Josef Bordat: Der schöne Staat. Die Überwindung der kantischen Republik im "Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus" (1796).
Eine zentrale Aufgabe der Staatsphilosophie ist die Klärung der Voraussetzungen, Bedingungen, Umstände und Folgen des historischen Prozesses der Staatsgenese, insbesondere mit Blick auf die Freiheit des Individuums im Übergang vom Naturzustand in den Zustand gesellschaftlicher Ordnung. Darum geht es in den kontraktualistischen Staatsentwürfen des Thomas Hobbes, jener minimalistisch-szientistischen Konstruktion zur Sicherung der friedlichen Koexistenz antagonistischer Lebewesen, des John Locke, bei dem der liberal-minimalistische Staat aus freiwilligem Zusammenschluss zur Deliberation entschlossener Bürger entsteht und des Jean-Jacques Rousseau, dessen maximalistisch-revolutionärer Staat sich als Ergebnis der Übereinstimmung von einzelnem und allgemeinem Willen bildet. Der Gesellschaftsvertrag sichert die Freiheit des Individuums, auch um den Preis absoluter Herrschaft Einzelner, der Staat ist substantiell gerechtfertigt, zunächst (Hobbes) unabhängig von seiner konkreten Gestalt, dann (Locke, Rousseau) gebunden an demokratische Prinzipien. Auch der weltumspannende Republikanismus Kants steht in dieser Tradition. Er betont zwar - in Anlehnung an die liberalen Ideen der englischen und französischen Aufklärung - auch die Notwendigkeit von Freiheit im Staat und vor dem Staat und nicht nur durch den Staat, fasst das rationale Räsonnieren jedoch als Beschäftigung auf, die den funktionalistischen Staat nicht unterwandern darf. "Räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt, aber gehorcht!", das Motto Friedrichs des Großen, wird durchaus akzeptiert und dem "aufgeklärten Monarchen" zugute gehalten.[1]
Das "Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus"
Simanowiz, Ludovike: Friedrich
Schiller. 1794.
Im Gegensatz dazu tritt der Deutsche Idealismus für einen ästhetischen Freiheitsbegriff ein, bei der jede Staatlichkeit nur störend wirkt.[2] Dies wird deutlich im so genannten "Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus", ein kurzer Text aus der "zweite[n] Hälfte des Jahres 1796"[3], der lange verschollen war und erst 1913 bei einer Auktion der Firma Leo Liepmannssohn in Berlin, die Stücke aus dem Nachlass des Hegel-Schülers Friedrich Förster versteigerte, wieder aufgetaucht ist. Zur Frage der Verfasserschaft entstand von Beginn der Entdeckung des Manuskripts an eine Kontroverse. Von dem unstreitigen Fakt ausgehend, dass es sich um Hegels Handschrift handelt, wurde zum einen behauptet, es handele sich um eine Abschrift Hegels, der Text stamme ursprünglich von Schelling [4] oder Hölderlin [5], zum anderen, es handele sich um einen Text, der auch inhaltlich ganz Hegel [6] zuzuschreiben ist. Schillers (Mit-)autorenschaft ist umstritten, vertreten wird sie etwa von Michele Cometa [7], gleichwohl passen die Ausführungen zur Freiheit und zum Staat zu Schillers Denkweise. Der Einfluss Schillers, für den die politische Freiheit "das vollkommeste aller Kunstwerke"[8] darstellt und der mit den mutmaßlichen Autoren Hegel, Hölderlin und Schelling bestens bekannt war, soll in einer Analyse des Staatsbegriff im "Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus"[9] nachgewiesen werden. Ich möchte mich in der Auslegung also auf den Abschnitt über das "Menschenwerk" von "Staat, Verfaßung, Regierung, Gesetzgebung" beschränken. Die Textstelle lautet: "Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran - will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! - Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, daß hier alle Ideen vom ewigen Frieden usw. nur untergeordnete Ideen einer höhern Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfaßung, Regierung, Gesetzgebung - bis auf die Haut entblößen."[10]
Der Staat als elendes Menschenwerk
Zentraler Begriff dieses Abschnitts ist der des Staats. Der Staat wird erstens als "mechanisch" und zweitens als "Menschenwerk" bezeichnet, wobei dieses wiederum als "elend" charakterisiert wird.
