Wolfram Bröder: Tod einer Patientin. Ein lapidarer Erfahrungsbericht.
Im Lateinischen heißt pati erleiden, ertragen, erdulden, aber auch hinnehmen. Es gehört zu den so genannten Deponentien, einer Verbgruppe, die passivisch formuliert wird, aber aktivisch verwendet. Daraus ist das Wort Patient abgeleitet. Der Erleidende, der Ertragende. Worunter ein Patient, oder eine Patientin in unserem Falle, leidet, was und vor allem wie sie oder er erdulden muss, bestimmt sich als Krankheit - Abwesenheit von Gesundheit. Der vorliegende Fall macht Verfasser nachdenklich darüber, was leiden eigentlich bedeutet; denn es scheint, dass zumindest hier unter mehr und anderem gelitten wird als abstrakte Gesundheitsstatistiken jemals aussagen können.
Hier stirbt ein Mensch, und keiner kann so recht damit umgehen. Sterben tun ja auch immer nur die anderen...
Wenn man sich krank fühlt, geht man zum Arzt. Wenn man noch kränker wird, wird man ohne viel Federlesens ins Krankenhaus überwiesen.
So geschieht es auch mit unserer Patientin; ihr Leidensweg, durch den sich das ganze Problemfeld gesundheitlicher Versorgung wiewohl eine Menge Missverständnisse und Merkwürdigkeiten des Gesundheitswesens erschließen, beginnt ganz unspektakulär.
1. Wie es begann
Anna H. (Name geändert) ist 72. Karl H. (Name geändert), ihr Mann, ist ein wenig jünger, 71 Jahre und noch nicht genesen von einer schweren Hüftoperation.
Anna kommt im April 2004 in das Städtische Krankenhaus in N. Zunächst mit der Diagnose Lungenentzündung. Schmerzen. Sie hustet Blut. Bis vor kurzem hat sie noch geraucht, genauso wie ihr Mann. Ein Leben lang hat sie sich um ihren Karl gekümmert, einen schwerfälligen, kranken Mann; beide sind Rentner. Als ehemalige Krankenschwester litt sie oft sehr unter der Doppelbelastung von Beruf und Sorge für Karl. Die Kinder, drei an der Zahl, sind mittlerweile erwachsen und leben ihr eigenes Leben, aber immer in einer gewissen finanziellen Abhängigkeit von den Eltern; es scheint, als drücke diese Generation von Menschen mehrheitlich ihre Zuneigung durch finanzielle Zuwendung aus. Geldentzug ist Liebesentzug.
Aber zurück zu Anna, die sich im Krankenhaus befindet, ihrer alten Wirkungsstätte glücklicher Arbeit, die die Möglichkeit bot, vor der Sorge um den schon früh verrenteten Ehemann zeitweilig zu entfliehen. Anna wird mehrfach untersucht. Das Städtische Krankenhaus in N. ist ein mittleres Krankenhaus, und es gibt auch noch ein, zwei Mitarbeiter auf Station, die Anna noch kennen. Das schafft Vertrauen.
Die Schmerzen lassen sich lindern, vermutlich mit "Novalgin", dem Standardpräparat; aber die Angehörigen erfahren nichts. Anna selbst scheint auch nicht zu fragen. Die Familie ist erst mal auf Vermutungen angewiesen. Nach verschiedensten Untersuchungen, vom Röntgen bis zur Computertomographie, erfährt der Ehemann schließlich in einem Gespräch mit dem behandelnden Arzt der "Inneren", Dr. M., lediglich, dass sie Lungenkrebs habe, mittlerweile im Lebergewebe metastasierend. Ansonsten schiebt Dr. M. die Verantwortung für ein klärendes Gespräch mit der Familie auf Anna. Die aber schweigt.
Ob und inwiefern irgendjemand der Beteiligten "vernünftig" handelt - was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich "vernünftig"? -, bleibt im Dunkeln. Karl jedenfalls verheimlicht wiederum Anna die Lebermetastasen.
Anna kommt nach drei Wochen wieder nach Hause, sie ist etwas müde und hält sich dann und wann den Kopf.
2. Noch Normalität
Mittlerweile ist es Sommer. Im Garten wird eins der zu dieser Zeit in allen Gärten wie Pilze aus dem Boden schießenden Zelte aufgebaut. Und Anna hat aufgehört zu rauchen. Karl raucht derweil beharrlich weiter, weil er ?s braucht: Die Situation verlangt etwas, woran er sich festhalten muss. Anna besorgt weiterhin den Haushalt, vielleicht ein gutes Stück langsamer als sonst, und sie atmet nach Anstrengungen wie Treppensteigen recht schwer. Das Husten wird unterdrückt, die Schmerzmedikation, noch nicht mit Opioiden versehen, hilft leidlich. Und keinem ist es möglich, so recht über die Krankheit und ihre Konsequenzen en détail zu sprechen, weder mit Anna selbst noch wenn der Rest der Familie unter sich ist.
