Andreas Woyke: Suche nach Einheit und Auflehnung gegen die Welt bei Albert Camus.
Im Vorwort zur Neuauflage der frühen Textsammlung "Licht und Schatten" von 1958 schreibt Albert Camus:
"Ich weiß, dass meine Quelle sich in ,Licht und Schatten' befindet, in jener Welt der Armut und des Lichtes, in der ich lange Jahre gelebt habe und die mich dank der Erinnerung heute noch vor zwei gegensätzlichen, jeden Künstler bedrohenden Gefahren bewahrt, nämlich dem Ressentiment und der Sattheit."(1)
Es liegt also durchaus nahe, die frühen literarischen Texte Camus' als Hintergrund zu wählen, um das ambivalente Verhältnis zwischen Sinnsuche und Auflehnung gegen eine sinnlose Welt zu beleuchten, mit dem uns seine philosophischen Texte "Der Mythos von Sisypos" und "Der Mensch in der Revolte" konfrontieren. Im Folgenden soll es darum gehen, diesen Zusammenhang im Blick auf die frühe Textsammlung "Die Hochzeit des Lichts" auszuloten.
Im Vorwort zu "Licht und Schatten" nennt Camus zwei Erfahrungsdimensionen der Welt, die seit seiner Kindheit und Jugend in Algerien sein Lebensgefühl prägen, nämlich die "Welt der Armut" und die "Welt des Lichtes". Die näheren Einflüsse dieser beiden Aspekte präzisiert er wie folgt:
"Das Elend hinderte mich, zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist."(2)
Die Erfahrung von Leid und Armut sowie die schmerzliche Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit(3) stoßen die Sinnsuche zurück und fordern zur Auflehnung gegen die Welt heraus, die eng mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber allen Erlösungshoffnungen verbunden ist:
"Denn hoffen heißt zuletzt entsagen, wenn man auch das Gegenteil zu glauben pflegt. Und leben heißt: nicht entsagen."(4)
Doch die Schönheiten der algerischen Natur, das Wechselspiel von Sonne und Meer, sowie Erfahrungen der Kunst und des "Zaubers von Orten"(5) machen auch episodisches Glück und unmittelbare Freude am Dasein möglich. Die Konfrontation mit diesen beiden grundlegenden Dimensionen menschlicher Existenz bildet für Camus den Ausgangspunkt seiner philosophischen Auseinandersetzung mit dem Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen. Die intuitive Erkenntnis der genuinen Aufeinander-Bezogenheit beider Aspekte führt ihn dazu, eine nostalgische Harmoniesehnsucht ebenso zurückzuweisen wie alle religiösen, politischen und sonstigen Entwürfe, die eine radikale Transzendierbarkeit der negativen Seiten der Existenz versprechen:
"Wenn ich mich jetzt gleich in die Wermutbüsche werfe und ihr Duft meinen Körper durchdringt, so werde ich bewusst und gegen alle Vorurteile eine Wahrheit bekennen: die Wahrheit der Sonne, die auch die Wahrheit meines Todes sein wird."(6)
In der Textsammlung "Hochzeit des Lichts", die Camus als "Impressionen am Rande der Wüste" bezeichnet, finden sich vier Einzeltexte: "Hochzeit in Tipasa", "Der Wind in Djémila", "Sommer in Algier" und "Die Wüste".