Dass der absolutistische Staat als mechanisch empfunden wurde, erhellt sich bei einer Betrachtung der Entstehung des modernen Staates beim oben erwähnten Hobbes. Die Individuen, entschlossen, dem naturrechtlichen bellum omnium contra omnes ein Ende zu bereiten, schließen einen Vertrag miteinander, der einen Souverän - in Hobbes Konzept gleichbedeutend mit dem Staat - begünstigt, Regelungen zu treffen, die ohne die Macht des Souveräns auf kriegerischem Wege ausgefochten würden. Der Souverän seinerseits ist nicht vertraglich gebunden, er steht mithin "absolut" über den Vertragspartnern.
Der Begriff der Maschine wurde in der Renaissance unter dem Einfluss der naturwissenschaftlichen Fortschritte und des rationalistischen Denkens auf den Staat übertragen. Die mechanistische Weltsicht Galileis, Descartes' und Leibnizens ließ das Militär zur "gedanken- und willenlosen Maschine", Philosophie und Jurisprudenz zum "mechanischen Räsonnieren" werden.[11] Der mechanische Staatsbegriff des Absolutismus wurde erst in der Spätaufklärung wirkungsvoll kritisiert und im 19. Jahrhundert durch einen organischen ersetzt, dessen Idee noch heute Begriffen wie dem des Staatsorgans zugrunde liegt. So kritisiert Herder vehement den "wohleingerichteten Maschinenstaat"[12] und Schiller bezeichnet den Staat als "Uhrwerk"[13]. Kant fordert eine menschenwürdige Behandlung aller durch den Regenten, da der Mensch "mehr als Maschine ist"[14]. Bei Fichte erscheint der Staat dann schon als Organismus[15], dessen einzelne Glieder zusammenwirken müssen, wenn er seine Aufgabe, die Verwirklichung von Recht, erfüllen will [16], wobei in seinen Frühschriften die Charakterisierung des Menschen als Maschine, Räderwerk und Mechanismus durchaus gebräuchlich ist.[17]
Im Systemprogramm wird allerdings, entgegen den von Kant und Fichte erarbeiteten Fortschritten, wieder auf die Maschinenmetapher zurückgegriffen, um den Staat als gänzlich überwindungswürdig darzustellen. Es ist offenkundig, dass die Verfasser aus Enttäuschung über und in Anspielung auf die nach wie vor absolutistischen Zustände in Deutschland Begriffe wie "mechanisch", "Maschine" und "Räderwerk" verwenden.
The Hundred Greatest Men.
New York, 1885: Immanuel
Kant.
Der Begriff "Menschenwerk" ist zunächst in Abgrenzung zur Gottesschöpfung zu verstehen: Kultur ist Menschenwerk, Natur Gottesschöpfung. Der Mensch zimmert sich den Staat selbst zurecht, um dann in dieser "selbst erbauten Staats-Maschine"[18] gefangen zu sein und versklavt zu werden, so, "als sei der Staat allein zur Sklaverei erfunden worden"[19]. Dass menschliches Handeln nicht vollkommen sein kann, bedarf keiner weiteren Erörterung, aber ist es deshalb statthaft, von einem "elenden" Menschenwerk zu sprechen? Diese Begrifflichkeit geht auch auf Kant zurück, der vor dem Hintergrund des Sündenfalls alles Menschenwerk als "böse" ansieht [20], andererseits aber, und das spricht für den Staat, in jenem "elenden Menschenwerk" die einzige Möglichkeit zur Überwindung des "menschlichen Elends" sieht. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem absolutistischen Staat, der den an und für sich freien Menschen mechanisiert und versklavt, ist es also sicherlich naheliegend, von "elendem Menschenwerk" zu sprechen. Doch andererseits verhindert nach Kant nur die Gründung eines Staates, dass der Mensch zum "elendesten unter allen Weltwesen"[21] wird. Somit ist es nach Kants Auffassung, die sich hierbei in der eingangs angedeuteten staatsphilosophischen Tradition befindet, nicht nur klug, sondern auch eine Pflicht des Menschen, in den Rechtszustand des Staates zu treten.
