.

Dennoch lässt sich die Entstehung des Gegensatzes von Natur- und Kulturwissenschaften bis auf den soeben besprochenen Zeitraum zurückverfolgen; denn Herder, der Erbe Vicos, welcher seinerseits dem cartesischen Wissenschaftsentwurf eine tiefgründige Geschichtsphilosophie entgegengesetzt hatte, erläutert in seiner Akademie-Abhandlung(18) seine These, dass der Mensch unter allen Geschöpfen der Natur das bedürftigste und hilfloseste sei, das eben darum durch die Sprache habe schadlos gehalten werden müssen. Herders kleine Schrift hat ihre unbestrittenen Meriten, löst sie doch die Frage des Sprachursprungs vorsichtig von einer engherzig-theologischen Perspektive wie der Süßmilchs, um zugleich die nicht minder einseitigen Theorien Condillacs und Rousseaus zu berichtigen. Wenn die Ideen einen religiösen Humanismus begründen, so hält der Ursprung der Sprache diese zwischen religiöser und profaner Betrachtung in der Schwebe. In der ältesten oder Ursprache der Menschheit, für Herder das Hebräische, waltet noch der Odem Gottes, so dass sie im Schriftbild keine Vokale, vielmehr nur Konsonanten setzen muss; zugleich erkennt der Denker die mannigfaltigen Alltagszwecke, denen die Sprache im Leben der schon ursprungsfernen Kulturmenschheit zu dienen hat. Herders Abhandlung ist mit einer eigenartigen Konzeption des Zusammenhanges von Instinkt, Sprache und Bewusstsein verknüpft. Den Spuren von Reimarus folgend, behauptet er, dass der Instinkt des Tieres sein Verhalten auf die maßgeblichen Lebenszwecke bündelt. Das Bewusstsein des Tieres, man kann als Beispiele an die ihr Netz webende Spinne oder den Nestbau des Vogels denken, ist in Triebe gediegen, man kann auch sagen, diese Tiere haben kein Bewusstsein. Wo die Konzentration des Instinkts auf die natürlichen Lebenszwecke ausfällt, wie Herder zufolge beim Menschen, öffnet sich ersatzweise die Weite des Bewusstseins. Es geschieht dies aber unter wesentlicher Mitwirkung der Sprache; denn das sprachliche Wort als Merkwort der Seele ermöglicht überhaupt erst die Bestimmung und Unterscheidung von Erfahrungsgegenständen. Herder hat über diesen Punkt eine reizende archaisierende Schäferidylle hinterlassen, die seinen zahlreichen Nachfolgern immer wieder Veranlassung geboten hat, sich den Ursprung der Sprache als eine typische vor- oder frühgeschichtliche Lebenssituation der ältesten Menschheit vorzustellen, doch besitzt eine solche imaginative Vergegenwärtigung der Sprachentstehung kaum heuristischen, umso weniger einen Erklärungswert.

Die Nachfolge Herders im 19. und 20. Jahrhundert ist nicht weniger bemerkenswert als das Werk des Denkers selbst. Wenn schon Kant an den Ideen Herders das naiv-phantastische Moment bemerkt und gerügt hatte, so führt der methodische Kantianismus W. v. Humboldts zu einer nachhaltigen Disziplinierung der Gedankenführung. Herder ist als Anthropologe bedeutender als Humboldt, aber diesem gebührt die Krone als Sprach- und Kulturphilosoph. Die Frage des Sprachursprungs tritt hinter die Sprachentwicklung und die Sprachstadien zurück, und das bloß poetische Interesse an exotischen Kulturen weicht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihren erhaltenen Sprachdenkmälern. Vor allem aber ist W. v. Humboldt, wie die seit 1830 entstehenden Entwürfe zur Einleitung in das Studium der Kawi-Sprachen unter Beweis stellen, der Schöpfer des energetisch-dynamischen Sprachbegriffs und einer der Vorläufer der im 19. Jahrhundert von den Brüdern Grimm, von Bopp und anderen initiierten vergleichenden Sprachforschung, die in der Indogermanistik zu hoher Blüte kommt. Zusammen mit Bachofen und Creuzer begründen Herder und Humboldt auch eine neue Perspektive auf den Mythos, in dem sich das kollektive Bewusstsein früher Kulturen niederschlägt.

