recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Werner Brück: Konzeptkunst, Konzeptionelle Kunst, Konzeptuelle Kunst. Saarbrücken, 2007

Vorbemerkungen

Eine Frage im formlosen Gespräch beschäftigte sich mit Konzeptualität von Bildern und mit der Frage, ob ein Konzept als gedanklich ausformuliertes Konstrukt sinnstiftend fungiert. Ob es reiche, statt eines Werkes nur das Konzept vorzustellen, Wortsprache statt Bildsprache zu pflegen. Was bewirkt oder - noch grundsätzlicher, moralischer - was soll Schreiberei über oder anstelle von Kunst? Enger gefaßt: bedeuten vorgeordnete Gedanken eine Dissoziation, die eine Künstlerin im Schaffensprozeß vom Werk entfremdet? Bedeutet das nachgeordnete Schreiben über Kunst ein Verlust der unmittelbaren, intuitiven Erfahrung von künstlerischen Wirkzusammenhängen? In der Folge möchte ich mich der "Konzeptkunst" grundsätzlich nähern.

Was kann man bei Konzeptkunst beachten?

Um irgendwie anzufangen, zwei Zitate aus dem Feuilletonbereich der ZEIT. "Konzeptkunst" kann pejorativ gebraucht werden.

"Nur leider beginnt diese Kunst erst dann vernehmlich zu sprechen, wenn sie erläutert und kommentiert wird. Sie ist nichts ohne den Künstler. Mit dem Künstler aber ist sie auch nichts, schiebt dieser sich doch gnadenlos vor seine Bilder. Er vertraut ihnen nicht, muss ihnen Sinn und Bedeutung zufüttern und reduziert sie zum vermarktbaren Belegstück seiner verbalen Aufmüpfigkeit." - eine "... Konzeptkunst, bei der allein die Idee zählt und es auf die Malerei eigentlich nicht ankommt ...", so Hanno Rauterberg in der ZEIT über den belgischen Maler Luc Tuymans, siehe: Rauterberg, Hanno: Schwach gemalt, schwach gedacht. -in: DIE ZEIT 18/2003, Link: http://www.zeit.de/2003/18/Tuymans?page=all.

"Konzeptkunst" kann auch herangezogen werden, das eigene oder fremde Werk zu nobilitieren. - Auch wenn es dabei widersprüchlich zugeht. Wenn z.B. etwas Konzeptkunst sein soll, man aber nicht darüber reden kann oder soll. Eine Basis für gedankliche Aporien, die dem Kunstwerk metaphysischen Wert verschaffen, wie es Christiane Grefe in ihrem Artikel "Spur der Steine" zum Berliner Fotografen Klaus Merkel anreißt:

"Nein, die Fotos seien nicht gefrorene Zeit, und Zeit sei auch nicht ihr einziges Thema: 'Da steckt viel mehr drin. Alles, was der Betrachter sieht.' Überhaupt schaffe er keine Fotos, sondern 'fotografische Gemälde. Lichtbilder'. Also nicht Dokumente, sondern 'Konzeptkunst', so der 61-Jährige, der selbst ein wenig verwittert aussieht. 'Ein Dokumentarfoto würde eine Allee zeigen. Aber für Alleen interessiere ich mich nicht.' Theoretiker allerdings sei er schon gar nicht, und eigentlich könne man über Fotografien sowieso nicht reden. 'Komplizierte Anweisungen zum einfachen Schweigen' nennt denn auch der Schriftsteller Peter Bichsel Merkels knappe Buchtexte zur Beschreibung seiner Bilder und dessen, was hinter ihnen steht", siehe: Grefe, Christiane: Spur der Steine. -in: DIE ZEIT 52/2001, Link: http://www.zeit.de/archiv/2001/52/200152_gr.gesch_steine.xml?page=all.

