Werner Brück: Vera Kattler sucht das Unheimliche. Saarbrücken, 2007
"Tierbilder"
Vera Kattler: Diplomausstellung. St. Ingbert, 2005.
In der Diplomausstellung 2005 in St. Ingbert und später in der Ausstellung "BBKfacetten" in Saarbrücken, vom 13.10.06 bis zum 15.10.2006, konnte man Tierportraits von Vera Kattler sehen. Die Abmessungen der Bilder entsprechen weitgehend den klassischen Portraitformaten, vom Quadrat bis zum leichten hochkantigen Rechteck. Nur in wenigen Bildern hat Frau Kattler starke Querformate gewählt, obwohl sie auch mit diesen experimentiert. Vielleicht hängt das mit der leiblichen Malerfahrung zusammen, da sie nämlich gern beide Hände benutzt, um Farbe aufzutragen, zu verteilen und den Bildorganismus formend zu gestalten.
Man kann bisweilen etwas "Hintergrund" erkennen. Der wird gestaltlos gehalten. Tonige Farbigkeiten, die ineinander übergehen und im Ungewissen verbleiben. Die Hintergrundfarben beziehen sich auf die Farbgestaltung am Körper des portraitierten Wesens. Dadurch verorten sie dessen Erscheinung, wenn auch im Ungewissen. Andererseits unterstützen sie ihn tonig in seiner Farbigkeit. Ästhetische Stimmigkeit glättet den Bildeindruck.
Vera Kattler: Tierbilder (Lama).
Öl auf Baumwolle, 50 x 110 cm, 2006.
Auf den ersten Blick wirken die Bilder von Frau Kattler also durchaus sympathisch, stimmig, tonig - und das liegt in der weiteren Absicht der Künstlerin, nämlich das Beunruhigende zu formulieren. Dazu nimmt man das Vertraute als trauten Ausgangspunkt.
Die Tierkörper werden wie die Hintergründe aus breiten Strichen zusammengesetzt. Für die glatteren Flächen wie den Hintergrund oder sich auflösende Körperformen nimmt sie gerne den Pinsel. Für den Tierkörper gebraucht sie aber ihre Finger. Das stellt eine unterschiedliche Handhabung der Farbsubstanz, aber auch einen andersartigen Zugang zum Lebewesen dar. Sie arbeitet mit Ölfarbe, mit der sie den Tierkörper so zusammensetzt, dass der pastose, additive Auftrag ein Relief bildet, mit Erhebungen und Mulden, die jedoch keine tieferen Täler darstellen, oder im Fall der Erhebungen nur eingeschränkt lineare Grate ausbilden. Vielmehr entsteht durch die natürliche Adhäsionskraft des cremigen, nur gering, vielleicht sogar unverdünnten Farbenteiges an ihren Fingern ein stupfig-pastoster Auftrag, dessen farbliche Bestandteile sich erst in der Anschauung mischen.
Man stelle sich die Künstlerin vor, die an ihrem Werk sitzt, mit beiden Händen voller Farbe, die Leinwand betupfend, den entstehenden felligen Tierkörper im übertragenen Sinn kraulend, so wie man als Mensch sich in Zuneigung einem Tiere nähert und es kost. Auf diese Weise entstehen eigene Bildorganismen, in denen das vermöge bildnerischen Schaffens erzeugte Wesen das reale Tierwesen ersetzt. Vera Kattler ist die Demiurgin. Sie bringt Ordnung in Materie und ruft Wesen ins Leben - mit ihrem Hand-Werk, der Malerei.
Hier beginnt Frau Kattler, die Vertrautheit mit dem dargestellten Wesen aufzugeben (aktiv). Und die Vertrautheit fängt an, die Bildwesen zu verlassen (passiv). Frau Kattler ergeht sich nicht in der fingerfertigen Bearbeitung der Farben und Ihrer Substanz. Um Formen aufzulösen und mit der Umgebung verschmelzen zu lassen, dadurch zum Verschwinden zu bringen und das bekannte Tier in einen merkwürdigeren Organismus zu überführen, der so nur in seinem eigenen Bildkosmos existiert, nimmt sie den Pinsel, mit dem sie die ursprünglich Materie bildende Farbe glattstreicht.
Vera Kattler: Tierbilder (Lama).