Die ungeheure Wissensexplosion, die sich zwischen der Lebenszeit Herders und der der beiden Humboldt ereignet – das sog. Zeitalter der Entdeckungen fährt seine Ernte ein – schlägt sich im übrigen auch in der Tatsache nieder, dass der enge abendländische Erkenntnishorizont früherer Generationen nunmehr endgültig gesprengt wird; Schlegel, W. v. Humboldt und Schopenhauer rezipieren das Sanskrit, die geheimnisvolle Sprache des alten Indien, und der Entdeckerlust A. v. Humboldts vermag unsere Erde kaum zu genügen. Zu den ferneren Folgen der geistigen Wirksamkeit Herders und Humboldts gehört das Werk von Steinthal und Lazarus, von M. Müller und W. Wundt. Die neo-humboldtianische Sprachphilosophie der Gegenwart ist ein wertvolles Corrigens zeichentheoretischer Positionen, muss aber im übrigen, von einigen kraftvollen Gedanken Cassirers(19) abgesehen, als blasse Reprise gelten. Wenn ein Th. Litt,(20) auf Herder, Kant, Hegel und W. v. Humboldt aufbauend, in seinen späten Schriften zugleich dem Evolutionsprinzip als der geistigen Welt wesensfremd abschwört, so zeigt dies jene inzwischen erfolgte methodische Isolation der älteren Linie der Kulturwissenschaften auf, von der schon die Rede war.

Wenn man an der von Herder und W. v. Humboldt begründeten Tradition der Sprach- und Kulturphilosophie aus heutiger Sicht etwas zu beanstanden hat, so dies, dass die begriffliche Differenzierung von Natur und Kultur aus einer bloßen Subtraktion hervorgeht. Halten wir uns zur Verdeutlichung an Herders besonders durchsichtiges Denkmodell: Wenn der Mensch von Natur aus hilf- und schutzlos ist, so bedarf er der Einrichtungen der Kultur, um sich im Dasein zu halten. Die primäre oder physische Natur des Menschen, wir würden heute sagen, seine biologische Grundausstattung, wird also bestimmt, indem bestimmte Abstriche vom Maßstab uneingeschränkter Überlebensfähigkeit gemacht werden. Zugleich ist auch der Kulturbegriff wesentlich negativ bestimmt: Als sog. zweite Natur tritt sie in die Lücken jener ersten Natur ein. dass der Mensch von Hause aus insuffizient sei, ist eine typische Anschauungswahrheit, die man Herder seither unzählige Male nachgesprochen hat; ich verweise auf L. Bolk, O. H. Schindewolf, A. Portmann und A. Gehlen.(21) Diese mehr oder minder verdienstvollen Gelehrten einer anderen Generation werden auch heute noch immer wieder einmal bemüht, um die Stellung des Menschen im Kosmos als eine Sonderstellung zu begründen.

Und tatsächlich vermag auch die naturwissenschaftlich orientierte Evolutionsbiologie und Paläoanthropologie wahrscheinlich zu machen, dass die rezente menschliche Lebensform von verhältnismäßig wenig spezialisierten Vorfahren abstammt. Aber ein allgemeines bio-anthropologisches Formgesetz der Spezialisierung auf Unspezialisiertsein gibt es nicht. Wie andere biologische Formen auch, unterliegt der Mensch von jeher dem Anpassungsdruck der physischen Umwelt und damit dem Zwang zu gewissen Spezialisierungen. Die ihm abverlangte Anpassungsleistung kann dabei nicht allein auf der Orientierungsfunktion der sprachlichen Verständigung beruhen, die vielmehr erst in jüngeren Phasen der Menschheitsgeschichte eine führende Rolle übernimmt. Auch Darwin würdigt(22) die Rolle der sprachlichen Kommunikation, aber er versetzt sie als Teilfaktor in ein Ursachengefüge, in dem die Sexualität, die familiale Gruppenbindung, Rangunterschiede innerhalb der Horde und der Werkzeuggebrauch anfänglich eine größere Bedeutung für das Leben der noch primitiven Gemeinschaft besitzen. Die Sprache in den Rang einer Erstursache zu erheben, sie zum entscheidenden Entwicklungsvektor beim Übergang von der Naturgeschichte unserer Art zur Kulturgeschichte des modernen Menschen zu stilisieren, wäre ihm als abwegig erschienen.