Anna und Karl leben, als sei nichts gewesen; und es sieht ganz so aus, als habe Anna Hoffnung und Mut geschöpft, doch noch mit einem "blauen Auge" davon gekommen zu sein. Nur beim Einkaufen ist sie es, die das Wägelchen schiebt - um sich daran festzuhalten. Und noch ein Ausflug zu einem Weinfest in der Nähe wird durchgeführt; dabei wird ihr schlecht... Gerade noch kann sie das Auto erreichen - eigentlich dürfte sie schon gar nicht mehr fahren. Es ist ihr letzter Ausflug.
Offenbar als Zeichen der Zuneigung bestellt Karl für seine Frau ein neues, rotes Auto, mit dem sie nie fahren wird. Das Nummernschild enthält Annas Initialen, der kleine Wagen hat eine Klimaanlage und entspricht so recht den Wünschen seiner Frau.
3. Medikamente, Chemotherapie und Bestrahlung
Mit der standardisierten Chemotherapie tritt Anna in eine nächste Phase der Behandlung ihrer Krankheit, die die Tumoren rückbilden soll. Alle drei Wochen muss sie für drei Tage ins Krankenhaus in N., verliert ihr Haar, und sie kauft sich zwei Perücken in einem dafür spezialisierten Geschäft in H. Die Chemotherapie schwächt sie sehr, und immer öfter sitzt sie da und fasst und hält sie sich ihren Kopf. Der Alltag zuhause fordert Kraft.
Es ist Spätsommer 2004, als Anna zum ersten Mal die Stimme versagt: Mitten im Telephongespräch mit ihrer Schwester im 400 Kilometer entfernten R. ist sie unfähig zu sprechen. Erst am folgenden Tag begibt sie sich ins Krankenhaus. Noch mit dem alten Auto fährt sie selbst dorthin. Man vermutet einen Schlaganfall, aber schnell stellt sich heraus, dass es sich um Hirnmetastasen handeln muss.
Eine kleine Weile später - mittlerweile ist es Herbst - beginnt die erste einer Reihe von Bestrahlungen, die lediglich den Hirnbereich betreffen. Den glatten, leicht geröteten Schädel verbirgt sie jetzt noch mit ihren Perücken und einer Mütze.
Im November erfährt Anna erneut einen Ausfall im Sprachzentrum ihres Gehirns. Ihr Sohn muss sie ins Krankenhaus fahren, während Karl das neue Auto glaubt abholen zu müssen. Zunächst erfährt nur eine Tochter davon, viel später erst die jüngste Tochter, die ohnehin von der Kenntnis wichtiger Einzelheiten ausgeschlossen bleibt. Obwohl gerade sie sich am meisten Sorgen macht und versucht, ihrer Mutter die beste, auch hospizliche Pflege zu ermöglichen. Diese Angebote werden sowohl von der Patientin als auch ihrem Ehemann abgelehnt: Die eingeübte Familienstruktur sorgt schon dafür, dass alles so bleibt, wie es ist, um sich nur nicht weiter mit der Krankheit auseinandersetzen zu müssen.
Weder Chemotherapie noch Hirnbestrahlung zeitigen einen Mut machenden Erfolg in der Bekämpfung der Tumoren. Mehrfach versucht die jüngste Tochter, über Ärzte des Krankenhauses und den behandelnden Hausarzt Dr. G. mehr über die Form der Lungentumoren und die Schmerztherapie in Erfahrung zu bringen, leider vergeblich; via Internet, durch persönliche Gespräche, besonders mit Organisationen der Pflege und Hospizarbeit, informiert sich die jüngste Tochter über die vermuteten Krebsformen ihrer Mutter und scheitert doch an der Unwilligkeit der behandelnden Ärzte - beispielsweise findet der Hausarzt ihrer Mutter diese Bemühungen lächerlich - und der Schweigsamkeit der übrigen Familienmitglieder, die den immer offensichtlicher nahenden Tod der Ehefrau und Mutter teils verdrängen, teils aber auch hinnehmen, ohne auch nur alternativen ärztlichen Rat einzuholen.
Dass dies zu familieninternen Auseinandersetzungen führt, bleibt nicht aus.
4. Ein letztes Mal im Krankenhaus
Weihnachten 2004 ist Annas letzter Geburtstag; sie wird 73 Jahre alt. Ihr sehr schwacher körperlicher Zustand, verbunden mit einer starken Dehydrierung führt zu einem erneuten Krankenhausaufenthalt, der sie zwar ein wenig stabilisiert, aber dennoch das langsame Sterben nicht aufhalten kann.