Kant liefert die Basis für die Staatskritik des Systemprogramms. Mit Kant gemein hat das Systemprogramm jedoch nur den Ansatz einer Gegenüberstellung von Menschheitsideal und der Wirklichkeit des Maschinenstaats, von der Freiheit des Menschen und der Versklavung im staatlichen Räderwerk. Denn Kant will mit seiner Kritik "nur" auf die Republik als bessere Staatsform hinaus. Die radikale Forderung des Systemprogramms geht indes weiter: Der Staat in seiner Rechtsverfassung solle aufhören und durch einen ästhetischen Staat ersetzt werden, welcher der ursprünglichen Natur des Menschen näher ist. Das Systemprogramm geht also mit Kant über Kant hinaus. Wie ist dies zu deuten? Welche staatstheoretischen Konsequenzen erwachsen daraus?
Staat, Recht und Freiheit
Das Systemprogramm misstraut dem Ansatz Kants, altes Elend durch neues Elend zu überwinden und fordert daher die Überwindung des Staats, damit Freiheit unmittelbar und ohne Vermittlung über einen Rechtszustand verwirklicht wird. Pöggeler sieht in dem Überwindungsgedanken einen grundsätzlichen Widerspruch: So werde die Idee des Friedens als Ergebnis eines Rechtszustands des Staates vorausgesetzt, um auf dieser Basis eben jenen Staat hinter sich zu lassen.[22] Dennoch macht der Text des Systemprogramms deutlich, dass jeder Staat und mit ihm jede Konzeption eines Friedens, der auf einer bürgerlichen Verfassung beruht, als unverträglich mit der Idee der Menschheit anzusehen ist.
Um zu verstehen, warum Recht als Fundament des Staates und Freiheit des Menschen als Gegensätze gedacht werden, sowohl von Schiller, als auch im Systemprogramm, muss man sich die maßgebliche Definitionen des Rechts bei Kant in Erinnerung rufen. Kant meint, das Gesetz "fußt sich [...] auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges"[23] und führt weiterhin aus: "Recht und Befugnis zu zwingen bedeutet also einerlei."[24] Wenn hinter dem Recht nicht mehr als Zwang gedacht wird, ist offenbar, dass Freiheit zum Widerpart des Rechts werden muss und Schillers Idee der Freiheit, verstanden im Sinne der Rezeption im Systemprogramm, mit der Sphäre des Rechts inkommensurabel ist. Das Systemprogramm setzt gegen den Rechtsgrund des Staates die Ästhetik, die staatsphilosophisch vereinnahmt und gedeutet wird, verbunden mit dem Wunsch nach Rückkehr in die Ursprünglichkeit, die durch Recht und Reflexion zerrissen wurde. Dies geschieht in deutlicher Anlehnung an Schiller, der die Kultur des verrechtlichten Staates geißelt: "Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken auf eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite die harmonischen Kräfte."[25]
Mit den Interpretamenten einer "neuen Religion" und einer "neuen Mythologie" folgt insbesondere Hölderin der Staatsphilosophie Schillers, der seinerseits im zentralen Begriff des "Spiels", das auch Dichtung sein kann, jene "neue Kunst" etabliert sieht. Der homo ludens scheint in der frühen Phase des Idealismus die Folie gewesen zu sein, vor der das Spannungs-verhältnis von individueller politischer Freiheit und verrechtlichter, geschäftiger Staatlichkeit verhandelt wurden. Nur so werden die Skepsis gegenüber Recht und Ordnung und der starke Bezug zur Ästhetik erklärbar.