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Ich komme nun zur Besprechung des zweiten der beiden Modelle, die es uns erlauben sollen, das Verhältnis von Natur und Kultur zu denken. Mit jeder neuen naturwissenschaftlichen Entdeckung von großer Tragweite stellt sich auch die Abgrenzung der Kulturwissenschaften in abermals verwandelter Form als Problem dar. Eine solche Entdeckung, oder vielmehr Folge von Entdeckungen, ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten die zunehmend genaue Umschreibung der biologischen Realität der Gene gewesen, die in der Genomsequenzierung erst kürzlich weitere Triumphe gefeiert hat. Ich werfe einen Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte dieses wichtigen Begriffs: Noch im 19. Jahrhundert spricht man von der Gene und der Mneme; beide Begriffe wollen die Erbsubstanz bezeichnen, die nicht selten zugleich als ein kollektives Gedächtnis gedacht wird.(23) Der Tatbestand des Gedächtnisses hat überhaupt für das ausgehende 19. Jahrhundert eine tiefe Faszination besessen, wie die Forschungen von E. Hering und R. Semon unter Beweis stellen; die philosophischen Positionen von E. v. Hartmann und H. Bergson sind eher noch forcierter. Die ältere Biologie gelangt dazu, die Gene mit den Erbmerkmalen gleichzusetzen; diese wie jene werden aber als Wirkungseinheiten des Lebensgeschehens nur postuliert, um die bekannten Tatsachen der Züchtungsexperimente und die Beobachtungen erbbiologischer Forschungen erklären zu können. Diesen postulatorischen Status verliert der Begriff der Gene erst, nachdem Watson und Crick die sog. Doppelhelix strukturell entziffert haben und eine Niederschrift des Genoms von verschiedenen biologischen Arten in Angriff genommen werden kann.

Damit tritt auch der oben beschriebene Effekt ein, dass dem Begriff der Gene Erklärungswert auch in Forschungsfeldern zugeschrieben wird, welche der Biologie, d. h. der Evolutions- und Molekularbiologie fern zu stehen scheinen. Weit davon entfernt, nur als ein sog. theoretischer(24) Term begriffen zu werden, dessen Gleichsetzung mit der biologischen Realität unter restriktiven Interpretationsvorbehalten steht, tritt das Gen oder vielmehr das Genom als die Gesamtheit der Gene einer Art nicht nur im populärwissenschaftlichen Schrifttum der Zeit als eine selbsttätige Wirkungseinheit des Lebensgeschehens auf. Nun sind Versuche in dieser Richtung nicht ganz neu: Bereits T. H. Huxley, dann J. Huxley(25) und C. H. Waddington(26) wollten aus der Biologie Darwins und seiner Nachfolger so etwas wie eine evolutionäre Ethik extrapolieren, deren inhaltliche Bestimmung einen Voraussageschluss über die künftige Kulturentwicklung ermöglichen würde. Und auch die jetzt näher zu charakterisierenden Positionen treten mit dem Anspruch auf, zugleich die Triebfedern der Evolution, die unveränderlichen Züge der menschlichen Natur und die Richtung unserer kulturellen Weiter- und ggf. Höherentwicklung zu bestimmen.