In "Hochzeit des Lichts" steht die lichtvolle Seite des Daseins im Vordergrund, die für Camus vor allem durch die verschwenderische Pracht der algerischen Sonne repräsentiert wird. Insbesondere hier findet sich Camus' typische Weltbejahung, die man als "areligiöse Religiosität" bezeichnen könnte und z. T. an die antike Kosmophilie erinnert, für die nach Nietzsche "'Gott' das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist".(7) In "Der Mythos von Sisyphos" klingt sie etwa dort an, wo Camus von einer neuen "communio" spricht, die durch die absurde Freiheit zwischen Mensch und Welt gestiftet werden kann.(8) In Tipasa, einer Ruinenstadt aus römischer Zeit in der Nähe von Algier, wohnen im Frühling die Götter:
"Sie reden durch die Sonne und den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers."(9)
Camus versucht hier eine angemessene Sprache dafür zu finden, wie man in der Schönheit, Kraft und schöpferischen Fülle der Natur eine Bedeutungsdimension entdecken kann, die über ihre pure Objektivation hinausgeht, sie aber nicht im Sinne einer Flucht in "Hinterwelten" idealisieren muss, sondern im Sinne einer Art von "Immanenzmetaphysik" in ihrer unmittelbaren Sicht-, Greif- und Fühlbarkeit zu bejahen vermag. Seine emphatische Rede über die Entfaltung der Natur im Lichte der algerischen Frühlingssonne durchbricht alle distanzierte Beschreibung und bezieht sich selbst mit der eigenen Glücksempfindung in diesen Prozess ein. Der schwere Duft, den die Wermutbüsche ausströmen, hüllt das ganze Land wie ein "Duftäther" ein und außerhalb der Sonne, der Liebe, der Lust und ebendiesem Duft wird alles andere "nichtssagend".(10) In diesen Momenten des Einswerdens zwischen Mensch und Natur verlieren alle Gedanken an Maß und Ordnung ihr Gewicht, es zählt nur noch der Gleichklang mit "der ausschweifenden Ungebundenheit der Natur". Nicht nur die Steine der Ruine von Tipasa gehen wieder in die Kreisläufe der Natur ein, auch der Mensch, der sich ihrem Genuss hingibt, wird momenthaft ein Teil von ihnen. Zurückgeworfen auf die individuelle Personalität sieht der Mensch sich zwar mit der Unauslotbarkeit des eigenen Wesens konfrontiert, doch der Anblick des Himmels und der Berge vermag ihm dabei zu helfen, den eigenen Herzschlag zu spüren und das eigene Maß zu erkennen. Menschen, die Mythen und weltferne Götter brauchen, um der Natur einen höheren Wert zu verleihen, sind für Camus arm und haben sich von der unmittelbaren Erfahrung und dem ursprünglichen Wissen einer eigenwertigen Natur entfernt:
"Hier trifft man die Götter wie Ruhepunkte im Laufe der Tage."(11)
Die Mastix-Kügelchen,(12) die wir unter der Nase zerdrücken können, verweisen uns eindringlich auf die Vorgängigkeit und Eigenwertigkeit der Natur und können uns so ein kontemplatives und nicht-objektivierendes Verhältnis zu ihr erschließen, das nicht zum Sprung in eine transzendente Sphäre ansetzen muss, sondern in der Immanenz des Gegebenen verbleiben kann. Der schöne Eleusinische Spruch "Glücklich der Sterbliche auf Erden, der diese Dinge sah" muss dann nicht mehr nur Ausdruck einer Reise ins Innere und einer Schau geistiger Schönheiten sein, er kann als emphatischer Hinweis auf die Schönheiten der sinnlichen Welt verstanden werden. Indem Camus seinen nackten Körper dem Wechselspiel von Sonne und Meer aussetzt, begreift er "den höchsten Ruhm der Erde: das Recht zu unermesslicher Liebe".(13) Die Umarmung einer Frau und die Umarmung der Welt bilden dabei für ihn keinen Gegensatz, sondern erweisen sich als unterschiedliche Erscheinungsformen einer ursprünglichen "erotischen Kraft", die ihm als "einzige Liebe in der Welt" erscheint. Camus bleibt jedoch nicht bei einer solchen "hochzeitlichen Weltumarmung" stehen,(14) er erkennt, dass die Sonne nicht nur das Symbol des Lebens, sondern ebenso auch - gerade im heißen Algerien - das Symbol des Todes ist. Dennoch oder eben gerade deshalb ist es für ihn "keine Schande, glücklich zu sein". Das Untergehen der Sonne beendet die Herrschaft der weltnahen Götter des Tages, es ist das Signum ihres täglichen Todes. In der Dämmerung treten andere Götter hervor, deren Mienen düsterer sind, die aber auch "aus dem Herzinnern der Erde" emporsteigen.(15)