Öl auf Baumwolle, 100 x 110 cm, 2006.
Das kann man in dem gelben Bild beobachten, das im Prinzip ein Lama mit einem abgeknickten Ohr zeigt. Hier geht die Farbe von verschiedenen leuchtend gelben Tönen über in chromiges Grün und Kobalt und dann Rosa bis Krapplack. Das sind Farbtöne, die durchaus noch in einem harmonischen Verhältnis zum Gelb stehen. Denn das besteht nur an wenigen Stellen aus unvermischtem Kadmiumgelb. Ein mehr oder weniger starkes Changieren in Grün- und Blautöne lässt den Großteil des Tierkörpers giftig aus der Tiefe des Bildes hervortreten. Die Kontrastverhältnisse erreichen dann an drei Stellen ihren Höhepunkt und verankern den Tierkörper in der oberen rechten Bildecke. Dort, wo in farblicher Hinsicht ein Umschlag von Gelb und Gelbweiß in Blau und Blauschwarz erfolgt, der dann weiterführt ins Rosarote. Dort, wo an der Schnauze des Tieres Blau und Blauschwarz im Kontrast zu intensivem ungebrochenen Kadmiumgelb steht und die Schnauze ausbildet. Sowie am dritten Punkt, in der Partie darüber, in der dunkle, schwarze Augen den Betrachter böse-beherrschend anblicken - etwas im Widerspruch zur Komik des abgeknickten Ohres.
Die Charakterisierung des Gegenüber
Vera Kattler: Tierbilder (Schaf).
Öl auf Baumwolle, 100 x 90 cm, 2005.
Dass in dieser Beschreibung des Farbenspiels das Gegenüber anthropomorph charakterisiert wird, liegt durchaus in der Absicht der Künstlerin. Denn die setzte in ihrer Diplomarbeit ein Hörbuch mit "Brehms Tierleben" ein, das Tieren menschliche Eigenschaften andichtet, um sie anschaulich-erbaulich zu beschreiben. Dabei ist zu beachten: Brehms Leistung bestand u.a. darin, die exotische Tierwelt am anthropozentrischen Maßstab zu beschreiben. Dadurch konnte er das Unbekannte vertraut erscheinen lassen. Das fesselte den Leser, der sich mit seiner eigenen, unexotischen Vorstellungswelt den beschriebenen Geschöpfen näherte. Dazu gehört auch, dass die literarischen Darstellungen der abgehandelten Tiere sich auf authentische, weil personal überlieferte Einzelfälle bezog, somit neben abstrahierenden naturwissenschaftliche Klassifizierungen auch packende Beschreibungen erlebter Wirklichkeitskontakte enthalten. Als Beispiel diene die Beschreibung des Schafes und die des Schweins, wobei die beiden letzten Fundstellen aus "Brehms Tierleben" zusammen mit einer Schilderung des Rindes auch als einleitende Bezugspunkte innerhalb der Diplomarbeit von Frau Kattler verwendet wurden:
"Charakterlosigkeit ohnegleichen spricht sich in ihrem Wesen und Gebaren aus. Der stärkste Widder weicht feig dem kleinsten Hunde; ein unbedeutendes Tier kann eine ganze Herde erschrecken.; blindlings folgt die Masse einem Führer, gleichviel ob derselbe ein erwählter ist oder rein zufällig das Amt eines solchen bekleidet, stürzt sich nach ihm in augenscheinliche Gefahr, springt hinter ihm in die tobenden Fluten, obgleich es ersichtlich ist, daß alle, welche den Satz wagten, zu Grunde gehen müssen. ... Daß solche Geschöpfe gutmütig, sanft, friedlich, harmlos sind, darf uns nicht wundern; in der Dummheit begründet sich ihr geistiges Wesen, und gerade deshalb ist das Lamm nicht eben ein glücklich gewähltes Sinnbild für tugendreiche Menschen" - Brehm, Alfred Edmund; Pechuel-Loesche, Eduard; Haake, Wilhelm: Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. Band 3: Säugetiere. Leipzig, Wien, Bibliographisches Institut, 1900. S. 215.
- Und weiter: "Ihre [Der Schweine; d.V.] Gefräßigkeit ist so bekannt, daß darüber nichts gesagt zu werden braucht: in ihr gehen eigentlich alle Eigenschaften unter, mit alleiniger Ausnahme der beispiellosen Unreinlichkeit, welche ihnen die Mißachtung des Menschen eingetragen hat" - a.a.O. S. 513.