"Konzeptkunst" kann auch in Abgrenzung zu traditionelleren Formen des Kunstschaffens - z.B. der Malerei, der Grafik, der Skulptur oder der Architektur - verstanden werden. Aber es gibt die Gefahr, daß die konkrete technische Ausführung als Nachweis künstlerischer Befähigung wegfällt und stattdessen auf die abstraktere künstlerische "Idee" verwiesen wird. Da also spiegelt "Konzeptkunst" ein platonisches Denken wieder, das Sachverhalte (Namen und ihre Beziehungen, Klassen und Mengen) ohne Gegenstandsbezüge zuläßt. Das anstelle der empirisch qualifizier- und quantifizierbaren Entitäten ursprünglichere Bildvorstellungen postuliert - gegen den Phänomenologismus. Das wegen der technischen Unzulänglichkeit des Schaffens jene Bildvorstellungen für das eigentlich "Wahre" nehmen will.

- Demgegenüber der Einwand von Ottonormalbürgern, Empirikern, Skeptikern:

"'Kunst' kommt von 'Können', käme sie vom 'Wollen', würde sie 'Wulst' heißen.'"

Dieser Umgang mit Begriffen kokettiert in einer zwar rhetorisch intelligenten, jedoch inhaltlich-logisch falschen Analogiebildung plakativ mit Wortassoziationen ("Wanst", "Wulst" "Schwulst"). Das errregt Auffsehen und überzeugt, wenn man das verstehen will, was man sehen kann. Womit wir nun aber doch wieder vom "Können" zum "Wollen" kommen ... - Es sei noch dazu gesagt, daß das Zitat von Max Liebermann (20.07.1847 Berlin - 08.02.1935 Berlin) stammt. Der konzentrierte sich nach seiner naturalistischen Zeit, in der er die Arbeit des Menschen und seine soziale Stellung thematisierte, innerhalb seines dann vom Impressionismus beeinflußten Schaffens u.a. auf die Erscheinung der städtisch-bürgerlichen Lebensweise. Er konnte dann vielerlei Ehrungen, Ämter und Auszeichnungen in seiner Person vereinen. Liebermann hatte zudem als Mitbegründer der "Berliner Sezession", als späterer Präsident der Preußischen Akademie der Künste sowie als arrivierter Bildnismaler einen ästhetisch-kunsthandwerklichen Anspruch zu vertreten.

Man kann zur "Konzeptkunst" natürlich auch im Lexikon nachsehen. So schreibt das "Lexikon der Kunst", ursprünglich 1989 im E. A. Seemann-Verlag in Leipzig erschienen, dann 1996 neu bearbeitet und aufgelegt im Deutschen Taschenbuch Verlag in München, zur "konzeptionellen Kunst"

"Concept Art ... konzeptionelle Kunst, entstand ab M. 60er Jahre in Fortsetzung von Minimal Art, bes. angeregt durch Sol de Witt, vorbereitet u.a. durch Arbeiten von J. Kossuth (Objekt 'One and Three Chairs': Kombination eines realen und eines photographierten Stuhles mit der Lexikondefinition desselben). C. A. ersetzt das materialisierte Kunstwerk durch die öffentlich gemachte Idee, die eine Art Denk- oder Handlungsanweisung für den Betrachter bildet, auf den fiktiv die Realisierung übertragen wird. Konzepte können verbale Anleitungen, Photographien, Videoaufzeichnungen, Skizzten, Pläne, Modelle und andere Belege oder Dokumente sein. Meist verweisen sie auf Prozesse, daher sind die Übergänge zur Prozeßkunst fließend, aber auch auf herstellbare Objekte. Ziel ist stets, Phantasie zu bewegen und ästhet. Handlungen anzuregen. Teilweise spiegel sich in C. A. ein Mißtrauen gegenüber dem Bild [sic!], ausgelöst u.a. durch die Bilderflut der kapitalistischen Medien (J. Gerz: Trau keinem Bild). In einigen Fällen wird das widersprüchl. Verhältnis von Wirklichkeit, ihrer Bezeichnung und der 'Wirklichkeit' der künstler. Zeichens thematisiert [sic!]. Auf eine Weise ist damit auch die Krise des Kunstverständnisses in der spätbürgerl. Gesellschaft sichtbar gemacht. Vertreter von C. A. sind ferner R. Barry, L. Weiner, F. E. Walther, mit einigen Werken auch W. de Maria, D. Buren u.a. - In das Umfeld von C. A. gehören auch die gesellschaftskritischen Schrifttafeln von H. Haacke." - Olbrich, Harald u.a. (Hrg.): Lexikon der Kunst. Bd. 2, München, 1996, S. 21-22.

