Josef Bordat: Friedrich Nietzsche, Lou Salomé und Paul Rée. Eine Dreiecksbeziehung. Saarbrücken, 2007
Vor 125 Jahren durchlebte der Philosoph Friedrich Nietzsche eine aufregende, aber zugleich schwere Zeit. Daran soll der folgende Artikel erinnern, der die Ereignisse im Jahre 1882 um die Dreiecksbeziehung von Nietzsche, Lou Salomé und Paul Rée zu rekonstruieren versucht.
I.
Unbekannt: Friedrich Nietzsche. 1864.
Eifersucht und Dreiecksbeziehungen ziehen sich durch Nietzsches Leben.
So war er zunächst hinter Richard Wagners Frau Cosima her, die ihm von "glücklichen A-Dur-Stunden" in seiner Gesellschaft berichtet hatte, damit aber nur die intellektuell anregenden Gesprächen mit dem Philosophen meinte, nicht etwa mehr. Am 6. April 1874 schrieb sie an den verehrten, aber nicht geliebten Nietzsche: "Heiraten oder eine Oper komponieren, eines würde Ihnen so gut wie das andere helfen." Später, im beginnenden Wahn, raubt Nietzsche (der sich als "Dionysos" selbst verklärt) dem alten Freund - und späteren Feind - Wagner (alias "Theseus") in der Phantasie die Braut Cosima ("Ariadne"). So traurig kann unglückliche Liebe enden! (1)
Eine ganz besondere Konstellation war die Dreiecksbeziehung zwischen dem Philosophen, der jungen russischen Theologin und Philosophin Lou (Andreas-)Salomé (2) und dem Philosophen Paul Rée, die sich in Nietzsches Schicksalsjahr 1882 hoffnungsvoll entwickelt und sich rasch zu ungeahnter Intensität aufschwingt, jedoch schließlich (mit) dazu führt - so meine These -, dass Nietzsche in völliger Verzweiflung zusammenbricht. Ich möchte sie im folgenden Beitrag skizzieren.
II.
Unbekannt: Cosima Wagner.
Rée und Nietzsche sind seit längerem miteinander befreundet. Prägend für die Freundschaft ist der gemeinsame Forschungsaufenthalt bei Malwida von Meysenbug auf Villa Rubinacci in Sorrent (Winter 1876/77). Die Schriftstellerin von Meysenbug verehrt wie Nietzsche Schopenhauer und Wagner und akzeptiert auch, dass ihr Freund den Kollegen Paul Rée mitbringt - ohne sie vorher darüber in Kenntnis zu setzen! Nietzsche schreibt zuvor an Malwida von Meysenbug: "Wissen Sie, daß Dr. Rée mich begleiten will, im Vertrauen darauf, daß es ihnen so recht ist?" (3) Nun, offenbar war die Villa groß genug für den Kreis der jungen Philosophen, zu dem neben der Gastgeberin, Nietzsche und Rée noch Nietzsches Freund Albert Brenner zählt. Doch die engste Freundschaft in diesem Zirkel entwickelt sich zwischen Nietzsche und Rée. Als dieser im April 1877 abreist, schreibt ihm der "zurückgelassene" Nietzsche: "Nichts ist öder als Ihr Zimmer ohne Rée." (4)