Und: "Das Hausschaf ist ein ruhiges, geduldiges, sanftmütiges, einfältiges, knechtisches, willenloses, furchtsames und feiges, kurzum ein langweiliges Geschöpf. Besondere Eigenschaften vermag man ihm kaum zuzusprechen; einen Charakter hat es nicht" - a.a.O. S. 242.
- Ein weiteres Beispiel für diese Konturenauflösung wäre ein auf Augen und Schnauze reduziertes Schwein in schmutzigem, ins Blaue changierendem Rosa (siehe Abbildung der Diplomausstellung 2005). Oder das Bild eines Schafes, von dem man ebenfalls nur die vordere Schnauze erkennt, sowie ein im Vergleich zum anderen willkürlich hervorgehobenes Auge, das mit der Schnauze und einer grünen Konturpartie im rechten unteren Bildbereich eine diagonale Verspannung des Tieres in der fast quadratischen Bildfläche ergibt. Auch ein gelbes Lama vor schmutzigrosafarbenem Hintergrund im stark querrechteckigen Format wäre in diese Gruppe einzuordnen.
Vera Kattler: Tierbilder (Affe).
Öl auf Leinwand, 2006.
Ein anderes, an der materiellen Schöpfung durch pastosen Farbenteig orientiertes Vorgehen sammelt Farbsubstanz auf der Bildfläche, nimmt den Spachtel, modelliert die Farbmasse und plättet sie in einem letzten Schritt, so dass - wie im Falle des Schwarzgrau eines Affen auf rosafarbenem Grund - eine dunkle, aber glänzende Masse wie ein Panzer auf dem Bild steht, dieses bedrohlich macht, auch wegen der martialischen Kontrastierung zur wunden Fleischfarbe des Hintergrundes. Dass man die Mundpartie des Tieres nicht sofort erkennt, verseltsamt das Bild, wie auch im Falle des gelben Lamas Konturen nur eingeschränkt sichtbar sind.
Um jedoch ein Beispiel für die Verspachtelung der Farbmasse zu geben, sei auf ein anderes Schaf verwiesen, das vor einem hellen, weißen Hintergrund steht, vgl. Diplomarbeit von Vera Kattler bei Prof. Hausig, 2005. Dieses Schaf bietet in seiner Kompaktheit eine schon fast drollig anmutende Bildwirkung, die durch zwei grafische, auf Zweidimensionalität reduzierte Beinchen unterstrichen wird. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass dieses Schaf wie alle anderen Schafe ein Tier auf vier Beinen, mit einem länglich gestreckten Rücken sein soll. Die Bildanlage verdeckt die hintere Partie.
Der Begriff "kugelig" ist als Klassifizierung dieser Form nur bedingt geeignet. Die Farbmassen changieren zwar hinsichtlich ihrer Helligkeit, und nach oben überwiegt hellere Farbsubstanz, während nach unten Schwarzgrau beigemischt wird. Trotz dieser Beleuchtungssituation sieht man aber bei näherer Betrachtung, dass die helleren Partien genauso pastos und damit substantiell aufgetragen wurden wie die dunklen. Auch nimmt die Intensität des Auftrages und seine Dichte bzw. Dicke nach außen nicht ab, so dass die dort herrschende gleiche Dicke Zweidimensionalität erzeugt.
Vera Kattler: Tierbilder (Schaf).
Öl auf Baumwolle, 80 x 60 cm, 2004.
Diese Zweidimensionalität distanziert den dargestellten Organismus vom Betrachter. Dadurch schlägt die Betrachtung des vordergründig witzigen Schafskörpers in eine Fremdheitserfahrung um. Deren Kern liegt in der Distanzbildung zwischen Betrachter und Betrachtetem. So weiß man auch nicht so genau, ob einen das Schaf jetzt anblickt oder nicht. Schließlich aber schiebt der kompakte Körper auf den zusammenlaufenden Beinchen den unvermittelten, halslosen Kopf des Tieres zum Betrachter. Das verringert den bisherigen Abstand, engt den Raum des Betrachters also ein. Ein bedrohliches Szenario, voller Präsenz des Tieres.
