Werner Brück: Kunst als Weltdienst in der Entbergung des Schöpfungsgedankens. Die Position eines katholischen Erzbischofes.
Kontroverse Predigt mit Klärungsbedarf
Immer wieder beschäftigt uns die Frage nach der wesensmässigen Bestimmung von Kunst bzw. was Kunst zu leisten im Stande sein soll. Die folgenden Zeilen betrachten eine katholische Position, die des Erzbischofs von Köln.
Am 14.09.2007 predigte Joachim Kardinal Meisner im Hohen Dom zu Köln zur Einweihung des Diözesanmuseums Kolumba. Im Vortrag fielen in der Gegenüberstellung von "profan" und "sakral" sowie "moderner und alter Kunst" die Vokabeln "Entartung", "Ritualismus" und die Metapher vom "Verlust der Mitte".(1) Das Medienecho war enorm. Man fühlte sich angegriffen. In die Medienstimmen mischten sich politische Stimmen. In der Folge sah sich die Pressestelle des Erzbistums Köln schon innerhalb der folgenden 24 Stunden, am nächsten Tag, dem 15.09.2007, dazu veranlasst, des Kardinals Bedauern kundzutun,(2)
"dass durch die aus dem Zusammenhang gerissene Missinterpretation eines einzelnen Wortes die Schönheit einer seit Jahren mit Freude erwarteten Feier überschattet worden sei ... Zugleich ist er entsetzt darüber, dass sein gesellschaftlicher Appell, den Bezug zu Gott zu bewahren, durch reflexhafte Unterstellungen zunächst einzelner Personen in der Öffentlichkeit völlig verzerrt worden sei. Es ist nach seiner Überzeugung die unbedingte Pflicht eines Bischofs, gerade bei der Eröffnung eines kircheneigenen Kunstmuseums an die engen Beziehungen zu erinnern, die zwischen Kultur und Gottesverehrung (Kultus) bestehen sollen. Genau dies habe er in seiner Predigt mit dem Satz tun wollen: ‚Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus und die Kultur entartet.‘ Mit ‚Kultur‘ bezeichnet er dabei die gesamten Lebensäußerungen einer Gesellschaft, nicht nur den ‚Kulturbetrieb‘. Er wiederholt damit, was er bei vielen Gelegenheiten nicht müde wird zu betonen: Ein entgöttlichtes Zusammenleben der Menschen degeneriert zur totalitären Unkultur, weil ohne Gott die Maßstäbe des Menschlichen fehlen. Die Äußerung des Kardinals wendet sich also weder gegen bestimmte Kunstformen, Kunstwerke oder Künstler, noch will sie irgendjemanden diskreditieren oder gar diffamieren."(3)
Nun, da einige Monate vergangen sind, trifft der Vorwurf des Reflexhaften nicht mehr. Die Stellungnahme der Pressestelle des Erzbistums selbst bezeichnet das Zusammenleben in entgöttlichter Weise als Degeneration zur totalitären Unkultur(4) - die Pressestelle des Erzbistums sah sich darüber hinaus auch dazu veranlasst, die Verwendung des Begriffes der "Entartung" zu relativieren:
"Die Unterstellung, er habe sich durch die Verwendung eines von Nationalsozialisten missbrauchten Begriffs deren Sprache zu Eigen gemacht, weist Kardinal Meisner zurück. Sobald die kritisierte Aussage im Gesamtzusammenhang der Predigt gesehen werde, könne ein solcher Vorwurf nur als absurd bezeichnet werden, zumal ihm die Ideologie und das Kunstverständnis der Nationalsozialisten völlig fern liegen."(5)
Das vorstehende Zitat bedeutet, dass der Begriff der "Entartung" faktisch nicht tabu zu sein habe, bloss weil die Vokabel von Nationalsozialisten missbraucht wurde. Wer sich über den Begriff der "Entartung" informieren möchte, kann diesen bzw. seine wörtliche lateinische Übersetzung "Degeneration" schon vor der Zeit der Nationalsozialisten finden, vor allem in psychiatrischer Hinsicht auf Debilität und Degenereszenz, dann aber auch 1884 durch den Zionisten Max Nordau in Bezug auf die Kunst und die "conventionellen Lügen der Kulturmenschheit".(6) Auf die historische Dimension wollen wir nicht eingehen, weil die Verwendung des Begriffes der "Entartung" praktisch-moralische Implikationen einleitet, die für den theoretischen Kunstbegriff Meisners in erster Linie unwesentlich sind und erst später eine Rolle spielen, weshalb ich mich erst im letzten Abschnitt dieser Ausführungen darauf beziehen werde. Will Meisner aber "entgöttlicht" zusammenlebende Menschen als "verrückt", "schwachsinnig", "conventionell verlogen" bezeichnen, als Träger einer "totalitären Unkultur"? "Ein entgöttlichtes Zusammenleben der Menschen degeneriert zur totalitären Unkultur".(7) Was hat Meisner zufolge als positiver Inhalt des Entartungsbegriffes zu gelten? Gibt es diesen, und damit eine Bestimmung und Berechtigung von Kunst und Kultur ohne Gott? Oder beabsichtigt der Kardinal - entgegen seiner Erklärung - Abgrenzung, Negativierung? Es ist wichtig, die einzelnen Begriffe "entgöttlicht", "Unkultur", "Kunst", "Kunstwerk", "Künstler" usf. zu trennen.