Anfang 1882 - Nietzsche geht es gesundheitlich zusehens schlechter, er zieht sich mehr und mehr zurück - begegnet Rée der gerade 21jährigen russischen Studentin Lou Salomé im philosophischen Zirkel um Malwida von Meysenbug, die seit einiger Zeit nach einem passenden Mann für Lou Ausschau hielt, dabei jedoch "die Unabhängigkeit ihres jungen Gastes aus Russland arg unterschätzte". (5) Rée ist begeistert und denkt sofort an seinen einsamen Freund, der so sehnsüchtig nach intelligenten Menschen sucht, mit denen er seine Gedanken diskutieren kann. Er schreibt Nietzsche von der besonderen Begegnung. Nietzsche erwidert in einem Brief vom 12. März 1882: "Grüßen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern." (6) In den darauf folgenden Wochen macht sich Nietzsche seine Gedanken über die junge Dame und steigert sich hinein in die Hoffnung auf gute Gespräche - an Franz Overbeck schreibt er in jenen Tagen: "Ich brauche einen jungen Menschen, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können." (7) - und eine mögliche Liebesbeziehung. Erstere würde er haben, letztere nicht. Denn als er am 23. April 1882 in Rom eintrifft, zaudert er zwar nicht lange und meint bei der ersten Begegnung mit Lou Salomé am Petersdom keck: "Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?" (8) und stellt auch schon nach wenigen Tagen über seinen Freund Rée der jungen Russin einen Heiratsantrag, doch lehnt diese höflich ab. Sie bittet Paul Rée, Nietzsche schonend beizubringen, dass sie ihm einen Korb geben möchte. Besonders pikant daran ist, dass zuvor schon Paul versucht hatte, mit Lou anzubandeln, die ihn aber abblitzen ließ, wovon Friedrich Nietzsche jedoch nicht die leiseste Ahnung hat. Warum aber lehnte Lou Friedrichs Antrag ab? In ihren Memoiren beschreibt sie selbstbewusst den Umstand, weshalb sie damals an keiner sinnlich-erotischen Beziehung interessiert war, weder mit Paul, noch mit Friedrich, mit den eindrücklichen Worten "total entriegelter Freiheitsdrang", (9) ein wahrlich entscheidender Grund, sich nicht binden zu wollen!
Unbekannt: Lou Salomé (mit Peitsche), Paul Rée,
Friedrich Nietzsche (vor den Karren gespannt). 1882.
Auch wenn es mit der Liebe nicht klappte, die gemeinsame Arbeit der "heiligen Dreieinigkeit", wie die "menage a trois" spöttisch von Lou Salomé genannt wird, sollte darunter nicht leiden. So macht sie den gewagten Vorschlag, gemeinsam nach Paris zu gehen. Nietzsche - immer noch verliebt und fest entschlossen, es später noch einmal bei Lou zu versuchen - ist gleich euphorisch mit dabei, Paul Rée zögert. Letztlich sollte es nie zu dem gemeinsamen Studium, das der jungen Philosophin vorschwebt, kommen, auch wenn die drei noch eine Reihe interessanter Begegnungen erleben sollten.
So etwa am 5. Mai 1882 bei einem Ausflug auf den Gipfel des Monte sacro. Die drei sind mit Lous Mutter, Luise Salomé, unterwegs. Die alte Dame schafft den Aufstieg nicht, Paul Rée bleibt - zähneknirschend - bei ihr. Nun ist der Weg buchstäblich frei und Nietzsche stürmt zum Gipfel des Berges und der Gefühle. Die beiden lassen sich Zeit, kehren anschließend gut gelaunt wieder. Was auf dem Gipfel wirklich geschah zwischen Lou und Friedrich, bleibt ein Geheimnis, das die beiden mit ins Grab genommen haben.