Es tritt noch etwas hinzu, sei es bei jenem kugeligen Schaf, sei es bei dem Affen: die Kompaktheit der Form, die wir oben schon abgehoben haben von den sich im Umfeld auflösenden Tierkörpern. Diese Kompaktheit wird durch stumpfe Abgrenzung gegenüber der Umform erreicht. Frau Kattler versammelt in beiden Bildern die Farbe innerhalb einer Fläche, die nach außen hin abgegrenzt ist. Denn der pastose Farbenteig steht im Helligkeits- und Farbenkontrast zur Umgebung, die in breiten, verlaufenden, glatten Strichen aufgetragen wurde.
Bedenkt man die Art, wie sie die Farbe aufträgt, nämlich mit den Händen, so wird klar, dass sie in diesen beiden Bildern mit ihrer Aufmerksamkeit in ganz besonderer Weise am Objekt bleibt. Sie formt das Wesen auf der Leinwand, hat zu diesem jedoch nicht die mittelbare Distanz des Pinsel, sondern nimmt an der Formung durch ihre Hände unmittelbar teil. Somit bedeutet die Bewegung ihrer Finger und Hände auch die Grenze zwischen dem geformten Objekt und dem es um- und hinterfassenden Umraum, in ähnlicher Weise, wie das Objekt den Fingern haptische Reize gibt, die sich gedanklich mit dem Kraulen eines Felles oder eines Pelzes parallelisieren ließen. Nur innerhalb der mit pastosen Stupfen gestalteten Fläche und nur entlang des haptisch gegebenen Kontrastes zwischen Form und Umform lässt sich der Bildorganismus erfahren.
In einer weiteren Parallelisierung könnte man sicher auch behaupten, dass der in den beiden kompakteren Darstellungen geschaffene Organismus sich nicht über die haptisch-optisch gegebenen Grenzen hinausbegibt. Eine sich auf das Tasten und Sehen berufende Umschreibung für den Umstand, dass die Farbe innerhalb dieser kompakten Formen ein Eigenleben vollzieht. Dieses Eigenleben belebt den Bildorganismus. Und diese Lebendigkeit verbindet sich mit der im Falle des Affen bedrohlichen Nichterkennbarkeit des Tieres, im Falle des Schafes mit der Bedrängnis des Betrachters im Gegensatz zur erst drolligen Erscheinung des Schafes.
Kommt noch hinzu, dass die Tiere von Frau Kattler nicht in ihrer natürlichen Umgebung gezeigt werden. Das Schaf steht vor weißem Hintergrund. Den kann man als Schneelandschaft im Gegenlicht zu verstehen, wenn man das will - aber: das macht keinen großen Sinn, denn es geht nur in einem bestimmten Kontext um naturalistische Sichtweisen, nämlich in dem des Eigenlebens. Und das kontrastiert am besten zur Verneinung, zur Unterordnung unter das Sinnfreie - man vergleiche die Einbindung der Schweineschnauze ins farblich Unbestimmte - und - in letzter Konsequenz - dem sinnlosen, absurden Nichts.
Beunruhigende Absurdität - Parallelen zum Existentialismus
Vera Kattler: Tierbilder (Affe; Ausschnitt).
Öl auf Leinwand, 2006.
Bei den beiden kompakteren Darstellungen von Affe und Schaf läßt sich feststellen, dass beide Tiere im absurden Kontext dargestellt werden: der Affe als Beispiel eines wilden Urwaldwesens, im Falle eines Gorillas auch als Sinnbild von Brutalität, jedoch gezeigt vor einen rosafarbenen Hintergrund. Das Schaf als Komplex geometrischer Formen, die in der Rundung der Hauptform und in der Angabe zweier auseinanderstrebender Beine groteske Züge annehmen. Absurd ist auch die Helligkeit am Schafrücken, die Bildtiefe erzeugen soll, bei näherem Hinsehen jedoch nicht erzeugen kann, weil sie sich pastos aus der Bildfläche in Richtung Betrachter erhebt. Absurd ist aber auch die Verwendung ungeheurer Massen schwarzer und grauer Farbe im Bild des Affen. Die werden mit dem Spachtel stark geplättet, so dass die entstehenden glänzenden Druckflächen das auffallende Licht stark reflektieren, was dazu führt, dass man den Bildgegenstand fast nicht mehr erkennen kann.