Ich darf einen ganz besonders radikalen Ansatz, der mit R. Dawkins Werk über das egoistische Gen(27) verknüpft ist, beiseite lassen, um mich statt dessen auf die moderate Position von E. O. Wilson zu beziehen. Dieser hat in einem Aufsehen erregenden Werk(28) die These vertreten, dass der alte Streit um das Ausmaß der genetischen Determinierung menschlichen Verhaltens nunmehr entschieden sei, und zwar steht für ihn außer Frage, dass diese außerordentlich weitreichend sei und anderen Faktoren wenig Spielraum lasse. Vor dem Hintergrund dieser These entwirft Wilson ein Bild der menschlichen Natur, in dem deren wohlbekannte Konstanten, wie die sexuelle Partnerbindung, die Aggressionsneigung und der Altruismus, aber auch kulturelle Einrichtungen wie Sprache, Mythos und Religion in neuer Beleuchtung gezeigt werden. Eine Konzeption wie diese muss in Deutschland und Europa noch immer mit dem Einwand und Vorwurf des Biologismus rechnen, den auch der Verfasser dieser Zeilen ausdrücklich in Rechnung stellen will. Und doch ist die damit angedeutete Kritik oberflächlich und sogar kurzschlüssig. Denn wer mit Wilson in den Genen die maßgebenden Wirkungseinheiten des Lebensgeschehens erblickt, spricht sich ebenso wenig für den traditionellen Natur- wie gegen den traditionellen Kulturbegriff aus. Die Gene oder vielmehr das Genom stellen eine Realität dar, die jenseits dieser überlieferten Alternative steht, und insofern hat Wilson vollkommen Recht, wenn er den Anspruch erhebt, das Studium menschlichen Verhaltens auf eine neue Grundlage zu stellen. In der Wortverbindung Soziobiologie hat der erste Bestandteil des Nominalkompositums kein geringeres Gewicht als der zweite.

Das Problem, das sich für Wilson und verwandte Denker stellt, ist vielmehr das folgende. Wie jeder theoretische Term, so muss auch der des Gens oder des Genoms auf die anschaulich- unmittelbare Wirklichkeit zurückbezogen werden, um Erklärungswert zu erlangen. Erst die Genexpression übersetzt den Genotyp in den Phänotyp als eine uns unmittelbar greifbare Wirklichkeit, und dann stellt sich die weitere Frage, welche Faktoren hinzutreten müssen, damit sich ein Gen innerhalb der Population erhält und ausbreitet. Ein Bekenntnis zur dominierenden Rolle des Gens oder Genoms im Lebensgeschehen ist demzufolge wissenschaftlich wertlos, solange dieser Fragenkomplex ungeklärt bleibt. Darum entwirft unser Denker eine synthetische Konzeption, die außer der Evolutions- und Molekularbiologie weiterhin die mit mathematisch-statistischen Methoden operierende Populationsgenetik, aber auch, wenn ich mich an die geläufigen deutschen Bezeichnungen der Wissenschaftszweige halten darf, die Individual- und Sozialpsychologie sowie die Soziologie mit einbezieht. Zugleich erkennt er das Dilemma, dass die Wisssenschaft dem Glauben an eine transzendente oder spirituelle Vorbestimmung des menschlichen Schicksals fortlaufend den Kredit entzieht, dass aber ohne einen solchen Glauben die Kulturentwicklung nicht auf ihrer bisherigen Höhe zu halten ist. So reiht sich auch Wilson in die Reihe der Autoren ein, die ihre Stimme erhoben haben, um vor einem zivilisatorischen Niedergang in naher Zukunft zu warnen; ich erinnere nur an A. Portmann, K. Lorenz, P. A. Weiss oder W. Thorpe.(29)