Friedrich ist nun vollends in Liebe entflammt und schreibt am Tag darauf aus Luzern - er war auf der Durchreise nach Basel - an Freund Paul: "Ich muss durchaus Frl. [Lou] noch einmal sprechen, im Löwengarten etwa?" (10) Tatsächlich kam es im Löwengarten zu Luzern zu einer Aussprache, die auch in Lou Salomés Lebensrückblick erwähnt wird: "Nietzsche kam mit uns in Luzern zusammen, weil ihm nun hinterher Paul Rées römische Fürsprache für ihn ungenügend erschien und er sich persönlich mit mir aussprechen wollte, was dann am Luzerner Löwengarten geschah." (11)
Der große Philosoph Nietzsche möchte von der jungen Frau selber hören, dass sie ihn nicht will. Und: Friedrich Nietzsche bekommt es zu hören. Doch er gibt nicht auf. Im Gegenteil: Er legt nach. In einem Brief an Lou schreibt er Ende Mai 1882 aus Naumburg, wo er kurzzeitig bei Mutter und Schwester weilt: "Hier in Naumburg bin ich bisher in Bezug auf Sie und uns ganz schweigsam gewesen. So bleibe ich unabhängiger und stehe Ihnen besser zu Diensten. - Die Nachtigallen singen die ganzen Nächte durch vor meinem Fenster. - Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich es bin und sein kann; beachten Sie diesen Unterschied wohl! - Wenn ich ganz allein bin, spreche ich oft, sehr oft Ihren Namen aus - zu meinem größten Vergnügen." (12) Ida Overbeck, die Gattin des Nietzsche-Freundes Franz Overbeck, soll es nun richten und Lou in einem letzten, verzweifelten Angriff erobern helfen ("Sie wissen und errathen ja, was mir, um mein Ziel zu erreichen, am besten Noth thut." (13)). Sie soll den schüchternen Friedrich der jungen Lou unverfänglich, aber dennoch bestimmt, schmackhaft machen, indem sie Lou nach Naumburg einlädt und bei der Gelegenheit nur bestes über den Philosophen schreibt. Ihr Mann soll davon nichts erfahren, das wäre dem stolzen Nietzsche etwas unangenehm gewesen. Er plant den Besuch Lous mit Akribie und berät sich mit Ida: "Freund Overbeck darf bei diesem Privatissimum nicht zugegen sein? Nichwahr?" (14)
Mittlerweile hatte sich aber - zu allem Übel für Nietzsche - das Verhältnis zwischen Lou und Paul Rée deutlich verbessert. Die beiden schrieben sich vertraute Briefe und - sehr ungewöhnlich - duzten sich. Irgendwie musste Nietzsche davon etwas mitbekommen haben, denn die Spannungen im Briefwechsel zwischen ihm und Freund Rée nehmen zu. Als Lou Nietzsche aus Berlin den aversierten Besuch absagt und ihm außerdem noch mitteilt, dass sie bald für länger - und für Nietzsche unerreichbar - zu ihrer Mutter reisen werde, setzt er panikartig alles auf eine Karte, greift sich das gerade fertig gewordenen Manuskript der "Fröhlichen Wissenschaft" - irgendeinen "offiziellen" Vorwand musste er ja haben - und fuhr nach Berlin: "Morgen früh um 11 Uhr 40 will ich in Berlin sein, Anhalter Bahnhof", (15) teilt er ihr kurzerhand mit und schließt selbstironisch: "Das heißt sich plötzlich entschließen!" (16)
Doch alle Eile half nichts - Lou war längst abgereist. Nietzsche ist völlig enttäuscht und fühlt sich "halbtodt". (17) Er schreibt in seinem Unglück an Rée und berichtet ihm, dass er nach Berlin gereist sei, "um L[ou] und den Grunewald zu sehn". (18) In zynischem Galgenhumor bemerkt er: "Doch habe ich nur das Zweite erreicht." (19)
Nietzsche schaltet kurzzeitig einen Gang zurück und spricht bei der nächsten postalischen Kontaktaufnahme mit Lou am 18. Juni 1882 nicht mehr von "singenden Nachtigallen" und dem "Wohlklang ihres Namens", sondern nur noch von gemeinsamer Arbeit, von - wie er es ausdrückt - "wissenschaftlicher Produktion". (20) Er will zumindest mit ihr arbeiten, wenn er sie schon nicht lieben darf. Genau darin sieht Lou das Dilemma. Für sie ist gar keine Beziehung mit Nietzsche mehr möglich, auch keine platonische oder bloß akademische, denn die geistige Nähe zweier Menschen verlangt in ihren Augen nach körperlichem Ausdruck, aber der körperliche Ausdruck verschlinge die geistige Nähe.