An dieser Stelle sei erhellend auf das menschliche Bewusstsein hingewiesen, wie es in der Existenzphilosophie J.-P. Sartres aufgefasst wird. Während die vom Menschen verschiedene Welt an-sich existiert, in einer positiven Seinsfülle, existiert der Mensch für-sich, in der Wahrnehmung von sich selbst, in einer Fragehaltung. Das menschliche Bewusstsein steht sich selbst gegenüber, kann also nie ganz es selbst sein, wird dadurch in seinem Vollsein behindert. Diese Brechung verstört den Philosophen bis zum Ekel.
Vera Kattler: Tierbilder (Lama).
Öl auf Leinwand, 50 x 100 cm, 2006.
Man kann durchaus Parallelen ziehen zu den Bildern Vera Kattlers, zumal deren Bildwesen im wahrnehmenden Bewusstsein des Betrachters ja durchaus nach einer eigenbestimmten Existenz streben - immerhin treten sie aus dem Kontinuum der Leinwand hervor, lassen sich in der bildkünstlerischen Gestaltung aus Farbe formen, bieten der kraulenden Hand Berührungspunkte. Doch schon in statu nascendi nimmt Vera Kattler ihnen die Plausibilität, indem sie ihren zeiträumlichen Kontext vernichtet, sie als curiosa auffasst, die, selbst ver-rückt, verstören und das Weltbild des Betrachters bedrohen. Das gilt auch für die Bilder, in denen das Schwein auf den Rüssel, das Lama auf die drollige Ohrenpartie im Kontrast zum herrschaftlichen Blick, die Kuh auf die Schnauze reduziert wird, ohne dass diese Partien für das Ganze stünden. Die Opazität des Verdeckten und Unbekannten beunruhigt. Durch den ästhetischen Bruch thematisiert Frau Kattler das bewusste Wahrnehmen und zieht Parallelen zum anthropomorphen Für-sich-sein.
Vera Kattler: Diplomausstellung.
St. Ingbert, 2005.
Weil aber die Tierwesen einer eigenen, rechten Existenz entgegenstreben, wächst sich der ästhetische Bruch zu deren ureigenen existentiellen Bruch aus, in dem - hinsichtlich des künstlerischen Kalküls der Vera Kattler - auch existenzielle (sic!) Lebenserfahrungen abgeleitet und formuliert werden können. Die große Kuh der Diplomausstellung 2005, im großen Quadrat (siehe oben), hat zwar keine bzw. nur schlecht erkennbare Augen, dafür aber am linken Ohr eine gelbe landwirtschaftsliche Erkennungsmarke. Und dann zeigt eine anlässlich der Diplomausstellung gezeigte Videoinstallation einen Tapir im dokumentarisch-elektronischen TV-Schwarzweiß, ohne Ton, vor einem gekachelten, glasbausteinigen Hintergrund. Zwar ein Raum im Zoo, aber Anspielungen sind denkbar, auf eine Tierklinik, damit auf Krankheitserlebnisse, oder auf einen Schlachthof, und damit auf Todeserfahrung. Es ist einfach nicht richtig, einen Tapir in einem sterilen Raum oder hinter Gittern zu sehen.
Im Bruch bleibt das existentielle Wollen zum Sein und zur Selbstverwirklichung stumpf, weil die Selbstbestimmung der Kreatur als freie Entscheidung für ein bestimmtes selbstgewähltes Dasein behindert wird. Frei nach Sartre kann man sich davon verstört, beunruhigt und abgestoßen fühlen - und dies ist ein Teil des Unheimlichen, Unvertrauten, Seltsamen, das Vera Kattler sucht.
Ob denn den Darstellungen der Tiere überhaupt eine solche existentialistische Tiefe eigne, kann man sich fragen. Nun, nach dem bisherigen sicher, aber es kommt noch die künstlerische Konzentration auf partikulare Sachverhalte hinzu. Vera Kattler malt keine Herden. Sie zeigt das Tier nicht in seiner ganzen Ausdehnung, wie man das z.B. von Rinderrasseschauen her kennt, vgl. LZ Haus Düsse oder die in der Bereitstellung von tierbezogenen Daten sehr ergiebige Höhere Landbauschule Almesbach, die sogar auf die Vorteile der Hornlosigkeit eingeht, mithin das angezüchtete Fehlen einer Eigenschaft als Positivum anpreist.
