Josef Bordat: Menschenrecht auf Migration? Eine Spurensuche bei Francisco de Vitoria.
I.
Am 12.10.1492 erreichte Christoph Kolumbus mit der „Niña“, der „Pinta“ und der „Santa Maria“ die Bahama-Insel Guanahani, die er San Salvador nannte. Kolumbus und seine Leute wurden mit offenen Armen empfangen. Am 12.07.2004 erreichte Elias Bierdel mit der „Cap Anamur“ den Hafen Porto Empedocle auf Sizilien. Cap-Anamur-Chef Bierdel und sein Kapitän Stefan Schmidt wurden nicht mit offenen Armen empfangen, sondern verhaftet. Die an Bord befindlichen 37 Flüchtlinge aus dem krisengeschüttelten Sudan wurden in Abschiebehaft genommen.
In den Jahren nach der „Entdeckung Amerikas“ erreichten immer wieder Schiffe aus Europa die Karibikinseln „Westindiens“. Die Seeleute, die den Krankheiten an Bord der Schiffe getrotzt und die gefährliche Überfahrt überlebt hatten, fanden in Amerika eine neue Heimat. In den letzten Jahren erreichten immer wieder Schiffe aus Afrika die Kanarischen Inseln. In den ersten acht Monaten diesen Jahres waren es über 20.000 Flüchtlinge, die die riskante Überfahrt überlebten. Von einer neuen Heimat in Europa kann aber nur in den seltensten Fällen die Rede sein.
Zwischen diesen Ereignissen liegt über ein halbes Jahrtausend. Ich möchte versuchen, einen Zusammenhang herzustellen, indem ich für die aktuelle Frage nach einem Menschenrecht auf Migration eine Antwort suche bei einem Zeitgenossen des Kolumbus, bei Francisco de Vitoria.
II.
Francisco de Arcaya y Compludo, um 1492 im kastilischen Burgos geboren, trat dort 1504 unter dem Namen Francisco de Vitoria in den Dominikanerkonvent San Pablo ein. 1509 zum Studium nach Paris entsandt, gab Vitoria unter den Einflüssen von Humanismus und nieder-gehendem Nominalismus gemeinsam mit seinem flämischen Mitbruder und Lehrer Peter Crockaert den zweiten Teil von Thomas’ Summa Theologica heraus. Während seiner Pariser Studienzeit ist ihm auch die Frage nach der Legitimität der spanischen Conquista der Neuen Welt bekannt geworden, denn der dort lehrende schottische Nominalist John Maior diskutierte als einer der ersten diese Fragen in seinem 1510 erschienenen Sentenzenkommentar. Vor seinem 1513 beginnenden Studium der Theologie schulte sich Vitoria in den Künsten, machte sich mit dem Griechischen vertraut, eignete sich durch intensive Lektüre auch das Gedankengut nicht im Kollegium vertretener Lehrer an und beschäftigte sich mit Mathematik und Astronomie. 1523 nach Spanien zurückgekehrt, wirkte er bereichernd und konsolidierend auf die Restauration der scholastischen Theologie ein. Drei Jahre nach seiner Heimkehr folgte Vitoria am 7. Dezember 1526 einem Ruf an das geistige Zentrum Spaniens, an die Universität von Salamanca. Mit der so genannten Schule von Salamanca ging ein „Meilenstein der Spätscholastik“ (Justenhoven 1991: 9) auf Vitorias Lehrtätigkeit zurück. Sie endete erst mit seinem Tode am 12. August des Jahres 1546.
III.
Zu Lebzeiten schrieb Vitoria recht wenig und gab keine eigenen Schriften heraus. Als sein Hauptwerk gelten die Relectiones (Vorlesungen), von denen er in den 20 Jahren seiner Lehrtätigkeit 15 gehalten hat. Die Vorlesungen lassen zwei thematische Schwerpunkte erkennen. Zum einen kreisen sie um das Programm einer Kirchenreform auf der institutionellen Ebene, d.h. einer neuen Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat, der Stellung und Kompetenz des Papstes und des Konzils sowie des Verhältnisses von Zeitlichem und Geistlichem. Zum anderen greifen sie die theologischen, ethischen und juridischen Fragen auf, die durch die Conquista aufgeworfen worden waren, wie etwa die Frage nach der Heilsfähigkeit derer, die unverschuldet ohne Kenntnis des Evangeliums leben, und insbesondere die Frage, welche Gründe die spanische Landnahme rechtfertigen können und welche nicht.
Vitoria, der sich zu Beginn der kolonialethischen Diskussion im Rahmen der Junta de Burgos (1512) noch in Frankreich aufhielt, kannte die Schriften angesehener Theologen und Juristen zu diesem Thema, doch blieben diese gerade hinsichtlich kritischer Anmerkungen gegenüber den Rechtstiteln der Conquista auf einer eher allgemeinen Ebene, so dass er in der vertieften Auseinandersetzung mit den Legitimationsfiguren akademisches Neuland betrat. Dabei stand Vitoria im Gegensatz zu Denkern wie Erasmus von Rotterdam in einer Wissenschaftstradition, welche die Einheit von Religion, Ethik, Recht und Politik nicht in Zweifel zog, so dass seine Leistung auch in einem Transfer überlieferter und gereifter Ansichten auf die unbekannte Situation in der Neuen Welt bestand.