Reden in Bildern und über Bilder - vor allem über das Bild vom Menschen
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es für einen gläubigen Katholiken nicht angehen kann, Gott durch einen atheistischen Humanismus oder durch republikanische Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ersetzt zu sehen. So führte der Kardinal in Castelgandolfo am 12.09.2003 anlässlich des Kongresses von "Kirche in Not"(8) über das Thema "Das Erbe von Pater Werenfried van Straaten" aus:
"Wenn der Mensch das Bild Gottes verliert, so verliert er auch sein eigenes Bild. Dort, wo es keinen Gott gibt, dort gibt es auch keinen Menschen. Der atheistische Humanismus lässt das menschliche Wesen verblassen."(9)
Meisner bezieht sich auf den Nationalsozialismus, den Stalinismus, den Maoismus usf. Historisch gesehen könnte man das m.E. aber auch auf ein Konzept eines Albert Camus zu sprechen kommen, der in seinem 1947 erschienenen Roman "Die Pest" nach der "conditio humana" in Zeiten umfassend erfahrener Theodizee fragen möchte. Es gilt für Meisner, das kulturbestimmende Primat der Religion zu sichern, obgleich Camus für den einen oder den anderen lebenswerte Alternativen anzubieten versteht und der atheistische Humanismus, z.B. in Gestalt des französischen Existentialismus, aufbauend auf einer Art Phänomenologie, die intellektuelle Jugend Europas begeisterte.
Im Umgang mit der Sicht auf den Menschen, auf sich selbst, unterscheiden sich jedoch Existentialisten von Kirchenmännern. Kardinal Meisner macht das eigene Bild des Menschen, die Vorstellung von sich selbst, vom Verständnis und damit vom Bild von Gott abhängig. Dem Menschen sei es wesentlich, zusammen mit Gott zu existieren. Was das heisst, hat der mittelalterliche Scholastiker Thomas von Aquin (1225-1274) gezeigt. Thomas‘ Bildbegriff wurde 1991 von dem Wiener Philosophen Günther Pöltner untersucht, dessen Ausführungen wir hier heranziehen und wiedergeben wollen, weil sie die Verhalte gut formulieren.(10)
Grundsätzlich kann man nach Günther Pöltner bei einem Bild fragen, ob es sich um ein Abbild handelt oder um das Erscheinen von etwas "Ursprünglichem". Zum Bild als Abbild schreibt Pöltner:
"Thomas geht von dem gewöhnlichen Bildverständnis aus, wonach das Bild ein Abbild oder Nachbild (imitatio) ist ... Das Dargestellte ist das Vorbild oder Urbild (exemplar), die Darstellung ist das Abbild".(11)
Zum Bild als Erscheinen von etwas Ursprünglichem hingegen sei Thomas und Günther Pöltner zufolge am Beispiel eines Kindes in Relation zum Vater festzuhalten:
"Nicht in irgendwelchen Eigenschaften, die das Kind mit seinen Eltern gemeinsam hat, entbirgt sich die Elternschaft, vielmehr ist das Sein des Kindes die Erschlossenheit der Eltern als Eltern. Auf das Dasein des Kindes muß geblickt werden, wenn das Sein der Eltern gesichtet werden will!"(12)
Günther Pöltner schreibt weiter zur Repräsentation:
"Jedes Wirkende bringt ein ihm Ähnliches hervor ... Deshalb repräsentiert umgekehrt alles Erwirkte irgendwie seine Ursache und ist (im weitesten Wortsinne) ihr Bild (similitudo)."(13)
Dann äussert er sich zur Frage der Selbstständigkeit des Entsprungenen:
"Das Sich-Zeigen des Ursprungs ist identisch mit dem Seinlassen seines anderen, weshalb umgekehrt im Sein des Entsprungenen die Sichtbarkeit des Ursprungs liegt. ... Je intensiver ... [Gottes, des Ursprungs; d.V.] Anwesenheit, desto größer die Selbstständigkeit des Seienden. Dabei bemißt sich die Selbstständigkeit nach der Übereinkunft eines Seienden mit anderem und der Einheit mit sich: Je mehr ein Seiendes auf etwas anderes bezogen ist, eine desto größere Einheit besitzt es selbst, desto selbstständiger ist es."(14)
Die trinitätstheologische Dimension sei durch Günther Pöltner folgendermassen beschrieben, vorbereitend den Anspruch Meisners an den schöpferischen Menschen:
"Der Mensch ist kraft seiner Geistesnatur als erkennen-könnendes und frei-wollen-könnendes Wesen ... Bild Gottes. ... Weil nun das menschliche Dasein zum Vollbringen aufgegeben ist, so kann der Mensch in dreifacher Weise Bild Gottes sein. Erstens ist der Mensch infolge seines Menschseins Bild Gottes, d.h. insofern er in der wesenhaften Möglichkeit der Gotteserkenntnis und Gottesliebe steht. ... Im Maße der Mensch diese seine Wesensmöglichkeit realisiert, d.h. Gott wirklich erkennt und liebt, was für Thomas in der Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe zu geschehen hat, ist er - zweitens - wirkliches, wenn auch noch unvollkommenes Bild ..."(15)
Das bedeutet konkreter:
"Der Mensch ist das ganze des Seienden im Sinne einer Vollzugsidentität: Die Offenbarkeit des Seienden ereignet sich als das Menschsein des Menschen."(16)
Und dieses sei, um Günther Pöltners Darstellung abzuschliessen und den Bogen zu Joachim Kardinal Meisner zu spannen, enggeführt mit folgendem Schluss:
"Weder geht das Bild hervor wie eine Wirkung aus ihrer Ursache ... noch so, wie eine Ursache die Wirkung bewegt oder ihr ihre Ähnlichkeit aufprägt ... Es handelt sich weder um ein Entstehen aus etwas noch um eine Veränderung an etwas oder um eine Ortsbewegung. Vielmehr geht das Bild in Gott gemäß einem geistigen Ausfluss hervor, so wie vom Sprechenden das geistige Wort hervorgeht, das in diesem bleibt."(17)
Emanzipation vs. Weltdienst - Meisners Forderungen an die Kunst
Aus dem Gedanken, dass der Vollzug des "geistigen Ausfliessens" von der Existenz Gottes zeugt, lassen sich Forderungen bzw. Handlungsanweisungen für die - christliche - Kunst ableiten, die ihr Wesen im Nachweis der Wirklichkeit Gottes finden soll. Diese Aufgabe sollte man nicht emanzipativ verstehen, sondern strikt und gebunden, auch wenn hier bereits der Übergang von der Theorie zur Praxis, von der Logik zur Moral stattfindet. Wie dann mit moralisch verwerflichen Handlungen umgegangen wird, beschäftigt uns im letzten Abschnitt. Kommen wir zum Auftrag des Künstlers.
Die emanzipative Auslegung der Gedanken Thomas' betont die Selbstständigkeit des Menschen vom Ursprung. Gerade der hohen Intensität vollzogener menschlicher Selbstständigkeit entspricht ja die hohe göttliche Ursprungsintensität. Das bedeutete aber, dass gerade eine atheistisch-humanistische Position in ihrer Negation des Ursprungs jenen am dichtesten und intensivsten bezeugte. Emanizipation wäre hier als Mündigkeit gegenüber generativen Zwängen anzusehen. Albert Camus' Kunstwerk, der Roman "Die Pest" stellt in dieser Hinsicht die Emanzipation des Menschen von Gott dar, auch wenn Camus sich mit der Schöpfungswirklichkeit befasst und den einen, nicht den anderen Schöpfungsgedanken entbirgt.(18) Rambert, Tarrou und Dr. Rieux stellen Fragen nach dem Sinn des Daseins in der daseinsfeindlichen Welt und finden, dass der Mensch selbst diesem Dasein Sinn zu geben hat. Diesem Konzept inhäriert Zeitlichkeit. Der Ursprung, Gott, ist Geschichte, weil der Glaube an diesen Ursprung aufgegeben wurde. Gott wurde aufgegeben. Das Erzeugerkonzept "Gott" hat ausgedient, ist Geschichte, nicht nur tot, sondern mittlerweile auch überflüssig. Der atheistische Humanismus sieht ein, dass weder "lamento" noch apokalyptischer Fatalismus helfen, dass nun vielmehr die Erkenntnis des Absurden und der tägliche pragmatische Kampf für das Gute das Mensch-Sein positiv definieren. Fragt Joachim Kardinal Meisner mit Max Horkheimer, warum der Mensch gut sein solle, wenn es keinen Gott gebe, so antwortet Camus, dass der Mensch gut sein solle, obwohl, oder vielleicht sogar weil es keinen Gott gebe. Eine praktisch-philosophische Antwort auf die von Meisner zitierte Frage Horkheimers, aus der konkrete Moral erwächst. Dass damit aber auch der Priester seinen Glauben neu definieren muss, nämlich als Glauben, nicht mehr als Wissen, das wird in Camus' Roman in der Figur des Pater Paneloux deutlich.