Auch geht es ihr nicht um den typischen Strich des jeweiligen Nutzviehs, die jährliche Nutzleitung an Lamawolle, die Milchleistung in Relation zum Eutervolumen oder um eine Typologie der physiognomischen Formen. Vielmehr behandelt sie das "abgebildete" Wesen als Wurf ins Dasein, indem sie Farbe aufträgt. Sie meinte übrigens, dass es gerade bei sehr großen Formaten eine interessante Erfahrung sei, große Batzen Ölfarbe auf die Leinwand aufklatschen zu können - eine Haltung, die dem Demiurgisch-Schöpferischen ihrer Arbeit entspricht. Durch den singulären Wurf jedoch, der ohne äußere Umstände, in einer bildnerischen Beschränkung auf das Tier, ohne Darstellung von Handlung oder Lokal vonstatten geht, abstrahiert sie, indem die Gegenstandsbezüge wegfallen.
Die Besonderheit dieses Farbauftrages aber thematisiert den tradierten Portrait- bzw. Bildnisbegriff und wird damit zum Bestandteil einer bildkünstlerischen Meditation. Wird in einem Bildnis eines Menschen üblicherweise auch auf dessen gesellschaftliche, biografische, intellektuelle, emotionale Position rekurriert, und kann ein solches Bildnis den abgebildeten Menschen u.U. repräsentieren, so scheint es Vera Kattler weniger um eine solche typadäquate oder individualisierende Repräsentation eines abgebildeten realexistierenden Lebewesens zu gehen, sondern eher um die Schaffung des Bildwesens als eigenständigen Organismus in der Leugnung seines Kontextes.
Damit gibt sie dem Portrait, dessen Bedeutung sich aus dem lat. protrahere - "ans Licht bringen", "offenbaren", "jmdn. zwingen bzw. drängen" - ableitet, eine neue Bedeutung. Denn sie krault mit ihren Händen Kreaturen aus dem Nichts, die es in unserer alltäglichen Erfahrung, so sie denn z.B. einen Zoobesuch umfasst, in dieser Art nicht gibt. Vielleicht passt der Begriff des Wortes "Konterfei" besser, dessen Ursprung contra facere jedoch zwei Bedeutungen hat, nämlich die des Zuwiderhandelns, aber auch die des Schaffens eines Gegenübers, eines Antagonisten. Auch der Begriff des "Dialog", der ein "Gegenüber" beinhaltet, wäre geeignet, die antagonististische Autonomie des Bildes innerhalb der Schöpfung durch die protagonistische Schöpferin zu charakterisieren. Das Protagonisten-Antagonisten-Verhältnis ist dabei Bedingung für die Hervorrufung einer affektiven Abwehr der Kreatur, die den Betrachter bedroht.
Diese und andere Gemälde waren in der Diplomarbeit zu sehen und wurden dann vermehrt, auf der Suche nach dem Unheimlichen.
"Schwimmübungen"
Zwischen August 2006 und Dezember 2006 beschäftigte sich Vera Kattler mit einer weiteren Reihe, die hinsichtlich des Formates kleiner ausfiel, hinsichtlich des Kolorits im Einzelbild homogener, hinsichtlich der Ikonizität fremder und fragmentarischer. Dabei entwickelte sie den Bildvorwurf des Beunruhigenden logisch noch klarer und stringenter aus, brachte aber auch noch die Substantialität der Negation ins Spiel, als ein noch konsequenterer ästhetischer Bruch, wie wir ihn ansatzweise schon beim Affen und dem rundlichen Schaf feststellen konnten.
Vera Kattler: Schwimmübungen.
Blick ins Atelier in Saarbrücken. 2006.
Die Rede ist von 130 Bildern, die unter dem Namen "Schwimmübungen" entstanden. Diese sind etwa je 15-40 cm groß bzw. breit, Öl auf Leinwand, vorherrschend Grau, Schwarz, Blau, Weiß. Variationen zeigen Untergruppen grünlicher, ockerfarbener oder bläulicher Eintönung.