Der in Jahrhunderten entwickelte Kunstsinn einer bürgerlichen Gesellschaft kann durch die Ablehnung dieser tradierten Kunstformen provoziert werden. Das erzeugt Aufmerksamkeit. Das heißt aber auch, Kunst auf Provokation, dann auf Stimulanz zu reduzieren. Was hingegen die Zuverlässigkeit des ästhetischen Zeichens angeht, so sichert eine Thematisierung jenes dessen Zuverlässigkeit nicht. Sondern sie verlegt die Frage nach der Zuverlässigkeit in den in die Reflexion des Betrachters, womit das konzeptuelle Kunstwerk sich selbst immunisieren kann. Vgl. Sartre, der selbst als Phänomenologischer Existentialist den Dualismus zwischen den Endlichen der Erscheinung und der Unendlichkeit dessen, was erscheint, zugibt: Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Reinbek bei Hamburg, 2005, 2. Aufl., S. 12-13. Und dann kommt zusätzlich nur das heraus, was der Betrachter mit der Gebrauchsanweisung anstellt.

Oder, um es etwas analytischer und im Widerspruch zur obigen platonistischen Position auszuformulieren: erst entledigt man sich der Notwendigkeit eines Nachweises einer von der Rezeptionssituation unabhängigen Ontologie künstlerischer Sachverhalte. Dann behauptet man im positiven Sinn, daß die künstlerischen Sachverhalte als Beziehung der Objekte und ihrer Eigenschaften durch die Rezeptionssituation konstiuiert werden. Sein wird mit Erkennen gleichgesetzt, ohne das Erkenntnisobjekt vom Erkenntnissubjekt zu trennen.

Dieser Aporie - denn wofür soll man dann noch Geld ausgeben? - versucht Konzeptkunst mit der Angabe von Verfahrensanweisungen entgegenzusteuern. Sie will den Rezeptionsprozeß in eine geartete Richtung drängen. Damit widerspricht sie sich (konsequenter wäre vielleicht dada) und riskiert, dem Rezipienten ein eigenständiges oder alternatives Bild des Konzeptes zu verwehren. Das wiederum negiert die ursprüngliche Gleichsetzung von Sein und Erkennen, weil es kein Erkenntnis-Subjekt mehr gibt, das subjektiv wählen kann, wie es vorgeht usf.

Widersprüche: zuerst wird die Auffassung der "wahren, allumfassenden Idee" gegenüber der technischen Unzulänglichkeit der partikularen Ausführung angesprochen. Dann aber wird hervorgehoben, daß Kunst erst in der Rezeption und im Anschauen stattfinde. Ich denke, dieser Widerspruch bezeichnet den leidenschaftlichen Umgang mit "Konzeptkunst": einerseits soll die Verantwortung für die Realisierung vom Künstler auf den Betrachter verlagert werden. Andererseits soll dem Betrachter die Fähigkeit abgesprochen werden, das Konzept ohne den bereitgestellten explikatorischen Mehrwert vollständig zu verstehen. Vielleicht würde hierdurch Deutungshoheit abgegeben. Fruchtbar läßt sich dieser Widerspruch machen, indem man Kunstgeschehen als "wahre, eigentliche Idee des Widerspruches" nobilitiert und metaphysisch auflädt. Der Betrachter darf anbeten.

Cod. Lat. 19.: A. M. Sev.
Boethius: De consolatione philosophiae.
f. 1.