Vitoria ist derjenige, der das Völkerrecht weiterentwickelt, indem er die Bestimmungen des römischen ius gentium mit der scholastischen Theologie koppelt, den Bedürfnissen des florierenden Welthandels anpasst und der ausgeübten staatlichen Gewalt eine zeitgemäßere Legitimation anbietet. Ihm kommt dabei unbestreitbar der Verdienst zu, das Völkerrecht vom ius gentium, also vom Recht der Völker, zum ius inter gentes, also zum Recht zwischen den Völkern, weiterentwickelt zu haben. Die zentralen universalistischen Ideen des christlichen Naturrechts werden bei Vitoria somit auf internationale und interkulturelle Beziehungen angewandt. Damit wurde er fast ein Jahrhundert vor Hugo Grotius zum Vater des Völkerrechts im neuzeitlichen Verständnis des Begriffs.
Er entwarf die Vision einer einig existierenden Menschheit (totus orbis), die in ihrer Verschiedenheit hinsichtlich Rasse, Kultur und Religion als universale Weltgemeinschaft, als res publica aller Nationen, allein das abstrakte Völkerrecht zur konstitutionellen Basis erheben darf und nicht etwa tradierte und rein theologisch begründete Überlegenheitsansprüche einer Minderheit. Kultureller Pluralismus, der den Anderen zur Toleranz nötigt, ist bei Vitoria an universalistische Prinzipien gebunden, die eine frühe Form von Menschenrechten darstellen. Mit dem Begriff des totus orbis entstehen so symmetrische Beziehungen, die durch das Völkerrecht im Geiste der Toleranz geregelt werden.
IV.
Vitoria entwickelt ein Konzept des Menschenrechts auf Freizügigkeit und Migration mit den Komponenten Einwanderungs-, Niederlassungs- und Einbürgerungsrecht. Er geht dabei von dem naturrechtlichen Vernunftpostulat „communia sunt omnium“ (Vitoria 1952: 79) aus, also von der unbestreitbaren Tatsache, dass zunächst alle Dinge allen gemeinsam waren, es jedem erlaubt gewesen sei, überall hinzugehen und sich überall niederzulassen. Vitoria schließt daraus, dass seitdem das ganze Menschengeschlecht eine Art universale Staatenrepublik bilde. Aus dieser Annahme, theologisch gestützt durch den Verweis auf das christliche Grundgebot diliges proximum tuum aus dem Matthäus-Evangelium, entsteht ein Migrationsrecht, dessen Prinzip es ist, dass „jedermann die von ihm angestrebten Regionen aufsuchen und dort so lange verweilen darf, wie es ihm beliebt“ (Vitoria 1952: 77). Es dürfe „kein Volk anderen Völkern die Einwanderung verweigern [...]“, sagt Vitoria (1952: 77) im Haupttitel seines Völkerrechtsentwurfs, zunächst mit dem Blick auf die Spanier, die sich in Lateinamerika niedergelassen hatten. Doch prinzipiell gilt dies auch für die Indios, die nach Spanien einwandern möchten. Er entwirft damit ein Migrationsrecht, das globale Freizügigkeit gewährt und schlägt dazu eine Einbürgerungsregelung nach dem ius soli-Prinzip vor.
Vitoria behauptet in diesem Haupttitel ferner, dass „kein Volk anderen Völkern den freien Handel verbieten [...] und von der Benutzung der Meere, Häfen und Flüsse als Gemeingut des ganzen Menschengeschlechts ausschließen dürfe“ (Vitoria 1952: 77). Er gesteht in seinem ius commercii den Spaniern Umgang mit und Beteiligung an gemeinschaftlich nutzbaren Dingen der Indios zu, wenn diese gleichfalls anderen Ausländern offen stünden. Ausdrücklich bezieht er hierbei die Nutzung kollektiver Naturschätze ein, die ohne Besitzer laut Völkerrecht ihrem Finder gehörten.
Vitoria koppelt sein liberales Migrationsrecht also mit einem nicht minder liberalen Handelsrecht, das er aus einem allgemeinen Nutzungsrecht entwickelt. Ohne Ansehen der Nationen wird damit der freie Warenaustausch völkerrechtlich festgelegt.