Zu sehen sind biomorphe Formen, die sich sich in ihrer längen- und breitenmäßigen Ausdehnung unterscheiden, was es erlaubt, zusammen mit verschiedenen Bildformaten und im Verbund mit anderen "Schwimmübungen" Reihen zu bilden. Jedoch wird bisher auf transitive Bezüge auf andere evtl. sichtbare Bildinhalte oder auf stärkere direktionale Angaben weitgehend verzichten. Liegt eine Figurenlängung vor, so wird sie meist umgehend wieder eingefangen, sei es durch das Format als begrenzender Größe, sei es durch die Formgrenze selbst, die, mit einem dunkleren, ebenfalls begrenzenden Rand versehen, sich oft aus der Blickrichtung herauswindet.
Vera Kattler: Schwimmübungen.
Öl auf Leinwand, 21 x 30 cm. 2006.
Das Vorgehen ähnelt der Herstellung der anderen Bilder: Vera Kattler sitzt vor einer Leinwand, versammelt Ölfarbe darauf und erarbeitet mit Händen und Fingern die einzelne Form, jede für sich, eine pro Bild, in pastosem Auftrag. Meist pointiert ein großes, den Betrachter direkt anblickendes Auge die Form, und zwar in der Art, dass sehr wohl auf die Proportionierung der dargestellten Bestandteile des Bildwesens Rücksicht genommen wird. Dadurch bietet sich Frau Kattler die Möglichkeit, durch subtile Verschiebungen des Bildgleichgewichtes, punktuell exemplifiziert am sich in der Bildfläche verschiebenden Auge, Richtung zu erzeugen.
Auch dadurch verbleibt der Blick des Betrachters im Bild. Das ist das Gemeinsame dieser "Schwimmübungen": dass der Betrachterblick nicht aus dem Bild herausgeführt werden soll, sondern darin verbleibt. In der großen Variation dieses Anfangsthemas in verschiedenen farblichen Tonalitäten und anschaulichen Formen bildet der verbleibende Blick den Ausgangspunkt für eine Hinführung zum dann aufgenommenen Blick, im direkten Blickkontakt zum einzigen figürlich-gegenständlichen Datum, das alles andere in seiner Formgestalt als lebendig charakterisiert: dem magnetischen Auge des dargestellten Bildwesens.
Vera Kattler: Schwimmübungen.
Öl auf Leinwand, 23 x 30 cm. 2006.
Das Auge ist gerahmt von kurzen, energischen und substantiellen Pinselstrichen, die der Form Lebendigkeit verleihen. Sie begleiten Augenreflexe, die das Beleuchtungslicht aufgreifen. Durch diese Reflexe gewinnt der dargestellte Organismus an Lebendigkeit. Jedoch entfaltet er sich im Einzelbild nicht hemmungslos in alle Richtungen. Es sind noch nicht einmal Gliedmaßen zu sehen. Stattdessen überwiegen kompakte und geschlossene Formen mit klaren Grenzen und deutlicher kontrastlicher Absetzung der Binnenhelligkeit von den sie umgebenden gebrochenen flächigen Farbwerten. Diese Formen und ihr Spiel werden erst in der Reihe, nicht im Einzelbild variiert.
Durch die kompakte Formauffassung ist es Frau Kattler auch möglich, innerhalb der Hell-Dunkel-Verteilung großgliedrig zu verfahren. Hier ist jedoch zu bemerken, dass die Hell-Dunkel-Situation auf die Darstellung der Form begrenzt ist, diese nicht übergreift - was deren Kompaktheit verstärkt -, sondern in der Umgebung negiert wird. Diese Negation erfolgt bewusst. Nicht, dass ein kompakter Organismus vor einem unstrukturiertem Hintergrund gesetzt würde, oder dass dieser Organsimus aus einem unstrukturierten Hintergrund herausträte wie das Konkrete aus dem Allgemeinen oder das Bestimmte aus dem Unbestimmten.
Vera Kattler: Schwimmübungen.
Öl auf Leinwand, 27 x 30 cm. 2006.