Die Ästhetik der Freiheit und die Erziehung des Menschen
Bei Schiller ist der "Geschmack" die Grundlage des ästhetischen Staates [26], der mit der Gesellschaft zusammenfällt: "Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, soweit der Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet."[27] Die soziale Integration im ästhetischen Staat ist eine der vollkommenen Freiheit, abzugrenzen vom kontraktualistischen Bindungsduktus des einschränkenden und mit Zwangsgesetzen [28] zur Form gebrachten Rechtstaats und ebenso vom "ethischen Staat der Pflichten"[29]: "Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt - wenn er sich ihm in dem ethischen Staate der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er im Kreis des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reiches."[30]
Jeder "Mitspieler" in diesem Gesellschaftsspiel ist darauf angewiesen, nicht als "Mittel" in irgendwelche Zwecke des anderen eingebunden zu werden, wie dies im Rechtstaat zwangsläufig regelmäßig der Fall ist. Diese Bindungslosigkeit, die an Kants humanitas-formel des Kategorischen Imperativ erinnert, lässt sich dabei im ästhetischen Staat deshalb realisieren, weil die Selbstdarstellung des Menschen im gesellschaftlichen Umgang die Freiheit von eigennützigen Interessen voraussetzt. Kant hatte gefordert: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."[31]. Der Mensch ist damit Zweck an sich selbst, er ist Selbstzweck. Das heißt umgekehrt aber auch, dass überall dort, wo der Mensch als Mittel zu einem vermeintlich höheren Zweck dient, seine Würde verletzt wird. Die ist insbesondere auch in einem Staat der Fall, der die individuelle Freiheit unterdrückt, die im Systemprogramm eine ästhetische Konnotation erhält.
Es wird deutlich, dass der mit Schillers Konzept verbundene Entwurf eines ästhetischen Erziehungsgedankens prägend war für das Systemprogramm. In Hölderlins Programm einer ästhetischen Volkserziehung, seinem Werk Neue Ästhetische Briefe zur Erziehung des Menschen, ist dieser Gedanke ebenfalls prägend. In einem Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796 - kurz darauf entstand das Systemprogramm - kündigt er sein Werk an und fasst das Anliegen desselben zusammen: "In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserm Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, - theoretisch, in intellectualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe ,Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen' nennen. Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen."[32] Für Hölderlin, der hier nicht nur von Schiller, sondern auch von Lessing beeinflusst scheint, geht es um die Frage, wie der durch die gesellschaftliche Ordnung mit sich selbst in Widerspruch geratene Mensch einer neuen Menschwerdung zugeführt und damit gleichsam sich selbst zurückgegeben werden kann. Wie Schiller gibt auch Hölderlin darauf keine politische Antwort, nachdem die politischen Erwartungen zur "Besserung des Menschengeschlechts"[33] im Verlauf der Französischen Revolution, welche er zunächst begeistert begrüßt hatte, herb enttäuscht wurden, sondern versteht die Aufgabe als eine der Bildung und Erziehung, die der Kunst ihr Eigenrecht gibt, sofern sie den Menschen mit sich selbst bekannt macht und ihn auf sich selbst zurückführt. "[D]ie Kunst findet ihre Aufgabe nicht in der politischen Dienstbarkeit, sondern in der Rückverweisung des Menschen auf sich selbst."[34] Die Poesie soll als "Lehrerin der Menschheit" fungieren. Der Einfluss Schillers ist unübersehbar: Sobald die Poesie die höhere Würde einer Vernunft und Sinnlichkeit, Mensch und Natur verbindenden Kraft wiedererlangt hat, werden "alle übrigen Wissenschaften und Künste aufhören" und "keine Philosophie, keine Geschichte mehr" sein.[35] Alles wird Dichtung. Dieses Ziel soll nach Hölderlin durch eine Religionsstiftung realisiert werden, die eine Mythologie der Ideen sein soll. Der Mythos steht im "Dienste der Ideen", eine Mythologie der Vernunft soll konstituiert werde , die die Einheit von Mensch und Natur gewährleistet.
Das verbindende Element von Vernunft und Sinnlichkeit kann also in einer ästhetischen Volkserziehung gesehen werden, die als neue Religion auftritt und den Rechtsbegriff des Staates kompensiert. Der Schlusssatz des Systemprogramms, der an Lessings Erziehungs-ideal [36] (Gott als Erzieher, die Offenbarung als Erziehungsmittel, "völlige Aufklärung"[37] als Erziehungsziel) erinnert, weist in eine solche Richtung: "Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein." In Lessings Erziehung des Menschengeschlechts heißt es weiter: "Nein, sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch [...] das Gute tun wird, weil es das Gute ist [...]".[38] Und das Systemprogramm verspricht: "Dann herrscht ewige Einheit unter uns."