Nun aber zur strikten Auslegung, und hier geht es wieder zur Kolumba-Predigt und zum Auftrag der Kunst. Joachim Kardinal Meisners Position lautet:
"In den Werken der Schöpfung dem Schöpfer auf die Spur zu kommen, ist Sache und Berufung der Künstler. Darum hat die Kunst auch immer mit Gott zu tun, und wenn es auch rein profane Kunst ist. Wenn sie den Namen "Kunst" verdient, ist sie immer von der Wirklichkeit der Welt abgedeckt, und damit hat sie eine theologische Dimension. ... Dem Menschen als Ebenbild Gottes ist es aufgegeben, in der Schöpfungswirklichkeit die Schöpfungsgedanken Gottes zu entbinden, ihnen Gestalt zu geben: in Literatur, Musik, Bild oder Plastik. Diese Schöpfungsgedanken Gottes in der Welt aufzuspüren und ihnen erneut Gestalt zu geben und die Mitmenschen daran zu erinnern, ist der Sinn von Kunst."(19)
Das Zitat nennt den Auftrag des künstlerischen Menschen, der in der Entbindung, nicht in der Loslösung vom, sondern in der Geburtshilfe für den Schöpfungsgedanken besteht. Jener der Schöpfungswirklichkeit innewohnende Schöpfungsgedanke wird vom Künstler ans Tageslicht gebracht, durch Formulierung und Gestaltung. Das ist die Aufgabe der Kunst. Joachim Kardinal Meisner spricht hier vom lebendigen Menschen: das ist der erzeugende Mensch, dessen Attribute am Präsens partizipieren und Akte darstellen. "Kunst" findet also statt, hängt nicht unbedingt im Museum. Selbst moderne Kunstformen wie Happenings, Performances, Interventionen, Prozessdokumentierende Künstlerische Forschung, können so als Kunst verstanden werden, sofern sie sich auf den Schöpfungsgedanken und die Schöpfungswirklichkeit bezieht.
"Der frühe Kirchenvater Irenäus von Lyon sagt deswegen: ‚Die Herrlichkeit Gottes ist der lebendige Mensch‘. Und wir können es umgekehrt sagen: ‚Der lebendige Gott ist die Herrlichkeit des Menschen‘."(20)
Um Meisners Position hinsichtlich der Konsequenzen zu profilieren, das Folgende: bei Identität im Sinn der skizzierten emanzipativen Interpretation des Ursprungs könnte man behaupten, gerade die Herrlichkeit des Menschen sei die Lebendigkeit Gottes, was aber bedeutete, dass paradoxerweise gerade der Tod Gottes dessen - historische - Lebendigkeit bezeugte. Wir sitzen hier auf einer konzeptuellen Zeitbombe, denn für die Kunst bedeutete dies, dass sie sich letztlich von der Grossaufgabe des Schöpfungsgedankens befreien sollte.(21) In der Position Kardinal Meisners zur Kunst stellt sein Ursprung jedoch eine immer wieder fordernde Voraussetzung des Menschen dar. Der Kardinal sieht in dieser Kunst auch eine didaktische Aufgaben enthalten, wenn er schreibt:
"Die Werke, in denen das in besonderer Weise gelungen ist, sind [zwar; d.V.] nicht alle kultfähig, also für den Gottesdienstraum geeignet, aber sie sind in unseren Museen ausgestellt, nicht um rein ästhetisch bewundert zu werden, sondern um die Betrachter und Besucher anzurühren, ihnen die Augen und die Herzen für eine neue Dimension des Daseins zu öffnen, die man in der Alltäglichkeit leicht übersieht."(22)
Dass für Joachim Kardinal Meisner der beauftragte künstlerische Mensch seinen Weltdienst mit der Entbindung des Schöpfungsgedankens in der Schöpfungswirklichkeit verrichtet, ist nachzuweisen Aufgabe des neuen Diözesanmuseums im Kolumba-Haus.