Doch Nietzsche versteht die Zurückhaltung der jungen Russin nicht als Absage, sondern als ein verschämtes Sich-Zieren einer Unentschlossenen. Er bittet sie im November 1882 um Klärung der Beziehungssituation - natürlich zu seinen Gunsten: "Und nun, Lou, liebes Hez, schaffen Sie reinen Himmel! Ich will nichts mehr, in allen Stücken als reinen hellen Himmel: sonst will ich mich schon durchschlagen, so hart es auch geht." (21) Sodann schleicht sich eine gute Prise Selbstmitleid in den Tenor: "Aber ein Einsamer leidet fürchterlich an einem Verdachte über die Paar [groß geschrieben!, J.B.] Menschen, die er liebt." (22) Offenbar hat Lou die Angelegenheit sehr klar "geklärt" und Nietzsche eine abgeklärte Abfuhr erteilt, denn der Abgewiesene formuliert als Antwort auf den leider nicht erhaltenen Absagebrief eine bittere Abrechnung: "Was machen Sie, meine liebe L[ou] ich bat um heitern Himmel zwischen uns, soll ich sagen: es ist vorbei. Wollen wir uns zusammen erzürnen? Haben wir Lust einen großen Lärm zu machen? Ich ganz und gar nicht, ich wollte heitern Himmel zwischen uns. Aber Sie sind ja ein kleiner Galgenvogel! Und einst hielt ich Sie für die leibhaftige Tugend und Ehrbarkeit." (23)
"Galgenvogel" Lou denkt offenbar gar nicht mehr an ein "Wir" in bezug auf Nietzsche, und schon gar nicht unter "heiterem Himmel". Kurz darauf traf der Philosoph nämlich Lou und Paul Rée in Leipzig. Die beiden vermeiden jedoch jeden engeren Kontakt mit dem Philosophen und reisen nach kurzer Zeit ab, ohne sich bei ihm zu verabschieden. Nietzsche bleibt allein zurück und verbringt seinen "schwerste[n] und kränkste[n] Winter", (24) wie er im Juli 1883 an Ida Overbeck schreibt. Nietzsche fragt sich, warum ihn Lou grußlos verlassen hatte. (25) Das offensichtliche Ende der "Dreieinigkeit" stürzt ihn in eine totale Verzweiflung, von der ein Briefentwurf aus dem Dezember 1882 zeugt, der an die beiden "Treulosen" gerichtet ist, allerdings nur in "entschärfter" Fassung versendet wird: "An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure. Ich schlafe nicht mehr: was hilft es 8 Stunden zu marschiren! Woher habe ich diese heftigen Affekte! Ach etwas Eis! Aber wo giebt es für mich noch Eis! Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, daß ich die Vernunft verliere: Wo ist noch ein M[ensch] den man verehren könnte! Aber ich kenne Euch Alle durch und durch. Beunruhigen Sie sich nicht zu sehr über die Ausbrüche meines Größenwahns oder meiner verletzten Eitelkeit: und wenn ich selbst aus den genannten Affekten mir zufällig einmal das Leben nehmen sollte, so würde auch dann nicht gar zu viel zu bedauern sein. [...] Erwägen Sie Beide doch sehr miteinander, daß ich zuletzt ein kopfleidender Halb-Irrenhäusler bin, den die Einsamkeit vollends verwirrt hat. - Zu dieser, wie ich meine verständigen Einsicht in die Lage der Dinge komme ich, nachdem ich eine ungeheure Dosis Opium aus Verzweiflung eingenommen habe." (26)
Doch es bleibt nicht bei Liebeskummer und tragisch-komischem Selbstmitleid. Nietzsche steigert sich in eine rasende Eifersucht hinein, die sich in beleidigenden Äußerungen entlädt. Vor allem dämonisiert er Lou, (27) indem er sie auf höchst deftige Weise beschimpft. Nach anfänglich eher nüchterner Analyse der Situation - "Um Himmels Willen, was denken diese kleinen Mädchen von 20, welche angenehme Liebesgefühle haben und nichts Weiteres zu thun haben als hier und da krank zu sein und zu Bett zu liegen? Soll man diesen kl[einen] M[ädchen] viell[eicht] noch nachlaufen, um ihnen die Langeweile und die Fliegen zu verjagen? Zufällig Einen netten Winter zu machen [?] Charmant: aber was