Die Menschen treten demnach nicht über Rechtsfiguren in Beziehung zueinander, sondern durch eine ästhetisch erfahrbare, Freiheit und Gleichheit verwirklichende Volksreligion, die - und darin liegt wohl ein Widerspruch - einerseits "vom Himmel" kommt, andererseits das "Werk der Menschheit" ist. Und: War nicht alles Menschenwerk ein elendes? [39]
Fazit
Festzuhalten bleibt mithin, dass dieser Deutungsansatz zwischen Poesie und Schönheit, Religionsstiftung und Mythologie der Vernunft zwar das kantische Konzept des autonomen Vernunftgebrauchs wenn nicht ganz hinter sich lässt, so doch zumindest einer romantisch-mythologischen Erneuerung unterzieht, jedoch auch dieser Entwurf Widersprüche erzeugt und Fragen offen lässt. Eine davon könnte lauten: Wenn die "ästhetische Erziehung zum Staat [..] zu einer Erziehung zum ästhetischen Staat [führt]"[40], wie sieht dieser Staat dann aus? Sind dann alle Probleme des mechanischen Staatsgebildes gelöst? Ist es überhaupt vorstellbar, einen Staat zu konzipieren jenseits einer Rechtsordnung, die für die Sicherheit und Ordnung zum Wohle aller einschränkend in das freie Handeln des Menschen eingreift?
Schiller jedenfalls sieht die Realisierungschancen des Ideals seines ästhetischen Staats mit Blick auf die Geschichte eher skeptisch: "In der Tat muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre."[41].
Anmerkungen:
[1] Vgl. Kant [1]: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie. Göttingen 1967, S. 61. In diesem Zusammenhang sei auf Kants Unterscheidung zwischen Privatgebrauch (verboten) und öffentlichem Gebrauch der Vernunft (geboten) verwiesen.
[2] Mit Ausnahme Fichtes, dem der Staat noch eine Anstalt ist, die - ganz im hobbesschen Sinne - durch Machtanwendung für die Sicherheit und äußere Freiheit ihrer Mitglieder zu sorgen hat.
[3] Jamme / Schneider: Mythologie der Vernunft. Hegels "ältestes Systemprogramm" des deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1984, S. 72, Anm. 34.
[4] So u.a. Rosenzweig (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund. Heidelberg 1917), Strauß (Hölderlins Anteil an Schellings frühem Systemprogramm. In: Deutsche Viertel-jahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte, 5. Jg. [1927], S. 679-734), Tilliette (Schelling als Verfasser des Systemprogramms? In: Bubner (Hrsg.): Das Älteste Systemprogramm. Hegel-Studien, Beiheft 9, Hegel-Tage Villingst 1969, Bonn 1969, S. 35-52), Dinkel (Der junge Hegel und die Aufhebung des subjektiven Idealismus. Bonn 1974) und Frank (Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Frankfurt a. M. 1975).
[5] So u.a. Böhm (Hölderlin als Verfasser des "Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus". In: Deut-sche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte, 4. Jg. [1926], S. 339-426) und Strack (Nachtrag zum "Systemprogramm" und zu Hölderlins Philosophie. In: Hölderlin-Jahrbuch, 21. Jg. [1978/79], S. 67-87).
[6] So u.a. Pöggeler (Hegel, der Verfasser des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. In: Hegel-Studien, Beiheft 4, Hegel-Tage Urbino 1965, Bonn 1965, S. 18-31), Düsing (Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre. In: Bubner (Hrsg.): Das Älteste Systemprogramm. Hegel-Studien, Beiheft 9, Hegel-Tage Villingst 1969, Bonn 1969, S. 53-90), Harris (Hegel's Development. Toward the Sunlight 1770-1801. Oxford 1972, S. 249-257) und Franz (Hölderlin und das "Älteste Systemprogramm". In: Hölderlin-Jahrbuch, 19. u. 20. Jg. [1975-77], S. 328-357).