- Vielmehr nimmt Vera Kattler das Unbestimmte und bedeckt damit die Form. Somit zieht sich auch noch die letzte augenbesetzte Erhebung irgendwann in das apeiron zurück. Das bedeckende Unbestimmte besteht - aus nichts. Zwar schimmert bei manchen Formen noch etwas durch, was an trübes Wasser erinnert, doch lässt das Gross der Abbildungen sich in den Bereichen des Unbestimmten nicht festlegen. Man sieht keine Perlen oder Resttropfen, die sich auf der Oberfläche des Organismus zeigten und von einem Auftauchen zeugten. Man sieht aber auch keine Oberflächenspannung, wie sie beim Versinken trockener Oberflächen in stillem Wasser auftritt. Man sieht - entgegen der Darstellung der Reflexe in den Augen - keine Reflexe auf der Oberfläche des Unbestimmten. Auch sieht man dort, wo aufgrund der Hell-Dunkelverteilung an der kompakten Form eine größere Erhebung zu vermuten ist, keine Spiegelung im Wasser, so man denn ein solches voraussetzt. Die Farbigkeit könnte auf Wasser hinweisen, so man sich die Bilder mit der gebrochen grünen Tonigkeit anschaut.
Vera Kattler: Schwimmübungen.
Öl auf Leinwand, 30 x 30 cm. 2006.
Dann aber gibt es wiederum Flächen, die mit so breiten und substantiellen Strichen durchstrukturiert sind, dass "Wasser" im Vergleich zum hervorgekraulten Lebewesen nicht in Frage käme. In manchen Bildern erinnern die in der Zone des Unbestimmten verwendeten Fragen an Himmelspartien, z.B. dort, wo verschiedene Blautöne - Coelin, Kobalt, Preussischblau - mit Weißbrechungen zusammen verwendet werden und ganze Wolkenlandschaften ausbildet. - Auf diese Weise jedenfalls wird der Betrachter mit dem Bildwesen alleine gelassen, im Blickkontakt, und er durchschaut nicht, in welchem Zusammenhang es steht, was die Umstände seines Daseins darstellt, welche Ausdehnung die Kreatur und welche Folge seine Anwesenheit hat.
Doppelte Ausschnitte werden thematisiert. Einmal in der Darstellung der Gesamtsituation, als pars pro toto Lebenwesen im gezeigten rechteckigen Bildausschnitt. Dann aber ein weiterer bildinterner, situativer Ausschnitt, nämlich der des Lebewesens, der vom Unbestimmten noch nicht verdeckt ist. Entsprechend dem oben ins Spiel gebrachten existenzialistischen Unterscheidung finden wir auch hier wieder zwar nicht den existenziellen Bruch in der Darstellung der Kreatur, dafür aber die Thematisierung des ästhetischen Bruches, der aus der Vernichtung des zeiträumlichen Kontextes resultiert, der die Kreatur für den menschlichen Betrachter plausibel machen würde.
Vera Kattler: Schwimmübungen.
Öl auf Leinwand, 22 x 40 cm. 2006.
Dass Vera Kattler im Gespräch den drolligen Umstand beschreibt, wie sie ihre Inspiration an in trüber Brühe versinkenden Nilpferden im Zoo sammelte, verstärkt diesen Eindruck noch weiter, weil sie in der Darstellung des "Wassers" - wie oben beschrieben - gerade das Unbestimmtheiten formulieren möchte und damit verfremdet. Man vergegenwärtige sich die Kernaussage Vera Kattlers: aus dem ihnen eigenen Unbestimmten heraus blicken Kreaturen, die nicht weiter beschrieben werden können, den Betrachter an, suchen seinen Blick und lassen ihn, einmal gefunden, nicht mehr los.
Schluss
In den besprochenen "Tierbildern" zeigt Vera Kattler Tiere in absurden Darstellungen, in einer Behinderung ihres eigentlichen An-sich-Seins, hin zu einer Versetzung in einen absurden, existenziellen Kontext. In den ausschnitthaften "Schwimmübungen" hingegen kann die gezeigte Kreatur abtauchen. Sie offenbart sich mehr oder weniger, verbleibt mit dem Rest ihrer körperlichen Möglichkeiten im Ungewissen und vermag auf diese Weise, ähnlich dem schwarzen Affen auf rosa Grund, den angestarrten Betrachter aus seiner Deckung heraus zu bedrohen. Dabei lässt die stärkere Binnengliederung der Formen die Kreatur partikular wirksamer aus dem Unbestimmten hervortreten und damit bedrohlicher werden - was durch die klaustrophobisch be- und eingrenzten Bildformate verstärkt wird, die - als logische Entwicklung - die Formen effektiver als die Ausschnitte der "Tierbilder" freistellen.
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777