"Wir erwarten von unserem Museum, also von KOLUMBA, dass es gleichsam ein Areopag wird, auf dem sich Künstlerinnen und Künstler, Interessierte, Jugendliche und Ältere begegnen, um aus der Gegenüberstellung von moderner und alter Kunst, von profaner und sakraler Kunst, sich selbst besser zu erkennen und damit ihren Auftrag für den Weltdienst."(23)
Hat der Begriff der "Entartung" hinsichtlich Kardinal Meisners Position zur Kunst "Substanz"?
Im vorstehend beschriebenen Auftrag der Kunst mutet der Bezug auf so viele Gesellschaftsteile durchaus universell an, weil Frauen und Männer, Junge und Alte, Moderne und Alte Kunst, Profanes und Sakrales in einen übergreifenden Sinnkreis gestellt werden sollen. Kardinal Meisner geht es jedoch - und das sei sein gutes weltanschauliches, konfessionelles Recht - nicht um die museale Integration aller möglichen gesellschaftlichen Kräfte und damit auch nicht um die Beispielhaftigkeit aller künstlerischer Positionen, wie die unmittelbar darauf folgenden Zeilen anzeigen, die schliesslich den Begriff der "Entartung" in einen erweiterten Zusammenhang rücken, den der Diagnose der Entfremdung von Kultur und Kult:
"Vergessen wir nicht, dass es einen unaufgebbaren Zusammenhang zwischen Kultur und Kult gibt. Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus und die Kultur entartet. Sie verliert ihre Mitte."(24)
Ist nun der zusammen mit dem Topos des "Verlustes der Mitte" erwähnte Begriff der "Entartung" substanzlos, wie Joachim Kardinal Meisner in einem Gastbeitrag "Wenn Gott nicht mehr in der Mitte steht" zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.09.2007 schreibt,(25) wenn er behauptet, der Begriff der "Entartung" sei "für die Substanz seiner Aussage nicht notwendig"?(26) Der Gebrauch dieser Vokabel ist sicher kein intellektuelles Versehen eines fahrigen Wanderpredigers. Schliesslich ist Joachim Kardinal Meisner Theologe und Würdenträger.
Auf den Begriff der "Mitte", wie er aus der Anschauung des österreichischen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr geformt wurde, gehen wir hier nur kurz ein, weil der methodisch nicht stichhaltig ist. Hans Sedlmayrs Methode der sog. "Strukturanalyse" nutzt das Konzept der "adäquaten Einstellung", aus der heraus alle Bestandteile des Kunstwerkes erklärbar sind. Eine schöne Vorstellung, in der die erklärte Beobachtung allerdings auch dann zutreffen kann, wenn Einstellung als prinzipielles Erklärungskonstrukt falsch ist. Hier liegt eine Ähnlichkeit vor zur materialen Implikation, die sich jedoch nur auf die Wahrheitswerte von Vorder- und Hintersätzen logischer Verknüpfungen bezieht. Ex falso quodlibet. So kennzeichnen das Buch Sedlmayrs vom "Verlust der Mitte" interessante Beobachtungen zur Kunst des 18. bis 20. Jahrhunderts, die jedoch vor einem diese Kunst verkennenden Interpretationshorizont stehen - woraus sich dann mitunter wesentliche Inhalte der Auseinandersetzungen mit den missverstandenen Künstlern der Nachkriegszeit ergeben.