habe ich mit netten Wintern zu thun? Sollte ich die Ehre haben, dazu beizutragen." (28) - lässt er seinem Frust in einem Brief an Paul Rées Bruder Georg ungehemmt Lauf: "Diese dürre schmutzige übelriechende Äffin mit ihren falschen Brüsten - ein Verhängniß! Pardon! Wie sie selber über Ihren Bruder spricht und denkt, das soll die Sache meiner Diskretion sein. In Leipzig rief sie ihn nie anders als Dreckel! was mich empört hat." (29) Dieses unmögliche Gebaren - Georg Rée droht Nietzsche sogar mit rechtlichen Konsequenzen - (30) führt schließlich zum endgültigen Bruch sowohl mit Lou wie auch mit Freund Rée. Die drei sollten sich nie wieder begegnen.
III.
Unbekannt: Lou Salomé
Die Tragik der Dreiecksbeziehung liegt wohl vor allem in der Aussichtslosigkeit eines jeden Unterfangens, die Begehrte oder den Begehrten für sich zu gewinnen, wenn sie oder er sich bereits anders entscheiden hat. Das Beispiel Nietzsches zeigt zudem, dass man mit Beschimpfungen und Beleidigungen wohl am wenigsten erreicht, im Gegenteil verbaut man sich jede Chance auf ein versöhnliches Miteinander in einer platonischen Beziehung. Das Kardinaltabu ist dabei wohl der Nebenbuhler selbst. Hier ist stilles Erdulden - was freilich ungemein schwer fällt - wohl eher angezeigt als provokante spitze Bemerkungen. Lou Salomé notiert dazu in ihrem Lebensrückblick: "Wenn ich mich frage, was meine innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée bei mir schlecht machen sollten." (31)
Das erste und größte Opfer einer solchen Kampagne ist immer der Kampagnenführer selbst, der zumeist - wenn die Katastrophe zu Tage tritt - sein Verhalten bereut. Auch Nietzsche tut es Leid, so scharf gegen Lou und Paul Rée gewettert zu haben, zumal er auch den Widerspruch zu seiner strengen Moralvorstellung erkennt, wie er Schwester Elisabeth schreibt: "Nein, ich bin nicht gemacht zu Feindschaft und Haß: und seit diese Sache so weit fortgeschritten ist, daß eine Versöhnung mit jenen Beiden nicht mehr möglich ist, weiß ich nicht mehr, wie leben; ich denke ortwährend dran. Es ist unverträglich mit meiner ganzen Philosophie und Denkweise [...]". (32) Eine bittere Erkenntnis, die um einiges zu spät kommt.
IV.
Lou Salomé und Paul Rée lebten noch bis 1885 zusammen in Berlin, ohne jedoch ein Liebespaar zu sein. Nach einem erneut misslungenen Habilitationsversuch begann Paul Rée 1885 ein Medizinstudium, das er 1890 erfolgreich abschloss. Die nächsten Jahre verbrachte er in Stibbe (Westpreußen), wo er als Arzt die Landarbeiter auf dem Rittergut seines Bruders Georg behandelte. 1900 gab Georg das Gut auf und Paul ging nach Celerina (Schweiz). Am 28. Oktober 1901 stürzte er bei einer Bergwanderung in den Inn. Ob es ein Unglück war oder doch Suizid, konnte nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden. Lou Salomé heiratet 1887 Friedrich Karl Andreas, schloss sich dem Friedrichshagener Kreis an und hatte Umgang mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten ihrer Zeit, u. a. mit Georg Ledebour, Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, August Strindberg, Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann. Eine besonders enge Freundschaft verband sie mit Rainer Maria Rilke, der ihr im übrigen - irgendwas muss doch dran gewesen sein an dieser Frau - auch einen Heiratsantrag gemacht hatte. Ihr umfangreiches wissenschaftliches und literarisches Werk wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesichtet und ediert. In ihren Romanen und Erzählungen behandelt sie die Probleme moderner Frauen, die in einer traditionsverhafteten Umwelt eigene Wege zu beschreiten versuchen - so wie sie es tat.
