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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Was es heisst, Künstler zu sein.

Charles-Edouard Jeanneret-Gris gen. Le Corbusier:
La Cité Radieuse, Briey-en-Forêt, Lothringen, Frankreich.
Beton und andere Materialien, 1959-1961.

Was es heisst, Künstler zu sein?

Offenkundig versagen ästhetische Massstäbe in der Beurteilung. Sie beziehen sich auf Einzelwerke, nicht auf Personengruppen, zumal Zeiten und Geschmäcker sich ändern. Besser ist das: "Als Künstler gilt jene Person, die in einer beliebigen Gruppe von Personen einen Künstler ersetzen kann." Eine Definition durch Substitution. Die Bildung funktionaler Klassen und Paradigmen. Einerseits wird die Beziehung einer Person zu einer Gruppe angesprochen. Andererseits verweist "ersetzen" auf Beziehungen zwischen Ersetzendem und Ersetztem. Nur auf die Beziehung kommt es an. Nicht auf die Personen und nicht auf die Werke.

Sprechen wir von "Menschen". Das ist unverfänglicher, weniger politisch. Nur noch wenige Vereigenschaftungen bleiben übrig. Jemand ist Mensch, männlich, Künstler, kann ersetzen. Komplex und generalisierend: nur jemand, der nur durch einen Künstler ersetzt werden kann, ist ein Künstler. "Als Künstler gilt, wer in einer Menge von Menschen einen Künstler ersetzen kann." Noch einfacher: "Als Künstler gilt, wer als Künstler gelten kann."

Charles-Edouard Jeanneret-Gris gen. Le Corbusier:
La Cité Radieuse, Briey-en-Forêt, Lothringen, Frankreich.
Beton und andere Materialien, 1959-1961.

"Mensch-Sein" und "Mann-Sein" tragen nichts bei zu unserem Verständnis des "Künstler-Seins". In anderen Zusammenhängen, vielleicht, aber nicht für uns. Ähnlich verhält es sich mit der komplexeren Aussage. Hier könnte man auch über Fussballerinnen reden, weil hier nur etwas über nicht weiter qualifizierte Identitäten auf notwendiger und hinreichender Bedingung gesagt wird. Dass ein Künstler einen Künstler ersetzen kann, heisst, dass es eine oder mehrere klassifikatorische Eigenschaften eines Ersetzenden gibt, die ihn in eine funktional gleichberechtigte Beziehung zu einem Ersetztem bringt. So wie den Priester in der Beichte. Den kann man hinsichtlich der Beichte ja auch durch einen anderen ersetzen.

Die Klassifikation - die Würdigung? - eines Menschen als Künstler sollte nicht durch Beschreibungsinhalte zu seinen Werken erfolgen. Künstlerin ist eine Person nicht durch die eigene verfertigte Kunst in unterscheidbaren Produkten, denn dann wäre sie nicht ersetzbar und würde auch nicht der Klasse aller übrigen Künstlerinnen zugehören, auf die das Merkmal "Künstlerin" zuträfe. Unterscheidende Distinktion und klassifikatorische Zusammenfassung schliessen einander aus. Wenn Friedrich Nietzsche schreibt, das künstlerische Denken gestalte das Urprinzip zufälligen, gar widersprüchlichen Werdens und Vergehens, so legt seine Kunstphilosophie Kunst und Künstler generalisierend fest, versucht mithin Einfluss auf die Distinktion der Kunstwerke zu nehmen.

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La Cité Radieuse, Briey-en-Forêt, Lothringen, Frankreich.
Beton und andere Materialien, 1959-1961.

Wir suchen also eigentlich immer wieder die ausserkünstlerische Definition der Kunst. Hier helfen z.B. Tasos Zembylas' Betrachtungen über "Kunst oder Nichtkunst: Über Bedingungen und Instanzen ästhetischer Beurteilung", aus dem Jahr 1997, mit Analysen zum Phänomen "Kunst" in Jurisdiktion, Akademien, Museen, Kunstmarkt, Presse. Durch den ausserkünstlerischen, aber doch konkreten Umgang mit ihr soll "Kunst" definiert werden.

Ich meine dieses: erklärt eine Kritikerin ein Werk und begründet sie, warum jenes ein Kunstwerk sei, so liegt die Berechtigung zu dieser Beurteilung nicht im Werk oder in dessen qualitativer Ausgestaltung oder etwa im Begründungsinhalt der kritischen Argumentation, und auch nicht im Genie des Künstlers. Die durch die Kritikerin vorgenommenen Vereigenschaftungen "Künstler" und "Kunstwerk" finden ihre Berechtigung vielmehr im Begründungsakt, in dem sie das Werk als ein Kunstwerk behandelt. Andere Instanzen, die Werke als Kunstwerke behandeln, sind der Künstler selbst, Kuratoren, Galerien, Auktionshäuser, Restauratoren, und sogar politische Verbrecher. So mussten z.B. am 10.05.1933 selbst die "Feuersprüche" der Nazis verbrannten Werken einen Status von "Schriften" zugestehen - nicht etwa den blöder Buchstabenhäufungen zu Kakotypien in Blei. Immerhin standen in ihrer Sicht jahrzehntelang gehandelte und verhasste Grundlagen der Weimarer Republik zur Disposition.

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Beton und andere Materialien, 1959-1961.