In letzter Konsequenz sähe das dann so aus, daß die konkrete, so und so ausfallende Rezeptionssituation nur ein Paradigma für eine Idee und ihren Moglichkeitenkosmos darstellt. Und das Prädikat "Kunst als Pradigmatisierung der Idee" muß ja als Eigenschaft für diese Idee zutreffen, sonst hätte eine konkrete Rezeptionssituation nicht so und so ausfallen bzw. überhaupt realisiert werden können. Hier nimmt das Konzept von der "Konzeptkunst" Züge an, die man mit Denkfiguren aus einem anderen Zusammenhang vergleichen kann. Man könnte vielleicht eine Art "Theodizeefrage" stellen. Auch eine Behandlung der Frage nach der "Willensfreiheit" wäre unter Umständen sinnvoll. - Gehen wir doch einfach mal auf diesen Gedanken ein und betrachten die Denkfiguren eines spätantiken, aber schon christlichen Denkers, der einerseits von Platon und Aristoteles beeinflußt ist und andererseits das Theodizeeproblem und die Frage nach der Freiheit des Willens zu beantworten versucht: Anicius Manlius Torquatus Severinus Boëthius, geboren zw. 475-480 in Rom, gestorben am 25.10.524 in Pavia, vgl. die Ausführungen von Dirk Kurt Kranz im Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XXIV (2005) Spalten 259-310. In dessen Werk "Philosophiae Consolationis" bzw. "Consolatio Philosophiae" ("Der Trost der Philosophie") aus dem Jahr 524 spricht Boëthius das Problem der Theodizee im vierten Buch und das Problem der Willensfreiheit im fünften Buch an. Zuerst die Fragestellung zur Theodizee, in einer Anrufung der Dame Philosophie durch Boëthius. Der, vom Ostgotenkönig Theoderich zum Tode verurteilt, wartet in seiner Zelle auf das Ende:

"3. sed ea ipsa est uel maxima nostri causa maeroris quod, cum rerum bonus rector exsistat, uel esse omnino mala possint uel impunita praetereant; quod solum quanta dignum sit ammiratione profecto consideras. ... 5. quae fieri in regno scientis omnia, potentis omnia, sed bona tantummodo uolentis dei nemo satis potest nec ammirari nec conqueri."

"3. Mein Kummer kommt zur Hauptsache aber daher, daß, obwohl ein immergütiger Lenker aller Dinge existiert, das Böse nicht nur grundsätzlich möglich ist, sondern auch straflos bleibt. Du gibst zu, daß dieser Umstand allein würdig ist, höchste Verwunderung hervorzurufen. ... 5. Daß diesem immer wieder so ist, unter der Herrschaft eines allwissenden, allmächtigen, aber allgütigen Gottes: darüber kann man nicht genug staunen und klagen."

- siehe Boëthius: Consolatio Philosophiae. Edited, with a Commentary, by James J. O'Donnell, University of Pennsylvania. Buch 4 Prosa 1. - Zum lateinischen Text, englischen Kommentaren dazu und zum Leben des Boëthius vgl. die Elektronische Bibliothek der Universität Virginia. Vgl. auch die sehr schöne Onlineausgabe in der Bibliotheca Augustana

Bezogen auf unsere Frage nach der zulässigen Interpretation des Konzeptes in der Situation seiner Rezeption ergäbe sich die folgende analogisierende Fragenvariante: wie kommt es, daß trotz einer hinreichend ausführlichen konzeptuellen Vorgabe paradigmatische Ausgestaltungen dieser oder jener - gern auch widersprüchlicher - Art möglich sind, ohne den Werkcharakter und das Prädikat "Kunst" für das Konzept infragestellen zu wollen?