Vitorias Plädoyer für freie Migration, freie Nutzung der Ressourcen und freien Handel schließt die für uns heute entscheidende Überlegung mit ein, dass dies alles nicht zum Nachteil einer beteiligten Partei geschehen darf. So gelten die genannten Grundsätze nur, solange der Migrant die „Achtung des Gastrechts“ (Vitoria 1952: 79) nicht missbrauche, d.h. solange er in der Region seiner Wahl „keinen Schaden anrichtet und kein Unrecht begeht“ (Vitoria 1952: 77). Analog endet der Freihandel und die Exploration dort, wo die Einheimischen diese berechtigterweise nicht dulden, d. h. dort, wo das Nutzungsrecht an einer Sache durch Aneignung derselben kein allgemeines mehr ist.
V.
Die Vorstellung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hinsichtlich der Migration ist eine andere als die Vitorias: In Art. 13, 1 wird Freizügigkeit nur innerstaatlich proklamiert, in Art. 13, 2 auf Auswanderung und Rückkehr ins eigene Land beschränkt; von einem Einwanderungsrecht ist nicht die Rede. Wenn wir Einwanderung steuern möchten, ist es nicht im Sinne der Menschenrechte, mit Quoten und Beschränkungen dem Verwertungsinteresse der Wirtschaft gerecht werden zu wollen und Unterteilungen vorzunehmen in Migranten, die uns nutzen und Migranten, die uns ausnutzen. Es hat ferner keinen nachhaltigen Wert, Migration zu begrenzen bzw. gewaltsam zu verhindern, indem man Europa zur Festung ausbaut oder an der Grenze zwischen Mexiko und Kalifornien einen dauerhaften Kriegszustand hinnimmt und auf mehr (unerwünschte) Migranten mit mehr Polizisten und mehr Soldaten reagiert. So werden nur die Symptome bekämpft, nicht aber die Ursachen. Andererseits kann ein Menschenrecht auf Migration und Freizügigkeit für alle nur eine utopische Lösung sein, im Sinne des bloch’schen „Noch-Nicht“.
Grundlegend für eine realistische Lösung ist die Analyse der Migrationsursachen. Sie beginnt mit der Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen unserer Ressourcenverschwendung und den Umweltkatastrophen in der „Dritten“ Welt als eine Ursache für Migration. Weiterhin des Zusammenhangs zwischen unserer Vergangenheit als europäische Kolonialmächte und den politischen Spannungen, den Kriegen und Bürgerkriegen in der „Dritten“ Welt als eine andere Ursache für Migration. Und schließlich des Zusammenhangs zwischen dem von uns organisierten weltwirtschaftlichen System und der sozialen Situation in der „Dritten“ Welt als eine weitere Ursache für Migration. Wenn Menschen auswandern, ihre Heimat verlassen, dann tun sie dies aus guten Gründen. Dann gibt es Schubfaktoren, die so stark sind, dass sie keinen anderen Ausweg sehen, als woanders neu anzufangen. Diese Schubfaktoren können wir beeinflussen. Wenn wir möchten, dass die Menschen in ihrer Heimat bleiben und ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten der Entwicklung ihres Landes zur Verfügung stellen, dann müssen wir diese Schubkräfte schwächen.
VI.
Es geht also nicht um die Verbesserung der faktischen oder rechtlichen Migrationsbedingungen, sondern um die Veränderung der Bedingungen, die als Ursachen, als Anlässe von Migration auftreten. Um es mit den Worten Slavoj ´i¸eks zu sagen: „[...D] Lösung [kann] nicht darin bestehen [..], die Mauern niederzureißen und sie alle hereinzulassen, wie die billige Forderung weichherziger liberaler Radikaler lautet. Die einzige wahre Lösung ist die, die wahre Mauer einzureißen, nämlich die sozioökonomische: die Gesellschaft selbst zu verändern, so dass die Menschen nicht mehr länger verzweifelt versuchen, ihrer eigenen Welt zu entkommen.“ (2005: 25). Ich denke, dass man dies auch auf die „Weltgesellschaft“ beziehen kann.
Migration – bzw. die Verhinderung derselben durch Ursachenbeseitigung – wird so zum Schlüssel der künftigen Weltordnung, zum Dreh- und Angelpunkt internationaler Beziehun-gen, zum Testfall für eine menschliche Globalisierung und kann damit – durchaus auch im positiven Modus – als Globalisierungsregulativ ansehen werden, das uns seismographisch den Zustand bestimmter Weltregionen zeigt.
Literatur
Der Autor
Josef Bordat (1972) lebt und arbeitet in Berlin. Nach einem Studium in Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin (Diplom), einem Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Universidad Nacional de San Agustín in Arequipa in Perú und einem Magisterstudium in Philosophie an der TU Berlin promovierte er über "Gerechtigkeit und Wohlwollen. Das Völkerrechtskonzept des Bartolomé de Las Casas." - Neben Übersetzungs-, Vortrags- und Publikationstätigkeiten ist er Mitherausgeber des "International Journal of the Humanities" und Mitarbeiter am Schwerpunktthema "Transformation der Kultur. Kulturelle Veränderungen im 21. Jahrhundert" des Marburger Forums.
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777