Um sich davon eine kurze Vorstellung zu verschaffen, kann an dieser Stelle nur paraphrasiert werden: bestanden Sedlmayr zufolge die bisherigen Gesamtaufgaben der Künste in den Gesamtkunstwerken des Kirchen- und Palastbaus, so kommt es um 1800 zum Zurückdrängen dieser Gesamtaufgaben zugunsten neuer Teilbereiche: Landschaftsgarten, architektonisches Denkmal, Museum, Nutzbau. Dass die Künste in diesen Fächern nach Gleichberechtigung strebten, hätte zum Stilchaos geführt, da es
"keiner dieser Aufgaben gelungen [sei; d.V.], mit wirklich stilbildender Macht aufzutreten und sich durchzusetzen".(27)
Das Stilchaos äussere sich Sedlmayr zufolge in den Tendenzen zur Aussonderung reiner Sphären (z.B. reine Malerei), im Auseinandertreiben der Gegensätze zwischen dem zu höchster Rationalität strebenden modernen Bauen und der zu höchster Irrationalität strebenden modernen Malerei, der Neigung zum Anorganischen (z.B. kristalline Bauweise), der Loslösung von der Erdbasis im Bauen, dem Zug zur Unterwelt (Goya), der Herabsetzung des Menschen (Daumiers Karikaturen), der Aufhebung des Unterschieds zwischen oben und unten (z.B. in der abstrakten Malerei und im Bau von Wolkenkratzern).(28)
"Die Zusammenschau dieser Symptomgruppen ergibt die Diagnose Verlust der Mitte ... Die Kunst wird ... exzentrisch ... Die Kunst strebt fort vom Menschen, vom Menschlichen und vom Maß ... Der Prozeß der Deshumanisierung ist ... in Gang gekommen ... seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, und er richtet sich bewußt oder unbewußt nicht nur gegen das im engeren Sinne humanistische Bild vom Menschen, sondern gegen den Menschen überhaupt."(29)
Anlass genug für lange Kontroversen zwischen Anhängern Sedlmayrs und den betroffenen Künstlern, in denen auch die parteiliche Vergangenheit Sedlmayrs zur Sprache kam, auch wenn der "Verlust der Mitte" eher vom österreichischen Klerikalfaschismus geprägt war und zu einer Zeit entstand, in der Sedlmayr selbst umfangreiches Leid infolge des Zweiten Weltkrieges gewärtigen musste, sich deshalb vielleicht auch nach einer besseren, weniger zerrissenen Welt sehnte, die er in der Zeit der übergreifenden Gesamtaufgaben des Kathedralbaus angelegt sah. - Eine weitere Betrachtung des "Verlustes der Mitte" soll hier unterbleiben, weil das vom Thema wegführte. Ein Mittschnitt der Predigt Meisners zum Kolumba-Museum zeigt, dass der Topos vom "Verlust der Mitte" von Meisner lediglich nachgeschoben wurde, um den der "Entartung" zu relativieren.(30)
Ein konkretes Indiz für die beabsichtigte und substanzgeladene praktisch-philosophische Verwendung des Begriffes der "Entartung" könnte die sorgfältige rhetorische Vor- und Nachbereitung des Topos von der "Entartung" darstellen, der in seiner begrifflichen Konkretisierung stets einen Rückgang, eine Verschlechterung, einen Mangel anzeigt, und das in der Tat schon im 19. Jahrhundert. Spricht Sedlmayr anfänglich noch von den humanistischen Werten und erst später von Gott, so widmet sich Meisner direkt dem Verhältnis zwischen Kunst und Kult. Damit aspektiert er zwei Sachverhalte in einer erst trennenden, dann gegenüberstellenden Absicht. Schliesslich will er ja die Mitte, ein Integrales, finden und dieses mit dem Schöpfungsgedanken gleichsetzen, den es in der Kunst ästhetisch zu entbinden und im Kult religiös zu würdigen gilt. In diese Antithese aus Kunst und Kult nimmt er - rhetorisch geschickt, in einer häufenden und hinsichtlich der Bedeutsamkeit steigernden Klimax - "Künstlerinnen und Künstler", "Jugendliche und Ältere", "moderne Kunst" und "alte Kunst", schliesslich "profan" und "sakral", endlich Selbsterkenntnis und Weltdienst. Damit aber subsumiert er dem Begriff der "Kultur" bzw. "Kunst" die Adjektive "feminin", "jung", "modern", "profan", "egozentrisch". Der Begriff des "Kultus" spielt hingegen an auf die Adjektive "maskulin", "alt", "traditionsreich", "sakral" und "altruistisch". "Degeneration" als Sammelbegriff für gesellschaftliche Vorgänge, Haltungen und Verhaltensweisen im Zeitverlauf liesse sich durchaus auf eine solche Scheidung von Vorstellungsbereichen beziehen, auch wenn Meisner im Vergleich zu Sedlmayr, für den wirklich alles, die ganze Welt, zentrifugal aus den Fugen gerät, viel stärker vereinfacht.