Die Antwort der Dame Philosophie geht in die Richtung, daß der böse Widerpart im Theodizeeproblem - wir bewegen uns in ursprünglich religiös-moralischen Fragestellungen - Schwäche zeige, weil er entweder aus mangelnder Willenskraft, oder aber aus mangelndem Wissen oder aus einer Kombination aus beidem handelt. Damit sei er bemitleidenswert, und überhaupt zeuge das Stellen der Theodizeefrage von kleinem Geist. Im Rekurs auf die antike Mythologie und auf die Naturphilosophie bringt Boëthius folgende Verse, um den Dialog mit der Dame Philosophie veranschaulichend zu begleiten und sich zu einem neuen Selbstverständnis im Theodizeeproblem zu erheben, dem der Gedanke zugrundeliegt, daß der Habitus der praktisch-ethischen Tugend - die beim gehässigen Tyrannen nicht zu existiert - letztenendes doch nur eine Vorstufe der theoria darstellt - vgl. hierzu Dühring, Ingmar: Aristoteles. 1966, S. 470, bezogen auf Aristoteles: Nik. Ethik X 7, 1177b. Folgende Verse von Boëthius also:

"sunt etenim pennae uolucres mihi
quae celsa conscendant poli;
quas sibi cum uelox mens induit
terras perosa despicit,
aeris immensi superat globum
nubesque postergum uidet
quique agili motu calet aetheris
transcendit ignis uerticem,
donec in astriferas surgat domos
Phoeboque coniungat uias
aut comitetur iter gelidi senis
miles corusci sideris
uel quocumque micans nox pingitur
recurrat astri circulum
atque ubi iam exhausti fuerit satis

polum relinquat extimum
dorsaque uelocis premat aetheris
compos uerendi luminis.
hic regum sceptrum dominus tenet
orbisque habenas temperat
et uolucrem currum stabilis regit
rerum coruscus arbiter.
huc te si reducem referat uia
quam nunc requiris immemor,
haec, dices, memini, patria est mihi,
hinc ortus, hic sistam gradum.
quodsi terrarum placeat tibi
noctem relictam uisere,
quos miseri toruos populi timent
cernes tyrannos exsules."

"S'sind ja die eig'nen fliehenden Schwingen,
Die mich emporheben zum Himmelsgewölb'.
Ein froher Geist, wer das Irdische verachtet,
Der nied'ren Erdenwelt entgeht,
Der die unendlichen Lüfte durchstreicht,
Die Wolken unter sich ziehen sieht,
Der die höchsten Feuer durchschreitet,
Die glüh'n durch des Äthers Schwingen.
Der dann im Gehäus' der Sterne weilt
Und mal der Sonne Bahnen teilt,
Mal b gleitet den Marsch des eis'gen Greis', der Zeit
- Oder der flimmert im Verbunde der Sterne,
Wohin auch immer nächtens sie zucken -
Und dann wieder zurückeilt in den Kreislauf der Gestirne.
-- Schließlich aber, von Sattheit erschöpft,

Verläßt er den entferntesten Himmel.
Und kauert sich rücklings des sausenden Äthers
Das ehrwürdige Himmelslicht zu schau'n.
Hier hält der Könige Meister das Szepter
Und gebietet dem Weltenlauf die Zügel
Und beherrscht den beflügelten Wagen sicher
Wie auch ein jeglich' hervorblitzendes Geschick.
Falls hierher Dich der Weg zurückführt,
Den Du jetzt erfragst, Vergeßlicher,
Dann sag' Du dieses: Dies ist meine Heimat!
Dieser Aufstieg! Hier stand ich in Würde!
Und wenn es Dir dann beliebte,
Zurückgelassene Erdennacht zu beschauen:
Die die beklagenswerten Völker fürchten,
Die grausigen Tyrannen, die erblickst Du da machtlos!"

- vgl. Boëthius: Consolatio Philosophiae. Edited, with a Commentary, by James J. O'Donnell, University of Pennsylvania. Buch 4 Vers 1. - Elektronische Bibliothek der Universität Virginia, sowie Bibliotheca Augustana.