Die jüngste Tochter erreicht im Januar nach vielen vergeblichen Versuchen einen Gesprächstermin mit dem behandelnden Arzt, Dr. M.; dieser Termin gestaltet sich allerdings anders als erhofft: An Stelle eines persönlichen Gesprächs unter vier Augen wird ein Gespräch im Krankenzimmer der Patientin unter Anwesenheit des Sozialdienstes und des Ehemannes Karl geführt. Im Verlauf dieses Gesprächs wird Anna wohl erstmals voll bewusst, wie moribund sie ist. Die Krankheit sei nicht heilbar, meint der Arzt, Anna könne nach Hause, aber ein Pflegebett werde wohl notwendig sein, es solle möglichst gleich bei der Ersatzkasse beantragt werden, genauso wie eine häusliche Pflege. Erst dann könne sie entlassen werden. An diesem Tag wird Anna zum ersten und einzigen Mal seit der ersten Diagnose aktiv: Sie bekommt einen Wutausbruch ihrem Mann und ihrem Sohn gegenüber, weil sie glaubt, Pflege- und Hilfsmittel wie Pflegebett, Badewannenlifter und Toilettenstuhl und Pflegende erst recht nicht benötigen zu müssen.
Jetzt zu Hause, lehnt sie das bereits gelieferte Bett zunächst ab, stellt aber fest, dass die erhöhte Position eines Pflegebettes durchaus von Vorteil ist. Alles andere wird noch ein, zwei Wochen aufs heftigste abgelehnt.
5. Erste Pflege
Anna war nie die stets liebende Ehefrau und Mutter gewesen; nur ganz selten sprach sie über sich. Jetzt klagt sie nicht - ganz im Gegensatz zu Karl, der durch permanentes Reden - meist Belanglosigkeiten oder die durch Krankheit geprägte Vergangenheit seines eigenen Lebens thematisierend - eine Möglichkeit findet, dem Druck der Situation zu entfliehen.
Während die jüngste Tochter immer noch versucht, palliative Behandlungsalternativen nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch diese im Familienkreis vorzuschlagen, gelingt es den beiden Geschwistern, permanent dazu zu schweigen.
Der Pflegedienst des Städtischen Krankenhauses wird ins Haus bestellt und der Pflegedienstleiter verhält sich im Beisein Annas gerade so, als existiere sie überhaupt nicht und richtet seine Erklärungen nur an Karl und die Kinder. Es wird stattdessen nun eine Kirchliche Sozialstation hinzugezogen, deren Pflege hinreichend erscheint. Als zum ersten Mal eine Pflegekraft kommt, wird sie von der noch mobilen Anna einfach hinausgeworfen. Es ist ihr letzter selbsständiger Gang zur Haustür. Zur Toilette muss sie bereits begleitet werden. Das Pflegebett verlässt sie nur noch zu den Mahlzeiten und zur Toilette. Sie akzeptiert den Pflegedienst für die "Kleine Morgentoilette", dann auch am Abend. Zweimal täglich. Sie klagt nicht, sie stöhnt nur. Der Hirndruck nimmt zu, aber die Menge Cortison, die ihr der Hausarzt verordnet, geht zurück. Sie scheint schwere Schmerzen zu haben, und auch ihr Bauch schwillt an. Novalgin in großen Mengen, Cortison in geringer Dosierung, Blutdrucktabletten und Blutfettsenker - das ist alles an Medikamenten. Der Hausarzt Dr. G. kommt nur ein einziges Mal bis zu ihrem Tod.
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen stellt Pflegestufe II fest.
6. Die Pflege und die Familie
Währenddessen teilen sich die Töchter und der Sohn die täglichen Nachtwachen und die damit verbundene Pflege.
Es ist mittlerweile Anfang März geworden, der letzte Schnee verschwunden. Annas Sohn fällt auf ihre Initiative hin den Haselnussbaum, den sie vom Pflegebett aus - es steht im Wohnzimmer - gerade noch sehen kann. Anna wird keine Haselnüsse mehr pflücken können.
Ohne Anna gesehen zu haben, reduziert der Hausarzt wiederholt die Cortison-Dosis; sie werde dann sanfter sterben können, meint er zu Karl, der froh ist, dass sie dann auch ihr "Mondgesicht" verlieren werde. Es sei ja schließlich nicht zu vermeiden, dass sie sterbe, dann solle es auch wirklich schnell gehen, gibt Karl zu verstehen, denn, so der Arzt, der erhöhte Hirndruck führe zu Bewusstseinsverlust und so zu einem sanften Tod. Aktive oder passive Sterbehilfe?