Nietzsche bleibt zeitlebens allein. Es bleibt in Fragen von Liebe und Partnerschaft bei der Verehrung aus der Ferne, für die er ein gewisses "Expertentum" erlangt, das geneigt ist, die unerfüllte Sehnsucht schönzureden: "Wenn ein Mann inmitten seines Lärmes steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt, - es sind die Frauen. Fast meinst er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Platzen werde auch die lauteste Brandung zur Todtenstille uns das Leben selber zum Träume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es giebt auch auf dem schönsten Segelschiff so viel Geräusch und Lärm und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor Allem - Distanz!" (33)
Nietzsche überwindet sein Leid mit großartiger Philosophie, zumindest versucht er es. Er weiß um die Bedeutung der Arbeit in Krisenphasen und auch darum, wie wichtig eine intellektuelle Verarbeitung des Erfahrenen ist. Am 25. Dezember 1882 schreibt er in einem Brief an Franz Overbeck: "Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren." Er schafft das Kunststück und findet allmählich wieder zu sich selbst: "Inzwischen gab es aber wieder reine klare Tage, und sofort bin ich auch wieder meiner selber Herr geworden. Ein Glück blieb es bei alledem, wenn man in der Einsamkeit mit sich selber fertig werden kann [...]!" (34)
Nur manchmal noch regt sich Zorn über die "freche Russin", wie obige Zitate deutlich machen. Und nur manchmal zeigt sich sein verletzter Stolz in Äußerungen wie dieser: "Man muss fest auf sich sitzen, man muss tapfer auf beiden Beinen stehn, sonst kann man gar nicht lieben. Das wissen zuletzt die Weiblein nur zu gut: sie machen sich den Teufel was aus selbstlosen, aus bloss objektiven Männern." (35) Ganz so "selbstlos" und "objektiv" war Nietzsche in Bezug auf Lou wohl nie, doch ist es ebenso falsch, den in Liebesfragen glücklosen Denker in die "Chauvi-Ecke" zu drängen, wie dies leider häufig geschieht.
Im Januar 1883 stellt er eines seiner Hauptwerke fertig - Also sprach Zarathustra. Es enthält das berüchtigte und zumeist missverstandene "Peitschen-Zitat". Doch der angebliche "Frauenhass" Nietzsches ist nicht mehr als ein Mythos, der sich hartnäckig hält, insbesondere bei jenen, die niemals eine Zeile von Nietzsche gelesen haben. "Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht." - diesen Rat gibt ein altes Weib im Zarathustra dem Weisen als eine "kleine Wahrheit", jenem Weisen, der über die Frauen zuvor behauptet hatte: "Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das Glück des Weibes heißt: er will. Siehe, jetzt eben ward die Welt vollkommen! - also denkt ein jedes Weib, wenn es aus ganzer Liebe gehorcht. Und gehorchen muss das Weib und eine Tiefe finden zu seiner Oberfläche. Oberfläche ist des Weibes Gemüth, eine bewegliche stürmische Haut auf einem seichten Gewässer. Des Mannes Gemüth aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht." und dem das "alte Weiblein" zuvor schon begegnet ist mit den Worten: "Vieles Artige sagte Zarathustra und sonderlich für Die, welche jung genug dazu sind. Seltsam ist's, Zarathustra kennt wenig die Weiber, und doch hat er über sie Recht! Geschieht diess desshalb, weil beim Weibe kein Ding unmöglich ist?" (36) Die tiefe Ironie ist hier wohl nicht zu übersehen.