Trennt man in der aristotelischen Philosophie den Zweck vom Handeln - praxis - und vom Tun - poiesis -, so gelangt man zur zweckentfremdeten Schau bzw. Betrachtung des Göttlichen, womit Aristoteles vor allem die nicht weiter ableitbaren Prinzipien und Ursachen meint. Ausgedrückt wird dieses Schauen mit dem griech. Wort theorein, in dem die Vorsilbe "theo-" auf das Göttliche verweist, vgl. Ritter, Joachim: Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. Frankfurt a. M., 1969, S. 14ff. Und: Aristoteles: Metaphysik I 2, 983a 5-10.

Die theoretischen Wissenschaften - episteme theoretike - haben als Untersuchungsgegenstand das Seiende und die ersten Prinzipien und Ursachen, vgl. Aristoteles: Metaphysik I 2, 982b 9, Gott als sich selbst denkendes Denken - noesis noeseos -, ohne Intention einer direkten Utilität. Hier ist wiederum der Begriff der "Theorie" von dem der "Wissenschaft" zu trennen: bezieht sich theoria auf das freie Anschauen des Göttlichen und der göttlichen Ordnung, so begreift Wissenschaft das praktische Dasein und die leitende Einsicht in dieses, das Wissen der Gründe und Prinzipien und der Ursachen der Dinge, Aristoteles: Metaphysik VI 1, 1025b 3. Die theoria zielt nicht auf einen Nutzen für die Lebensführung ab.

Was die Frage des Wissens angeht, so sieht also auch Boëthius in der Nachfolge der antiken Philosophie eine Art des bios theoretikos bzw. der vita contemplativa als wesentlich für die Erkenntnis des (Welten-)Konzeptes an, wobei diese Lebensweise von den irdischen Lebensvollzügen getrennt gesehen werden kann - entsprechend der aristotelischen Trennung in praktische und theoretische Wissenschaften.

So braucht - und hier steht Boëthius an der Schwelle zur Scholastik - in diesen Zeilen die Frage nach der Rechtfertigung für ungerechtes Handeln gar nicht erst beantwortet werden. Es reicht, die abqualifizierten, falschen, jedoch irdisch-universalen Herrscher der individuellen, richtigen Würde des philosophisch Erkennenden gegenüberzustellen. Der wird des "regum ... dominus", des "Herrn der Könige" ansichtig, ohne daß in den Versen Kausalitäten angesprochen würden, die dessen Tun begründeten oder den Lauf der Sterne nach einer epistemisch verwertbaren Maßgabe. - In der Konzeptkunst findet ähnliches statt. Hier steht der zentrale Gedanke des individuellen, paradigmatischen Evidenzerlebnis innerhalb der Rezeptionssituation. Extrapolieren wir es noch stärker: durch die Evidenz des einzelnen Rezeptionserlebnisses wird die Frage nach der Widersprüchlichkeit verschiedener paradigmatischer Rezeptionssituationen und damit die Frage nach der künstlerisch verursachten Qualität und dem Potential des Konzeptes zurückgelassen, vielleicht sogar aufgegeben.

Andererseits wird dieses Evidenzerlebnis auch von der Willenskraft des Rezipienten abhängig gemacht, was eine Betrachtung der Wortkunst Boëthius' zeigt: "sunt etenim pennae uolucres mihi quae celsa conscendant poli", "S'sind ja die eig'nen fliehenden Schwingen, Die mich emporheben zum Himmelsgewölb'", Hervorhebung durch W.B. Hier wird ausgesprochen, daß es sich um eine eigene, eine individuelle Leistung des Subjektes handelt, die eigenverfügbare Fähigkeiten erfordert. Es ist die Einsicht, die sich in dem Adverb "etenim" ausdrückt, daß Wille und Fähigkeit vorhanden sein müssen, sich über das profane Erdengeschehen emporzuheben.