Der Begriff der "Entartung" bzw. "Degeneration" beinhaltet aber auch eine qualitative Bewertung. Die Idee eines "Gerichtes" über die Erfüllung des künstlerischen Auftrages ist Meisner nicht fern. Das Kolumba-Museum soll Joachim Kardinal Meisner zufolge ein "Areopag" sein. Der Begriff "Areopag" bedeutet einen antiken athenischen Gerichtsort zur Zeit Solons im 6. Jahrhundert vor Chr. In der Verwendung des Begriffes ist die richtende Beurteilung von Sachverhalten durch die öffentliche Sache gemeint. Folgt man Meisners Ansinnen, wird die Sache der Kunst dem Areopag, also einer gerichtlichen Beurteilung zugeführt. In sinngemässer Abwandlung des Zitates verlangt Meisner also eigentlich, dass das neue Diözesanmuseum eine Richtstätte bzw. ein Gerichtsort wird,
"sich selbst besser zu erkennen und damit [den; d.V.] Auftrag für den Weltdienst."(31)
Joachim Kardinal Meisner möchte also die Kultur, und damit auch die Kunst, vor ein Gericht stellen, auch wenn es sich dabei um ein ideelles handeln sollte. Diese Beurteilung soll eine intersubjektiv nachvollzogene Beurteilung im Sinne einer Wertaussage, Rechtsprechung darstellen. In dieser Hinsicht hatte Sedlmayr sich in seinem von Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" geprägten Buch "Verlust der Mitte" von 1948 eher zurückgehalten.
In seinem früheren Vortrag "Europa und seine Lebenswerte" vom November 2001 ist der Kardinal nicht unbedingt konkreter in Beurteilung und Verurteilung. Hier behauptet er jedoch, gerade auch im Hinblick auf die Vorgänge vom 11. September 2001:
Es fehlt in der europäischen Gegenwart der Bezugspunkt, den das Absolute - nämlich Gott - für diese Werte darstellt. Wenn nun aber die humanistischen Werte und Ideen Europas auf sich selbst gestellt sind und nicht mehr um diesen gemeinsamen Bezugspunkt, um diese Verbindung mit dem transzendenten Absoluten mit Gott wissen, dann ist dies nicht einfach nur bedauerlich, sondern das ist höchst gefährlich. Diese Werte scheiden dann nämlich gleichsam auf natürliche Weise giftige Stoffe aus, die langsam das lebendige Gewebe unseres christlichen Abendlandes verseuchen und vergiften und schließlich zerstören, so dass die abendländische Gesellschaftsordnung kollabieren muss. Hier gilt das biblische Wort: "Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut" (Mt 12,30). Die Entkoppelung der Werte von dem transzendenten Bezugspunkt, von Gott, ist also nicht eine neutrale Erscheinung, sondern eine große Bedrohung. Unsere europäische Gegenwart trägt darum auf vielfältige Weise solche Todeskeime in sich, die den gesunden Organismus vergiften, ja zum Kollabieren kommen lassen ... unsere Frage lautet deshalb: Kann der europäische Mensch aus eigener Kraft all diese Gifte ausschwitzen oder überwinden? Oder kann man berechtigterweise nur dann auf eine Tiefenheilung hoffen, wenn die europäischen Werte wieder ihre Quelle finden, ihren gemeinsamen Bezugspunkt: das transzendentale Absolute, das wir Gott nennen?"(32)
Wirklich "unglückliche" Vokabeln wie "ausschwitzen", "Lebenswerte" in der einen Rede, "Entartung", "Unkultur" im Zusammenhang einer anderen - im Erzbistum Köln gibt es zu viele ernsthafte Stimmen, die sich gewissenhaft mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen, vielleicht sogar unter ihr litten, als dass man eine solche grobe Sprachwahl auf die Gesamtheit der katholischen Kirche beziehen könnte. Und es sei nicht zu vergessen, dass die Kirche selbst - auch kontroverse - Kunst fordert und fördert. Das soll natürlich auch Joachim Kardinal Meisner zugestanden werden. Ein bewegter Geist scheint da also nach Worten für sein Anliegen zu suchen.(33)
Worauf aber richtet sich dieses, was sind die "Giftstoffe", die von den humanistischen Werten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ausgeschieden werden? Individualismus und Egalitarismus, so widersprüchlich das klingt. Sodann die "Pseudo-Mystik einer Welt, die nicht glaubt, aber dennoch den Drang der Seele nach dem Unendlichen nicht abschütteln kann",(34) gipfelnd in Moralismus und letztlich auch im - deutschen - Terrorismus, schliesslich aber die Naturwissenschaft mit ihrer permanenten Selbst-Infragestellung ihrer eigenen Grundsätze, die sich in die Künste und in die Kultur fortpflanzt - Relativismus und Pluralismus, die von der Wissenschaft und Technologie herkommend Leib und Seele des Menschen verkümmern und sterben lassen.(35) Keine Bestrafung ohne Schuld und vor allem nicht ohne Gesetz: müsste man dann nicht konsequenterweise den heutigen, den nichtreligiösen, den die Schöpfungswirklichkeit nicht entbergenden kunstschaffenden Menschen zumindest der Beihilfe zur leiblich-seelischen Verkümmerung seiner Mitmenschen anklagen, weil er seinen Auftrag nicht wahrnimmt?