Das Zusammenspiel wissenschaftlicher und philosophischer Denkmotive sei an einem Beispiel gezeigt, das vielfach als Prüfstein der soziobiologischen Doktrin aufgefasst wird, nämlich der Erklärung des altruistischen Verhaltens. dass die Sympathie ein Bindemittel des gesellschaftlichen Lebens sei, ist in der Philosophie ein Gemeinplatz von großer Verbreitung, man findet ihn in leicht variierendem Wortlaut ausgesprochen von Denkern wie Hume, Rousseau und Herder. Wilson knüpft bereits in der Titelgebung seiner Schrift, die er ausdrücklich als einen spekulativen Essay verstanden wissen will, an Humes Treatise an, die maßgebende und heute erst recht wieder aktuelle Programmschrift einer natürlichen Psychologie des menschlichen Geistes. Da der Egoismus ein unveräußerlicher Bestandteil der menschlichen Natur ist, der gerade in Extremsituationen immer wieder unverhüllt in Erscheinung tritt, hatte Hume es für erforderlich gehalten, eine Gruppe geselliger Affekte zu bestimmen, welche den Egoismus zu mildern vermögen, und er hat diese auf das sanfte Mitgefühl zurückgeführt.(30) wie unsere maßgebliche deutsche Übersetzung formuliert. Darwin wiederum erkennt im Descent of Man dass es außer der Aggression und der sexuellen Partnerbindung eine weitere Gefühlsquelle geben müsse, welche dem Aufbau größerer Gemeinschaften diene, aber er vermag mit den ihm zur Verfügung stehenden Denkmitteln keine Bestimmung und Ableitung derselben zu geben. Bergson wirft die Frage auf,(31) wie der Sprung von der Selbstliebe zur Vaterlandsliebe und endlich zu einer mystischen Vereinigung mit Gott oder der Menschheit als ganzer geschehen könne, und auch er resigniert ihr gegenüber.

An diesem Punkte setzt die Wilsonsche Soziobiologie ein, wenn sie zur Diskussion stellt, wie Altruismus (Mitleid, Mitgefühl) überhaupt möglich sei, da doch die Träger dieser Eigenschaft sich im Gang der Evolution selbst unvermeidlich auslöschen. Die Auflösung dieses wie auch einer Reihe verwandter Probleme liegt in der Theorie der kin selection (Verwandtschaftsselektion), auf deren exakte Darstellung hier verzichtet werden muss, da sie die Handhabung mathematischer Modelle und Methoden voraussetzt, die nicht nur den Rahmen dieser Darstellung sprengen, sondern auch die Kompetenz des Vortragenden überschreiten. Eine Andeutung in qualitativer Formulierung muss genügen: Jeder Art kann nach soziobiologischer Auffassung der ihr gemäße Ort in einem Spektrum zugewiesen werden, dessen Pole durch den Egozentrismus und den (echten und scheinbaren) Altruismus gekennzeichnet werden. Das menschliche Individuum etwa ist vorwiegend egozentrisch auf seinen Interessenkreis bezogen, so dass die Erweiterung des Gefühlslebens auf die Gruppe einer besonderen Unterstützung bedarf, wie schon Hume, Darwin und Bergson erkannten. Diese Unterstützung beruht nun aber nach soziobiologischer Lehrmeinung nicht in einer Überhöhung der geselligen Affekte durch Ethik und Religion, sondern in dem Selektionsvorteil, den die Verwandten eines Eigenschaftsträgers durch diesen haben. So muss dieser Selektionsvorteil je nach den feststellbaren Artmerkmalen der Form entweder vorwiegend auf das Individuum oder aber auf die Gesamtpopulation und ihre Untereinheiten bezogen werden. dass etwa die Vaterlandsliebe oft bloß ein verkleideter Gruppenegoimus oder Ethnozentrismus sein kann, ist eine geschichtlich reich beglaubigte Beobachtung.

Ich will meine Schilderung an dieser Stelle abbrechen, um abschließend nur noch einem kritischen Gedanken Raum zu geben. Wir erkennen zunächst, dass von einer Verabschiedung traditionellen kulturphilosophischen Gedankenguts durch die Soziobiologie keine Rede sein kann. Vielmehr führt diese eine Linie des Denkens fort, die in Hume entspringt und deren programmatische These einer natürlichen Psychologie des menschlichen Geistes durch verwandte Denker bis auf die unmittelbare Gegenwart fortgeführt wird. Das angekündigte kritische Bedenken lässt sich in der Frage aussprechen, ob dem Begriff des Gens oder Genoms zuviel aufgebürdet wird, wenn er gewissermaßen als Akteur auf der Bühne des Lebensgeschehens auftreten soll. Anhänger einer zünftigen Wissenschaftstheorie werden wohl hinzufügen, dass es einen Anthropomorphismus darstelle, diese biologischen Wirkgrößen mit einer solchen Rolle auszustatten, und die Befürworter der Soziobiologie werden vielleicht antworten, es handele sich nur um metaphorische Umschreibungen einer biologischen Realität, die ihren ungeschminkten Ausdruck in einem mathematischen Formelwerk finde. Über die Berechtigung dieser Einwände und Gegeneinwände ist am gegebenen Ort nicht zu entscheiden. Es wäre aber nicht das erste Mal, wenn eine Metapher sich zur wissenschaftlichen, d. h. wörtlichen Wahrheit fortentwickelte.