Dieser Wechsel von der Herrschaft der Götter des Tages zur Herrschaft der Götter der Nacht markiert den Übergang zum zweiten Text der Sammlung, der mit dem Titel "Der Wind in Djémila" überschrieben ist. Auch hier steht also ein Ort im Mittelpunkt, allerdings ein gegenüber dem lichtüberfluteten Tipasa gegensätzlicher und lebensfeindlicher Ort, "wo der Geist stirbt, um einer Wahrheit willen, die ihn verneint".(16) Hier rückt insofern der zweite Aspekt des Verhältnisses des Menschen zur Welt in den Fokus, von dem Camus in "Der Mythos von Sisyphos" sagt, dass er "zunächst das einzige Band zwischen ihnen" bildet.(17) Djémila ist ebenso wie Tipasa eine Ruinenstadt aus römischer Zeit, sie liegt aber nicht wie Tipasa und Algier direkt am Meer, sondern im Landesinneren; sie ist gleichsam "wie ein ausgebreitetes Kartenspiel unter dem endlosen Himmel" gelegen.(18) Der Wind, der über die Hochebene von Djémila bläst, und die Sonne, die auf die Ruinen brennt, drohen den Menschen zu verschlingen, der sich in dieser Landschaft aufhält. Die Ruinen ruhen wie "das gelbliche Skelett eines Knochenwaldes" auf dem Hochplateau von Djémila, sie sind für Camus "Gleichnis und sichtbare Lehre, dass überall nur Geduld und Liebe uns bis ans klopfende Herz der Welt gelangen lassen".(19) Der schneidende Wind von Djémila verwandelt den Menschen in ein Ding, das in einer trostlosen Landschaft ausgesetzt ist und zu einem "Stein unter Steinen" wird.(20) Es klingt hier also schon jenes zentrale Bild für das Absurde an, dass Camus später in "Der Mythos von Sisyphos" verwendet.(21) Das "gewaltsame Wind- und Sonnenbad", das er in Djémila nimmt, erschöpft seine Lebenskräfte und lässt ihn nicht nur in affirmativer Weise sein Vorhandensein in der Welt erfahren - wie im sonnendurchtränkten Tipasa - sondern auch seine eigene Auflösung im Wirkungsfeld der ihn verneinenden Naturkräfte.(22) Diese Auflösung wird allerdings nicht nur in einer negativen Weise erfahren, was zu einem instinktiven Widerstand führt, für Camus findet sich in uns auch ein Teil, der sich mit dieser Verneinung einverstanden erklärt und sich gleichsam mit ihr verbrüdert. Dieser Teil von uns sucht in der unwirtlichen Landschaft nicht nach etwas, das uns gehört, sondern nach etwas, das als eigenständige Kraft in ihr gründet und sich uns entgegenstellt. Diese negative Kraft wirkt auf uns "wie ein Geschmack des Todes", durch den wir uns in ein seltsames Einverständnis mit der Landschaft und ihrem verneinenden Potential setzen können. Camus verdeutlicht diese Stimmung wie folgt:
"Je mehr der Tag zur Neige ging, je stiller und fahler die Welt wurde unter dem Aschenregen der einfallenden Dunkelheit, desto selbstverlorener und wehrloser fühlte ich mich gegen jenes langsame, innere Aufbegehren, das ,nein' sagte."(23)
Er will sich die Lasten seines Lebens nicht durch die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben nach dem Tode nehmen lassen, er sieht die großen Vögel, die "mit ihren schweren Schwingen über Djémila kreisen" und verlangt bei diesem Anblick sogar nach einer gewissen Lebenslast, die ihn seines Daseins im irdischen "Hier und Jetzt" versichern kann.(24) Das rechte Wort zum Tod ist für Camus einzig "[d]as klare Wissen um einen Tod ohne Hoffnung":
"Der einzig wahre Fortschritt der Kultur, den von Zeit zu Zeit ein Mensch für sich verwirklicht, besteht darin: bewusst zu sterben."(25)
Wie er in "Hochzeit in Tipasa" eine einseitig optimistische Sicht der Welt angesichts von Sonne und Meer dadurch einschränkt, dass er in der "Wahrheit der Sonne" auch die "Wahrheit des Todes" entdeckt,(26) so mildert er nun auch diese pessimistischen Gedanken in ihrem erdrückenden Charakter dadurch ab, dass er den Gedanken der Einheit der Welt in den Vordergrund rückt:
"Dieser versteinerte, im Schweigen der Berge und des Himmels verlorene Schrei, Djémila - ich verstehe, was er verkündet: Helle und Gleichmut, die wahren Zeichen der Verzweiflung wie der Schönheit."(27)
Durch den Versuch, gedanklich und dichterisch die Einheit der Welt zu ergründen, ist auch der folgende Text "Sommer in Algier" bestimmt. Camus beschäftigt sich dort mit den Besonderheiten der algerischen Mentalität, die vor allem durch das Spannungsfeld zwischen einer verschwenderischen Natur und einer allgemeinen Präsenz von Leid und Armut in der menschlichen Gemeinschaft beherrscht wird.(28) Die Fülle der Gaben von Sonne und Meer in Algier lässt die Menschen verarmen, Algerien schenkt seinen Bewohnern weder Lehren noch Hoffnungen, sondern nur das Licht. Algerien ist für Camus ein "seltsames Land, das dem Menschen, den es ernährt, beides zugleich gibt: Glanz und Elend!" Eine der wenigen Freuden junger Männer in Algier ist das Sonnenbaden, er verweist darauf, dass in Algier niemand sagt, "ein Bad nehmen", sondern "sich ein Bad leisten":(29)
"Wer so mit seinem Leib unter Leiber lebt, lernt, dass der Leib seine eigenen Wünsche und Launen und, wenn man mir ein offenbar sinnloses Wort gestattet, seine eigene Seele hat."(30)
Ein weiteres einfaches Glück der algerischen Sommer sind die stillen Abende, in denen der Besucher erfahren kann, dass "die Zärtlichkeit dieses Landes [?] scheu und überwältigend zugleich" ist.(31) Das Leben der meisten jungen Männer verläuft in Algier, Belcourt und den anderen größeren Städten gemäß einer immer wiederkehrenden Ordnung: Sie heiraten jung und beginnen früh zu arbeiten, bereits mit dreißig Jahren warten viele Arbeiter umgeben von Frau und Kindern nur noch auf das Ende; das Glück war kurz und der Tod ist jedem gewiss. Das Volk der Algerier ist für Camus ein geistloses Volk, deshalb verhüllt es sich die Trostlosigkeit des Lebens und die Gewissheit des Todes auch nicht durch Mythen oder religiöse Überzeugungen:
"In diesem Volk ohne Religion und ohne Idole lebt man gesellig und stirbt allein."(32)
Gleichwohl äußert er seine "verwegene Hoffnung, dass diese Barbaren, die sich am Strand des Meeres tummeln, eines Tages - vielleicht unbewusst - eine Kultur schaffen werden, in der endlich die Größe des Menschen ihren wahren Ausdruck findet."(33) Einen Hinweis in diese Richtung gibt Camus dadurch, dass er in sich, der ja auch zu diesen Barbaren gehört, eine tiefe Sehnsucht nach der Heimat seiner Seele entdeckt. Diese Heimat ist für ihn aber nicht ein transzendentes Reich wie für Plotin, auf den er explizit verweist, sondern eben die Immanenz der sicht- und fassbaren Erde.(34) Sonne und Meer verkünden eine mögliche Einheit zwischen Mensch und Welt, doch wir sind wohl zu verbildet, um diese Verkündigung noch angemessen verstehen zu können. Doch der Duft, den die Johannisbrotbäume im Sommer über ganz Algerien verströmen, bekräftigt aufs Neue "die Hochzeit des Menschen und der Erde und erweckt in uns die einzige, wahrhaft männliche, hochherzig-vergängliche Liebe zur Welt".(35)
Zu Beginn des vierten und letzten Textes der Sammlung "Hochzeit des Lichts", der mit "Die Wüste" überschrieben ist, schreibt Camus:
"Leben ist sicher so ziemlich das Gegenteil von Gestalten. Haben die großen toskanischen Meister recht, so bedeutet es dreimal Zeugnis ablegen - schweigend, brennend und regungslos."(36)
Dies klingt zunächst reichlich fatalistisch und scheint insofern im Widerspruch zur Bedeutung der Revolte im späteren Werk Camus' zu stehen. Doch auch in "Der Mythos von Sisyphos" und "Der Mensch in der Revolte" spricht er davon, dass der Mensch innerhalb seines Lebens bestimmte Gegebenheiten annehmen muss. Hierzu gehören insbesondere die "Geworfenheit" in bestimmte Lebensumstände und die Fragilität und Endlichkeit der eigenen Existenz. Die These, dass der Mensch notwendig durch seine Geburt und seine Sterblichkeit bestimmt ist, bedeutet jedoch nicht, dass die Auflehnung gegen diese prägenden Aspekte des Menschseins gänzlich abgetan wäre. So äußert sich in Camus' Roman "Die Pest" Doktor Rieux gegenüber Pater Paneloux wie folgt:
"[?] ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden."(37)
Die großen toskanischen Meister verstanden es für Camus "die großen, einfachen und ewigen Gefühle: Lebenslust, Hass und Liebe" abzubilden.(38) Giotto und Piero della Francesca gelang es so, die Tiefe des Menschen und das Antlitz seines Schicksals bildnerisch darzustellen. Das einzige, was zählt, ist die Wahrheit und die Wahrheit wird durch all das repräsentiert, was sich der allgemeinen Vergänglichkeit widersetzt und sich in der Zeit erhalten und andauern kann. In den Bildern der großen italienischen Maler des 14. und 15. Jahrhunderts zeigen sich für Camus derartige Wahrheiten. Nur um solcher Wahrheiten willen ist für Camus eine Form der "höheren Poesie" gerechtfertigt, die nicht eine "Poesie der guten Leute" ist und nur "zur eele" spricht. Diese höhere Poesie glüht wie eine schwarze Flamme in den Landschaften der italienischen Meister als der klarsichtige Protest des in eine sinnlose Welt geworfenen Menschen. Dieser Protest resultiert in der Sicht Camus' aus dem Widerspruch zwischen der unermüdlichen und glanzvollen Verkündigung des einen Gottes und dem Wissen, dass dieser verherrlichte Gott gar nicht existiert.(39) Die höhere Poesie ist für Camus demnach eine Poesie, die "hinter sich selbst" geschaut hat und zur Einsicht gelangt ist, dass das Wesen von Poesie und Kunst darin besteht, die banale Wahrheit des Leben-Wollens zu verhüllen und zu verkleiden.(40) Auch die großartige toskanische Landschaft verkündet für ihn als ein "Evangelium aus Stein, Himmel und Wasser" nur, "dass nichts aufersteht".(41) Die Eindrücke der Kunst, der Landschaft und der Natur führen zu einer Vorstellung vom Glück als einem "einfachen Einklang eines Geschöpfes mit seiner Existenz".
Gegen Ende der Textsammlung gelangt Camus zu folgender Schlussfolgerung hinsichtlich der Möglichkeiten, Licht und Schatten, Glück und Leid zu einer fragilen Einheit zu fügen:
"Man sollte verweilen bei diesem einzigartigen Augenblick, in welchem sich die Dinge die Waage halten, das Empfinden die Moral zurückweist, das Glück aus Hoffnungslosigkeit entspringt und der Geist sich auf den Leib beruft."(42)
Zu einer näheren Charakterisierung dieses empfindlichen Gleichgewichts gelangt Camus im Abschnitt "Das mittelmeerische Denken" in "Der Mensch in der Revolte", wo er den Maßlosigkeiten des Christentums und der "säkularen Religionen" des Kommunismus und Faschismus das heidnische "Sonnendenken" gegenüberstellt, das ein Denken des Maßes ist. Es geht darum: "leben und sterben [zu] lernen und, um Mensch zu sein, sich [zu] weigern, Gott zu sein".(43)
Der frühe Tod Camus' machte es allerdings nicht mehr möglich, dass er an der Begründung bzw. Neuformulierung eines solchen "mittelmeerischen Denkens" weiterarbeiten konnte. In seinen philosophischen Texten "Der Mythos von Sisyphos" und "Der Mensch in der Revolte" steht nämlich nicht das positive, einheitsstiftende Band zwischen Mensch und Welt im Vordergrund, sondern vielmehr das negative, trennende Band, das nur dadurch Sinn erhält und behält, dass man sich gegen es auflehnt.(44) Gerade seine frühen literarischen Texte können uns allerdings dafür sensibilisieren, dass sich Camus' Welt- und Selbstverständnis nicht in den Chiffren des "Absurden" und der "Revolte" erschöpfen und insofern durchaus anregend für die Entwicklung ausgeglichenerer Sichtweisen sein können.
Anmerkungen
Links
Der Autor
Dr. Andreas Woyke, Jg. 1966, Studium der Chemie, Physik, Erziehungswissenschaft und Philosophie an der Universität Siegen, 1. und 2. Staatsexamen, 2004 Promotion, seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Philosophischen Institut der TU Darmstadt, DFG-Projekt "Philosophische Implikationen von Nanoforschung und Nanotechnologie".
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777