Das theorein, das Schauen der göttlichen Wirkzusammenhänge, ist hierbei eine simultane Angelegenheit, ausgedrückt im Deponens "intueri" bzw. im folgenden Text: "intuitus sum", lat. "(geistig) betrachten", "erwägen", "erblicken", "anschauen":

"37. sed si in mea, inquies, potestate situm est mutare propositum, euacuabo prouidentiam, cum quae illa praenoscit forte mutauero. 38. respondebo propositum te quidem tuum posse deflectere, sed quoniam et id te posse et an facias quoue conuertas praesens prouidentiae ueritas intuetur diuinam te praescientiam non posse uitare, sicuti praesentis oculi effugere non possis intuitum quamuis te in uarias actiones libera uoluntate conuerteris. 39. quid igitur, inquies, ex meane dispositione scientia diuina mutabitur, ut cum ego nunc hoc nunc illud uelim illa quoque noscendi uices alternare uideatur? 40. -- minime. omne namque futurum diuinus praecurrit intuitus et ad praesentiam propriae cognitionis retorquet ac reuocat; nec alternat, ut aestimas, nunc hoc nunc aliud praenoscendi uice, sed uno ictu mutationes tuas manens praeuenit atque complectitur."

"Aber wenn es in meiner Macht streht, so fragst Du, einen Vorsatz zu ändern, so kann ich doch die Vorsehung aushebeln, wenn ich einfach so das ändere, was sie vorhersieht. 38. Da sage ich Dir folgendes: es ist Dir tatsächlich möglich, Deine Vorsätze zu änderen, aber Du kannst dem vorhersehenden Blick nicht entgehen, in wieviele willentlich frei wählbare Handlungen Du auch wechselst, weil nämlich der untrügliche Blick der Vorsehung erkennt, daß Du Deine Vorsätze ändern kannst und ob Du dieses dann auch wirklich tust und in welche Richtung die Änderung Deines Willens führt. 39. Was noch? Soll etwa aus meinem Willen heraus das göttliche Wissen beeinflußt werden, in dem Sinne, daß jenes sich jedesmal mit den Änderungen meines Willens ändern soll? -- Keineswegs. Allem zukünftigen Geschehen eilt nämlich das Schauen des Göttlichen voraus und es versetzt das Zukünftige in eine alle Erkenntnis umfassende Gegenwart; und es ändert sich, und zwar nicht, wie Du schätzt, weil es mal das eine, mal das andere vorhersehen müßte, sondern es kommt allen Deinen willentlichen Veränderungen zuvor und faßt sie zusammen."

Hervorhebungen durch W.B. - vgl. Boëthius: Consolatio Philosophiae. Edited, with a Commentary, by James J. O'Donnell, University of Pennsylvania. Buch 5 Prosa 6. - Elektronische Bibliothek der Universität Virginia.

Daß diese Denkfigur dem Gedanken der zu erkennenden, umfassenden Thematisierung künstlerischer Semantisierungsprozesse in der Konzeptkunst ähnelt, zeigt die Zusammenfassung - neben zahlreichen anderen Ansätzen - der Forschung Thomas Drehers, die hier nicht zuletzt auch deswegen dargestellt wird, weil sie im Internet gut nachzuverfolgen ist, unter http://dreher.netzliteratur.net/homepage2.html. Zuerst die Kriterien Konzeptueller Kunst:

"Summary 1 Kriterien Konzeptueller Kunst Für Konzeptuelle Kunst charakteristisch sind: Selbstbezüglichkeit durch Semantisierung statt durch Bezüge von Kunstformen auf Kunstformen; Komplexierung der Semantik durch Reflexion über den Kunstbetrieb; Reflexivität beziehungsweise Reflexion der Reflexion durch eine Metasprache über semantische Selbstbezüglichkeit; Ausdifferenzierung in reflexives `Lesen? und partikularisierendes `Sehen? als zwei Gegenpole, zwischen denen Bewegungen und Gegenbewegungen der De- und Resemantisierung möglich sind. Thomas Dreher 1996", vgl. http://dreher.netzliteratur.net/3_Konzeptkunst_Kriterien.html.