Woran orientiert sich aber der klassifikatorische Vollzug der Behandlung eines Werkes als Kunstwerk? Ernsthaftigkeit ist jedem Vollzug einer Handlung in Graden enthalten. Ernsthaftigkeit, unabhängig davon, welche Handlung zu welchem Zweck wann, wo, wie vollzogen wird. Ernsthaftigkeit wirkt auch im Humor. Ernsthaftigkeit ist nicht zu verwechseln mit Pathos, Stimmung, Gravität. Ernsthaftigkeit gibt es auch im lustigen Spiel der Kinder. Ernsthaftigkeit bezeichnet das Hervortreten eines Handlungsgrundes um seiner selbst willen und gegenüber anderen, weiteren Motiven. Damit gilt für uns Ernsthaftigkeit als ein Massstab der Praxis als Handeln um seiner selbst willen, ohne einen äusseren Zweck. Im Gegensatz zum Verfertigen eines Dinges äussert sich in der Praxis das richtige Urteils- und Unterscheidungsvermögen des Menschen im erwachsenen Verhältnis zur Welt. In der Praxis liegt eine sich selbst hinterfragende menschliche Haltung, die sich auf einen glückenden Lebensentwurf bezieht. Das ist der Tenor des Aristoteles in seiner "Nikomachischen Ethik" (VI) und in der "Metaphysik" (1049b 24f). Nun gut, Aristoteles war Individualethiker, und zum glücklichen Lebensentwurf für einen Sklaven gehörte seiner Meinung nach, das Sklave-Sein ernsthaft-gründlich-trefflich auszufüllen, was in heutigen moralischen Bezügen töricht und herzlos ist. Der Kontext des Aristoteles spielt in unserem Konzept einer durch Rechte anderer bestimmten individuellen Freiheit glücklicherweise keine Rolle mehr. In Europa. Im Schengener Raum. Jedenfalls in den meisten Städten. Mindestens aber in der Familie. In uns selbst?

Angesichts dieses moralischen Konzeptes bedeutet die Herstellung einer Sache, eines Stuhls, keine Abwertung. Schliesslich braucht die sittliche Praxis jene produzierende Poiesis zur Sicherung gelingender Lebensumstände. Der praktisch Handelnde bezieht die planende Klugheit auf das Handeln selbst, um mit dem Handeln auch weitere, andere Ziele erreichen zu können. In einer Skulptur minderwertiges oder unpassendes Material zu verwenden, so wie Antoine Brisebard (alias Louis de Funès) in "Jo" (dt. "Hasch mich, ich bin der Mörder"), ist nicht nur ungenügende Kunstfertigkeit, sondern zeugt auch von einem schlechten sittlichen Verhältnis zur Welt. Nach einiger Zeit steht man vor einem trüben Horizont ungünstiger Handlungsmöglichkeiten. Weshalb Toneletti, der Beton-Entrepreneur (alias Michel Galabru), am Ende an moralischen Ansprüchen scheitert. Und zielt die Verfertigung einer Sache nur darauf, so zu tun, als handele man um seiner selbst willen, so täuscht man andere und das Kriterium der Ernsthaftigkeit wird verletzt.

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Beton und andere Materialien, 1959-1961.

Ernsthaftigkeit und der klassifikatorische Akt der Behandlung eines Werkes als Kunstwerk sind auf den ersten Blick voneinander unabhängig. Z.B. kann ein Kurator offenbar unernsthafte Werke ausstellen und diese damit ernsthaft als Kunstwerke behandeln. So werden Flaschentrockner zu Kunstwerken. Allerdings liegt in unserem Beispiel der Handhabung der Werke als Kunst eine bestimmte Ernsthaftigkeit zugrunde, die schon im Ausbildungsgang des Kurators angelegt war. Natürlich muss man solche Aspekte der finanziellen und ideellen Aufwendung auch auf Künstler beziehen. Die schiere Zahl klassifikatorischer Akte ist ein weiterer Indikator für Ernsthaftigkeit im Umgang mit einem Werk, das damit zum Kunstwerk wird. Und alle die Akte symbolischer Aneignungen von Kunst in Ausstellungen und Katalogen. Und die Grade finanzieller Bestätigung. Ernst wird es bestimmt beim Bezahlen. Ernsthaftigkeit und die klassifikatorischen Bestimmungen eines Menschen als Künstler hängen also durchaus zusammen. Jeder klassifikatorische Umgang mit dem Werk kann als indikativer Beitrag zur eigenen Ernsthaftigkeit gelten.

"Als 'Künstler' gilt, wen man ernsthaft als solchen behandelt."

Charles-Edouard Jeanneret-Gris gen. Le Corbusier:
La Cité Radieuse, Briey-en-Forêt, Lothringen, Frankreich.
Beton und andere Materialien, 1959-1961.

Randnotiz: Ziel einer Kunst- oder Kulturpolitik wäre demnach gesteigerte Ernsthaftigkeit im Umgang mit Werken als Kunstwerken. Und mit Schaffenden als Kunstschaffenden. Um wiederum Indikatoren von Ernsthaftigkeit zu schaffen, die diese Politik bestätigen. Kunst ist immer Selbstzweck, praktisches Handeln, Handeln um seiner selbst willen. Das Gegenteil hiesse, dass verminderte Kulturpolitik ihre eigene verminderte Ernsthaftigkeit anzeigte, und damit die Behandlung der Kunst um anderer Ziele als derer ihrer selbst willen. Kunst wäre instrumentalisiert, brächte nur noch - austauschbare - Mittel zu eigentlichen Zwecken. Ein Trost: die Ernsthaftigkeit Kunstschaffender sollte das alles eigentlich nicht berühren. Ein frommer Wunsch. Auch für jene bedeutet die Infragestellung der Ernsthaftigkeit ein Scheitern als Künstler.

Die Anregung zu diesem Text verdanke ich der Kunsthistorikerin Christin Markovic vom Paul-Klee-Zentrum in Bern. Die vorliegende Fassung folgt in grossen Teilen der Erstveröffentlichung im Magazin s/w visarte.bern, Nr. 1/2008, unter dem Titel "The importance of Being Artist". Zur visarte.bern siehe Link.

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