[7] Cometa: Iduna. Mitologie della ragione. Il progetto di una "neue Mythologie" nella poetologia preromantica: Friedrich Schlegel e F. W. J. Schelling. Palermo 1984.
[8] Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. In: Friocke / Göpfert (Hrsg.): Sämtliche Werke. Bd. 5 (Erzählungen / Theoretische Schriften), München 91993, S. 570-669, 2. Brief (S. 572).
[9] Im folgenden spreche ich kurz von dem Systemprogramm.
[10] Zit. nach Jamme / Schneider: A. a. O., S. 11 f.
[11] So Herders geistesgeschichtliche Analyse zur Maschinenmetapher in "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", die Pöggeler in seinem Aufsatz Das Menschenwerk des Staates aufgreift (vgl. Jamme / Schneider: A. a. O., S. 201). Eine grundsätzlich andere Ansicht vertritt Spinoza, der den Freiheitsgedanken innerhalb des Staats in den Vordergrund stellt. ("Es sei nicht der Zweck des Staates, so schieb Spinoza, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen; vielmehr seien gerade Selbsttätigkeit und Freiheit Zweck des Staates.", Jamme / Schneider: A. a. O., S. 206).
[12] Jamme / Schneider: A. a. O., S. 207.
[13] Schiller: A. a. O., 6. Brief (S. 583).
[14] Kant [1]: A. a. O., S. 61.
[15] Der Vergleich des Staates mit dem Organismus des Menschen ist dabei nicht neu, er entstammt vielmehr einer lange Tradition antiker und mittelalterlicher Sozialphilosophie. Ritter (Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1971, S. 1340) schreibt dazu: "Die Wiederentdeckung der Organismus-Konzeption von Staat und Gesellschaft erfolgt im Zuge der Kritik an der Gesellschaftsvertrag-Konzeption Rousseaus und ihrer Realisierung durch die französische Revolution. Die Priorität gehört hier J. G. Fichte: "In dem organischen Körper erhält jeder Teil immerfort das Ganze, und wird, indem er es erhält, dadurch selbst erhalten: ebenso verhält sich der Bürger zum Staat.'".
[16] Vgl. Baumann: Einführung in die Rechtswissenschaft. Rechtssystem und Rechtstechnik. München 1989, S. 362.
[17] So bezeichnet er Hofschranzen als "Sprechmaschinen" (Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Canstatt 1962 ff., Band I, S. 368). In dem Aufsatz Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit (vgl. a. a. O., Band III, S. 86 ff.) schreibt er, dass sich der Mensch zur "vorstellenden Maschine" machen lässt und einem "Mechanismus der Ideenfolge" unterworfen ist. Im Beitrag zur Berichtigung des Urteils des Publikums über die französische Revolution weiß Fichte, "daß der Staat von jeher gearbeitet hat, uns auf jede Art zu gewöhnen, Maschinen zu sein, statt selbständige Wesen". (zit. nach Jamme / Schneider: A. a. O., S. 210). Dieses mechanische Menschenbild möchte Fichte überwinden und den Menschen zu einem "erhebenden Bewusstsein" führen: "Ich war Maschine, und konnte Maschine bleiben; durch eigne Kraft, aus eignem Antriebe habe ich mich zum selbständigen Wesen gemacht." (ebd.).
[18] Herder, zit. nach Jamme / Schneider: A. a. O., S. 201.
[19] Ebd.
[20] "Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes, die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk." (Kant [2]: Akademie-Ausgabe der gesammelten Schriften. Berlin 1900 ff., Band VIII, S. 115).
[21] Ebd.
[22] "Wenn das Systemprogramm sagt, vom Staat als einem Maschinenwerk könne es überhaupt keine Idee geben, dann verwickelt es sich in einen Widerspruch: der Rechtszustand im Staat wird vorausgesetzt, wenn es zum Völkerrecht und ewigen Frieden kommen soll; wenn es eine Idee vom ewigen Frieden gibt, dann auch vom Staat. Diesen Widerspruch wird man so auflösen dürfen, daß man dem Staat nur eine untergeordnete oder eingeschränkte Idee zuspricht." (Jamme / Schneider: A. a. O., S. 209).