Wir können vielleicht zu dem folgenden vorläufigen Gesamturteil kommen: Der als Soziobiologie bekannt gewordene Vermittlungsversuch von Biologie und Kulturwissenschaft folgt einem legitimen wissenschaftstheoretischen Opportunitätsprinzip, wenn er die als grundlegend angesehene biologische Begriffswelt nach Bedarf durch psychologische, soziologische, ethnologische oder anthropologische Erklärungsgesichtspunkte ergänzt. Wie das Beispiel des altruistischen Verhaltens zeigt, erliegt er dabei zugleich tendenziell einer naiven Anthropomorphisierung des Untersuchungsgegenstandes, durch welche dessen erstrebte Szientifikation unterlaufen wird. Der Grund hierfür ist in der Anknüpfung an die Hume’sche Moralpsychologie zu erblicken, d. h. in der doppeldeutigen Verwendung des Sympathiebegriffs als moralpsychologisches Prinzip und als heuristisch-strategischer Gesichtspunkt für die Auffindung adäquater Erklärungen. Demgegenüber hat die große Soziologie eines Marx, Weber, Durkheim oder Pareto immer erkannt und anerkannt, dass wissenschaftlich erklärtes menschliches Verhalten die Qualität der Einfühlbarkeit verliert.

Anmerkungen

  1. J. Dewey, The Influence of Darwinism on Philosophy, in: ders., The Influence of Darwin on Philosophy, New York 1910.
  2. C. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859.
  3. C. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, London 1871.
  4. Als Gesamtüberblick über die im Text nur angedeutete Ideengeschichte der Biologie zu empfehlen: E. Mayr, The Growth of Biological Thought, Cambridge/Mass. 1982; deutsch unter dem Titel: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin/Heidelberg 1984). Vorwiegend die ältere Biologie behandelt instruktiv: I. Jahn, Geschichte der Biologie, Jena 1982 und öfter.
  5. T. Dobzhansky, Genetics and the Origin of Species, New York 1937; dt.: ders., Die genetischen Grundlagen der Artbildung, Jena 1939.
  6. J. Huxley, Evolution, the New Synthesis, London 1942.
  7. G. G. Simpson, The Meaning of Evolution, New York 1949; dt.: ders., Zeitmaße und Ablaufformen der Evolution, Göttingen 1951.
  8. E. Mayr, Systematics and the Origin of Species, New York 1942. Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt.
  9. J. D. Watson, The Double Helix, London 1968.
  10. S. Butler war zunächst ein glühender Verehrer Darwins, um wenig später im Gegensatz von Lebendigem und Mechanischem sein anti-darwinistische Motiv zu finden.
  11. E. v. Hartmann, Wahrheit und Irrtum im Darwinismus, Berlin 1875.
  12. H. L. Bergson, L’Évolution créatrice, Paris 1907; dt: ders., Die schöpferische Entwicklung, Jena 1912.
  13. M.-J. P. Teilhard de Chardin, Le phénomène humain, Paris 1955; dt: ders., Der Mensch im Kosmos, München 1959.
  14. So etwa in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 – 1791), woselbst er das Wachstum der Kulturen mit einem Baum vergleicht, der sich aus einer Wurzel entfaltet, eine Krone aufweist und eine Vielzahl von Ästen, Zweigen und Blättern hervorbringt. Das von Herder mehrfach abgewandelte Bild deutet darauf hin, dass er an einen einmaligen Kulturursprung glaubte, wie er auch einen monophyletischen Ursprung des Menschengeschlechts annahm.
  15. W. V. Humboldt, Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820/21), sowie ders. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts (1836). In diesen bedeutenden Dokumenten der Sprachphilosophie entfaltet Humboldt den Gedanken, dass die Sprachen von einer energetisch-dynamisch wirksamen Geisteskraft hervorgerufen werden und die Natur eines Organismus besitzen.