Nietzsche überwindet mit dem Zarathustra seine Krise, mit diesem Werk hat er sich "einen schweren Stein [...] von der Seele gewälzt" (37) und sich "senkrecht aus dieser Tiefe in meine Höhe erhoben." (38) Stolz teilt er Franz Overbeck mit: "Es wird nun wieder ,gehen': - hoffen wir's wenigstens!" (39)
Dennoch bleibt Nietzsche bis zu seinem Tod (1900) von schwerer Krankheit gezeichnet, ein Pflegefall, um den sich keine Geliebte, sondern zwei andere Frauen kümmern: Mutter Franziska und Schwester Elisabeth.
Unbekannt: Friedrich Nietzsche mit
Mutter Franziska Nietzsche
Unbekannt: Elisabeth Nietzsche
(Friedrich Nietzsches Schwester)
Inwieweit die gescheiterten Annäherungsversuche an Lou zu Nietzsches Zusammenbruch beitrugen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen, doch scheint außer Frage, dass sie seine labile Persönlichkeit sensibilisierte und am Ende erschütterte. Der geistige Zusammenbruch kommt mit sechsjähriger "Verspätung" im Winter 1888/89. Nietzsche lebt mittlerweile in Turin zur Untermiete. Sein Zimmerwirt hört ihn wirre Selbstgespräche führen. Der Philosoph irrt ziellos durch die Straßen, schreibt Karten, die er mit "Dionysos" oder "Der Gekreuzigte" unterzeichnet. Am 3. Januar 1889 beobachtet Nietzsche, wie ein Kutscher erbarmungslos auf sein Pferd einschlägt. Er stürzt auf das Tier zu und fällt ihm tränenüberströmt um den Hals. Er kommt ist Spital, Diagnose: progressive Paralyse. Hinzu kommen später manischer Größenwahn, paranoide Ängste und zunehmende Demenz. (40)
Unbekannt: Elisabeth Nietzsche pflegt ihren Bruder Friedrich
Nietzsche selbst interpretierte sein Leiden als physiologische Störungen aufgrund eines vom Vater ererbten Mangels an Lebenskraft und einer krankmachenden Dekadenz der abendländisch-christlichen leibfeindlichen Lebensweise. Er meinte, seine Krankheit durch tapferes Ertragen und durch "Selbstüberwindung" kompensieren zu können und zu müssen.
Oder war der psychische Verfall nur Ergebnis jahrelanger Kränkung und schwersten Liebeskummers? Doch wer kann sagen, was geworden wäre, hätte Lou "Ja." gesagt. Unter Umständen wäre Nietzsche nicht nur die eine oder andere Stunde der Einsamkeit, sondern die tiefsten Tiefen des seelischen Leids erspart, uns aber womöglich das Genie Nietzsches verborgen geblieben, dass sich in seinem Spätwerk offenbart. Ein Nietzsche mit Lou, aber ohne "Zarathustra" (1883), "Jenseits von Gut und Böse" (1886), "Genealogie der Moral" (1887), "Ecce Homo" (1888) und "Götzendämmerung" (1889) wäre längst in der Mottenkiste der Geistesgeschichte gelandet und vielleicht nur als "Ehemann der Schriftstellerin Lou Salomé" bekannt.
Anmerkungen
Der Autor
Josef Bordat (1972) lebt und arbeitet in Berlin. Nach einem Studium in Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin, einem Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Universidad Nacional de San Agustín in Arequipa (Perú) und einem Magisterstudium in Philosophie an der TU Berlin, wurde er dort zum Dr. phil. promoviert. - Neben Übersetzungs-, Vortrags- und Publikationstätigkeiten ist er Mitherausgeber des "International Journal of the Humanities" und Redakteur des "Marburger Forum".
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777