Immerhin: Anna jammert noch mehr, klagt aber dennoch nicht. Nein, sie habe keine Schmerzen, sagt sie, und jammert gerade nachts sehr. Karl gibt ihr das bewährte Novalgin, das fast schon nichts mehr auszurichten vermag.
Mit etwas mehr Cortison - auf Annas Wunsch durch die jüngste Tochter verabreicht - geht es ihr besser, sie wird wieder ansprechbar und hat Appetit. Aber die Geschwister sind mit der erhöhten Cortisongabe nicht einverstanden und verbieten ihr den Umgang mit der Mutter. Der Hausarzt lässt sich nicht blicken, aber die Cortisongabe wird wieder reduziert: Annas Bewusstsein ist getrübt.
7. Der letzte Tag
Ostern 2005. Ausgerechnet. Annas Kräfte liegen brach. Die jüngste Tochter ruft die Notärztin, weil die Atembeschwerden immer größer werden. Warum sie denn noch keine Morphine bekommen habe, fragt die Notärztin und gibt ihr ein Kurzzeitdepot.
Für "Osterdienstag" war der Hausarzt angekündigt, aber er kommt einfach nicht, trotz der eindringlichen Bitte, nach Anna zu sehen und ihr eine Folgedosis Morphine zu verordnen.
Anna stirbt noch in der darauf folgenden Nacht zum 30. März.
Acht Stunden später erscheint der wiederholt gerufene Hausarzt und stellt den Tod fest: "wir" - pluralis maiestatis? - hätten alles getan, meint er feierlich am Totenbett. Wurde wirklich alles getan? Was wurde eigentlich getan? Zumindest bei der jüngsten Tochter bleiben Zweifel darüber.
Karl redet fortlaufend über die Vergangenheit und ist in seinem Redefluss nicht zu bremsen.
8. Der Bestatter
Noch am Vormittag wird ein bereits vor Tagen über die baldige Notwendigkeit seines Kommens informierter Bestatter gerufen. Er vermutet im Gespräch bei Karl wohl Schwerhörigkeit, denn er schreit munter seine Angebote heraus, natürlich in unmittelbarer Gegenwart der Leiche. Er ist sehr bestimmend. Ja, er mache alles, was behördliche Dinge betrifft, und gegen Aufpreis auch dieses und jenes und vieles mehr. Karl, geistig noch ganz woanders, stimmt allem zu. Die bei Bestattern vorausgesetzte Pietät lässt der Bestatter vollkommen vermissen; er lacht und freut sich, bedankt sich artig für den Auftrag und bestätigt, man werde Anna H. noch am Nachmittag abholen.
Und das wird auch mit aller Gründlichkeit getan: Der Bestatter W. kommt mit seinem Sohn, und mit gekonnt eingeübten Handgriffen wird unter Anwesenheit der Kinder die Mutter in einen orangefarbenen Leichensack gepackt, routiniert verschnürt, und mit ein paar eiligst ausgesuchten Kleidungsstücken, die sie bei der Aufbahrung tragen soll, wird Anna flugs in den luxuriös ausgestatteten Leichenwagen verfrachtet.
Ende eines Lebens.
"Hier fehlt jemand", sagt die jüngste Tochter und weint.
9. Ein Ausblick ohne Hoffnung
Selbstgefällige Routine und palliativmedizinische Inkompetenz der beteiligten Ärzte einerseits sowie menschliche Unfähigkeit seitens des Bestatters setzen der zum Teil selbstverschuldeten Unfähigkeit zur Trauer auf Seiten der Familie die Krone auf.
Obwohl es Hospize gibt, obwohl es die Palliativmedizin gibt, obwohl es geschulte Pflegekräfte gibt - nichts hat sich in den letzten Jahren an der unsensiblen Entsorgungsmentalität geändert. Verfasser hofft zwar darauf, dass sein eigenes Sterben ganz anders sein wird, hat aber gesunde Zweifel daran. Noch haben nicht nur Ärzte einen lediglich technisch-instrumentellen Blick auf die "Maschine" Mensch. Das Gesundheitssystem firmiert als unendliches geflochtenes Band wechselseitiger Abhängigkeiten im Medizinisch- Industriellen Komplex - ein Krankenhaus in S. weist stolz darauf hin, ein "Wirtschaftsunternehmen" zu sein. Die Abwesenheit von Humanität ist offenbar klaglos geduldet hinzunehmen. Quousque tandem abutere(nt) patientia nostra? Wie lange noch werden sie unsere Geduld missbrauchen?
Karl beauftragt drei Monate später ein Partnerinstitut, findet eine gleichaltrige Freundin und kauft sich ein neues Auto - ein Cabriolet.
Und trotzdem fehlt jemand.
Auf Annas Grabstein steht: "Geliebt und unvergessen".
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777