  16. A. v. Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845 – 1862). Das Werk verdichtet Kosmologie, physische und Kulturgeographie, physische und philosophische Anthropologie zu einem Gemälde der Kulturmenschheit und ist eine Vorwegnahme des Evolutionsgedankens.
  17. H. R. Lotze, Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Leipzig 1856.
  18. J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772.
  19. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923 – 1929), nimmt die Gedanken Herders und Humboldts, daneben die Erkenntnisse der Ethnologie und Linguistik des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf, um die symbolischen Formen (Sprache, Mythos, Magie, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte und Technik aus einem primären Ausdrucksverhältnis zu entfalten.
  20. Th. Litt, Mensch und Welt, München 1948.
  21. A. Gehlen, Der Mensch (1940), führt die Ergebnisse der damaligen philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner) mit ausgewählten biologischen Erkenntnissen (Bolk, Schindewolf) zusammen in einer Lehre vom Menschen als Mängelwesen. Die ideologische Befangenheit des Autors gebietet heute Zurückhaltung gegenüber Person und Werk dieses Autors; er kann jedoch als Lehrbeispiel dafür dienen, dass eine Isolierung gegenüber der naturwissenschaftlichen Biologie, etwa dem Darwinismus, ebenso zu dogmatischer Verblendung führen kann wie die leichtfertige Extrapolation biologischer Erkenntnisse auf den kulturwissenschaftlichen Bereich.
  22. C. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, (1871), Schlußabschnitt: General Summary and Conclusion.
  23. Neben der philosophischen Spekulation Bergsons und E. v. Hartmanns und den wissenschaftlichen Forschungen E. Herings ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen: R. W. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904. Semon ist so etwas wie ein lamarckistischer Darwinist gewesen, d. h. er stand etwas unschlüssig zwischen den Grundpositionen seiner Zeit. Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Ironie, dass ein Forscher wie E. O. Wilson heute in der sog. Mem-Theorie Auffassungen vertritt, die, nicht nur terminologisch, eine gewisse Verwandtschaft mit Semon nicht verleugnen.
  24. T. H. Huxley, Evidence as to Man’s Place in Nature, London 1863.
  25. Sowohl T. H. Huxley (1893) als auch J. Huxley (1946) hielten eine sog. Romanes-Lecture, in der die Aussichten einer Ethik auf biologischer Grundlage untersucht wurden. Vgl. J. Dewey, Evolution and Ethics, The Monist 8 (1897/98).
  26. C. H. Waddington, The Ethical Animal, London 1961.
  27. R. Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1976.
  28. E. O. Wilson, On Human Nature, Cambridge (Maß.) 1978; dt. ders., Die soziobiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens, Frankfurt 1978.
  29. Vgl. hierzu P. A. Weiss (Hg.), Knowledge in Search of Understanding. The Frensham Papers, New York 1975. Außerdem: E. Jantsch und C. H. Waddington (Hg.), Evolution and Consciousness. Human Systems in Transition, London 1976.
  30. D. Hume, Concerning the Principles of Morals, in: ders. Philosophical Works, hg. von T. H. Green und T. H. Grose, London 1882, Bd. 4, S. 167 – 287.
  31. H. L. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion, Paris 1932, dt.: ders., Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Jena 1933.

Der Autor

Dr. Karl-Friedrich Kiesow ist Akademischer Rat an der Leibniz Universität Hannover und lehrt Philosophie. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt: Whitehead und die Whitehead-Nachfolge (Hartshorne, Northrop, Weiss, Langer, Emmet, Grene).

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ISSN 1437-3777