Sodann, in der 2. Zusammenfassung zum Konzept von Kunst in der Konzeptuellen Kunst:

"Auf die Frage 'Was ist Kunst' gibt es, soll sie jenseits tradierter Gattungskriterien beantwortet werden, zwei Antworten von Konzeptuellen Künstlern: Der Künstler definiert den Status eines Gegenstandes oder einer Zeichenkombination 'als Kunst'. Kunst wird als Praxis der Kommunikation über Kunst verstanden, in der es viele Antworten geben kann.", vgl. http://dreher.netzliteratur.net/3_Konzeptkunst_Konzept.html.

Und schließlich ein Aspekt zu den verschiedenen Bereichen in der Konzeptuellen Kunst:

"Alltägliche, nicht als Kunstformen vorcodierte Präsentationsformen werden eingesetzt. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten wird auf mögliche Zeichenformen einer Präsentationsform gelenkt. Was im einzelnen mitgeteilt wird, dient nur als Modellfall einer umfassenderen Problematisierung von Zeichenfunktionen. ", vgl. http://dreher.netzliteratur.net/3_Konzeptkunst_Bereich.html.

Somit behält der Künstler die Herrschaft über das Ganze der Rezeptions-, Reflexions und Diskussionsmöglichkeiten, die sich lediglich als Modellfälle eines wie auch immer gearteten Konzeptes niederschlagen. Die Paradigmata fallen entsprechend der Disposition der Rezipienten aus. Daher kann in einem gewissen Rahmen auch von einer Freiheit des rezipierenden Subjektes gesprochen werden, ein Konzept so oder so zu verwirklichen, ohne daß die konkrete Realisierung im Widerspruch stünde zur Intention des Künstlers. - Im Gegenteil: die Praxis der Kommunikation über das, was da jeweils immer wieder modellhaft stattfindet, konstituiert in diesem Zusammenhang erst das konzeptuelle Verständnis von "Kunst".

Ein Konzept als formuliertes Konstrukt kann im künstlerischen Schaffensprozeß sinnstiftend fungieren. Allerdings wird immer eine Rezeptionssituation vorausgesetzt, die den Semantisierungsprozeß paradigmadisch darstellt. Der Künstler braucht sich um tw. widersprüchliche Semantisierungen nicht zu sorgen. Die können Teil der umfassenden und simultanisierenden theoria des Künstlers sein. Der Künstler selbst begibt sich in dieser Schau auf eine vermeintlich höhere Stufe des Wissens. Er tut dies in platonischer Hinsicht, indem er das Konzept als Abstraktum setzt. Und er tut dies in aristotelischer Hinsicht, wenn er die theoretische Schau der wichtigen, ursächlichen Prinzipien der paradigmatischen Semantisierung der Rezeption des Konzeptes gegenüberstellt und gleichzeitig die Semantisierung auf die praktischen Bedingungen des Kunstbetriebes rückführt. Man könnte sagen, dies sei, als Besorgung einer Kunsttheorie, ein ekklektizistisches Vorgehen (Boëthius selbst war ekklektizistischer Platonist).

Daß allerdings Wortsprache statt Bildsprache betrieben wurde, sprengte das Selbstverständnis der Bildenden Kunst und stellte seinerzeit durchaus eine neue Kunstform dar. Dadurch kann aber auch nicht mehr ohne weiteres behauptet werden, daß bereits vor der Erstellung von Kunstwerken formulierte Gedanken Dissoziationen darstellten, die die Idee vom bildkünstlerischen Schaffen entfremdeten, weil in der Tradition der Konzeptkunst kein bildkünstlerisches Schaffen mehr stattfinde, wie wir in Analogisierung zu Boëthius' Gesang über das theorein und zum Umstand, daß die poietischen, also die verfertigenden Tätigkeiten (mit Akkusativobjekt) intensional von den theoretischen Wissenschaften zu trennen seien, behaupten könnten.

Hingegen war und bleibt das Schreiben über Kunst, sei es nun Konzeptionelle Kunst oder Konventionelle Bildende Kunst, ein paradigmatischer Sonderfall der Semantisierung von Kunst.

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