Es ist sicher nicht im Interesse tradierter Werte, auch nicht der des katholischen Christentums, wieviel Porzellan da ohne Not zerschlagen wird. Und dass hinsichtlich des - legitimen und lobenswerten - Ansinnens gläubiger Christen, in Formen christlicher Kunst den christlichen Schöpfungsgedanken "entborgen" zu sehen, jede weitere Rechtfertigung zur eigenen Sicht auf die Kultur im Groben alles anscheinend nur noch schlimmer machte. Kardinal Meisner wählte in diesem Porzellanladen den Schwung mit dem grossen Klöppel, der den "entgöttlichten" Menschen in einem nicht kausalen Zusammenhang, dafür aber in einer weiteren unglücklichen Steigerung erwähnt mit Drogensüchtigen, Terroristen, dem Bösen:
"Dass das sexuelle Ausleben homosexueller Beziehungen der Schöpfungsordnung widerspricht, was ich auf fragende Blicke hin zur Erläuterung der naturrechtlichen Sichtweise anfügte, ist nicht nur katholische Auffassung, sondern auch die Ansicht vieler nichtkatholischer Christen, wie zuletzt die Auseinandersetzungen in der anglikanischen Kirche jedem zeigten. Kaum jemand bestreitet ernsthaft, dass die zunehmende Drogenabhängigkeit bei jungen Menschen u.a. persönlich mit einer Sinnkrise und gesellschaftlich mit einer Wertekrise zu tun hat. Und dass dem Terrorismus oft ein entarteter Idealismus zu Grunde liegt, ist eine weitverbreitete These, die in der öffentlichen Debatte kaum kontrovers ist. Schließlich kann man meine Ansprache ["Europa und seine Werte"; d.V.]durchaus als eine Variation der rhetorischen Frage des alten Max Horkheimer lesen: Warum soll ich gut sein, wenn es keinen Gott gibt?"(36)
Joachim Kardinal Meisner generalisiert, wenn er den "pseudo-mystischen Drang einzelner" auf die Welt verallgemeinert und damit die individuelle Sinnsuche in Zusammenhang zum Terrorismus bringt, wenn er die Naturwissenschaften ausschliesslich kritisch-rationalistisch versteht, wenn er ausserreligiöse Sinnschöpfungen in der Kunst überhaupt nicht erwähnt und wenn er den "unaufgebbaren Zusammenhang zwischen Kultur und Kult" überhaupt postuliert, und dabei trotzdem nur auf Einzelbeispiele zurückgreifen kann, auf "die schönsten Menschenbilder Europas", "Christusbilder", "Marienbilder", "Heiligenbilder":
"Hier leuchtet etwas von dem innersten Wesen des Menschen auf. Der Mensch ist nie nur profan, er ist auch immer sakral. Deshalb gehört es zur Sachlichkeit des Künstlers, diese Menschenwirklichkeit in ihrer ganzen Breite und Tiefe zur Kenntnis zu nehmen. Wo das vergessen wird, wird man dem Menschen nie gerecht. "(37)
Unverfänglicher und legitim wäre die folgende Aussage gewesen: innerhalb einer Zahl Kunstschaffender gibt es welche, die uns mit sakralen Meisterwerken beglückt haben, für die ein unaufgebbarer Zusammenhang zwischen Kultur und Kultus existiert und zu deren Sachlichkeit es gehört, die Menschenwirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.
Der Glaube an den christlichen Gott wäre dann jedoch bestenfalls eine einzelne, nicht die einzige Position eines künstlerischen Handelns und könnte in einer intersubjektiv nachvollziehbaren Darstellung der betreffenden Werke überzeugen. Eine Art Pluralismus. So aber erklärt Kardinal Meisner den Glauben zur Wahrheit der umfassenden Menschenwirklichkeit und charakterisiert die profane Wendung zur sachlichen Infragestellung derselben als defizitär. Der Glaube an Gott kann keine gleichberechtigten Alternativen haben. Für Joachim Kardinal Meisner liegt im Glauben die Wahrheit, weswegen Ungläubige Verlierer darstellen und von der religionsgeleiteten Entbergung des Schöpfungsgedankens unabhängige Bestimmungen der Kunst "entarten". In einer nicht ausgrenzenden, sondern integrativen Intersubjektivität, im würdigenden Austausch über Kunst hingegen haben sich andere jedoch schon längst auf relativistische Haltungen zur Kunst geeinigt.
Anmerkungen
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777