[23] Kant [2]: A. a. O., Band VI, S. 232.
[24] Ebd.
[25] Schiller: A. a. O, 6. Brief (S. 583).
[26] Schiller: A. a. O., 27. Brief (S. 661 ff.).
[27] Schiller: A. a. O., 27. Brief (S. 668).
[28] Normen werden von Schiller ganz im Sinne der kantischen Rechtsphilosophie gedeutet.
[29] Offenbar denkt Schiller auch hier an Kant und dessen deontologische Begründung autonomer Moralität im Kontext des Kategorischen Imperativ, bei der man durchaus davon sprechen kann, dass "die Pflicht das Wollen fesselt". Schiller macht auch kein Geheimnis aus seiner Orientierung und sagt gleich zu Beginn von Über die ästhetische Erziehung des Menschen: "Zwar will ich Ihnen nicht verbergen, daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen [...]", Schiller: A. a. O., 1. Brief (S. 570).
[30] Schiller: A. a. O., 27. Brief (S. 667). Hervorhebung durch Schiller.
[31] Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Zit. nach der Akademie-Ausgabe, Bd. VI, Berlin 1907, S. 429.
[32] Hölderlin: Sämtliche Schriften. Stuttgart 1943, Band VI, S. 203.
[33] Hölderlin: A. a. O., S. 93.
[34] Böckmann: Die Französische Revolution und die Idee der ästhetischen Erziehung in Hölderlins Denken. In: Paulsen (Hrsg.): Der Dichter und seine Zeit - Politik im Spiegel der Literatur. Heidelberg 1971, S. 89 ff.
[35] Ritter: A. a. O., S.1031 f.
[36] "Gott ist der Erzieher und die Offenbarung ist das Erziehungsmittel. Die Offenbarung richtet sich an die menschliche Vernunft und verhilft ihr zu neuen Einsichten und sittlichen Handlungsmotiven. Sie beschleunigt damit die menschliche Vernunftentwicklung." (Hornig: Die Erziehung des Menschengeschlechts. In: Volpi / Nida-Rümelin (Hrsg.): Lexikon der philosophischen Werke. Stuttgart 1988, S. 234).
[37] Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780, § 80.
[38] Lessing: A. a. O., § 85.
[39] Pöggeler weist zwar auf einen vermeintlichen Bedeutungsunterschied zwischen einerseits (elendem) "Menschenwerk" und andererseits dem Begriff "Werk der Menschheit" als sinnerfülltem "Gottes[!]werk" hin und führt in diesem Zusammenhang eine entsprechende terminologische Differenzierung bei Schlözer und Herder an (Jamme / Schneider: A. a. O., S. 215), doch erschließt sich mir diese Deutung schon deshalb nicht, weil ich keinen Grund sehe, weshalb im Systemprogramm dann nicht gleich auf Gott Bezug genommen wird, um erst gar keinen Zweifel an der Urheberschaft dieser neuen Religion aufkommen zu lassen. So erscheint die Stelle m.M.n. widersprüchlich und fragwürdig.
[40] Jamme / Schneider: A. a. O., S. 214.
[41] Schiller: A. a. O., 10. Brief (S. 598 f.).
Der Autor
Josef Bordat (1972) lebt und arbeitet in Berlin. Nach einem Studium in Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin (Diplom), einem Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Universidad Nacional de San Agustín in Arequipa in Perú und einem Magisterstudium in Philosophie an der TU Berlin promovierte er über "Gerechtigkeit und Wohlwollen. Das Völkerrechtskonzept des Bartolomé de Las Casas." - Neben Übersetzungs-, Vortrags- und Publikationstätigkeiten ist er Mitherausgeber des "International Journal of the Humanities" und Mitarbeiter am Schwerpunktthema "Transformation der Kultur. Kulturelle Veränderungen im 21. Jahrhundert" des Marburger Forums.
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777