Werner Brück: Zwei Titel: Prof. Dr. Rolf Sachsses Vortrag "Fotografische Moderne in den 1920er und 1930er Jahren. Historisches Museum Saar, Saarbrücken, 24.05.05, 19.30 Uhr" und "Max Wentz". 1. Vorbemerkungen
Rolf Sachsse wurde an die Hochschule Niederrhein, Krefeld, FB Design, gerufen, dann 1995 an die Staatliche Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, schließlich 2004 an die Hochschule der Künste Saar.
Auch auf die zahlreichen Veröffentlichungen Sachsses wurde an anderer Stelle hingewiesen. Ich möchte der Vollständigkeit halber die gut gegliederte Bibliografie Sachsses auf der Website der HBK Saar erwähnen. Es fällt auf, daß Sachsse sich neben Fotografie und Design auch mit Städtebau und Architektur beschäftigt.
Der hier diskutierte Vortrag "Fotografische Moderne in den 1920er und 1930er Jahren" vom 24.05.05 fand mit Bildmaterial statt. Dieses wurde im Historischen Museum Saar, in der Abteilung "'Als der Krieg über uns gekommen war...' - Die Saarregion und der Erste Weltkrieg" mit Hilfe eines Beamers, an den ein Notebook angeschlossen war, auf eine Leinwand geworfen. Kontext zum Vortrag war die Max-Wentz-Ausstellung im Historischen Museum Saar. Die fotografische Gemengelage der 1920er und 1930er Jahre sollte unter dem Titel Fotografische Moderne in den 20er und 30er Jahren" beleuchtet werden. Sachsse verwies dazu auf den gemeinsam mit Klaus Honnef herausgegebenen Katalog "Deutsche Fotografie - Macht eines Mediums 1870 - 1970" , der anlässlich der Ausstellung 1997 in Bonn erschien. Kernthese sei: Bildproduktion und Bildrezeption der 1920er und 1930er Jahre, also auch im Nationalsozialismus, seien als Kontinua anzusehen, nicht als Brüche. "1945 - 1970: Die bildnerischen Mittel, die bereits vor dem Krieg existierten und die bis 1945 weiterbestanden, werden auch in dieser Zeit angewendet. Die Fotografen der Besatzungszonen und beider deutscher Staaten halten fest, was sie bewegt. Eigene Gestaltungsformen entwickeln nur wenige, und diese entstehen im Vergleich zu ihren Kollegen aus anderen Ländern mit großer Verspätung. Erst mit der ersten Präsentation der 'subjektiven Fotografie' ändert sich dies" (Quelle: Begleittext zur Ausstellung). Sachsse wollte mit seinem Vortrag diese Kontinuität betonen.
Und hier zeigt sich der Grund für den Doppeltitel dieses Aufsatzes: ich war etwas enttäuscht, daß Sachsse sich nicht eingehender mit Max Wentz beschäftigte. Ich hätte gerne eine differenziertere bildkünstlerische Beurteilung gehabt. Daher habe ich mir dann selbst einige Gedanken zu Wentz gemacht. Die bringe ich im Anschluß an die - freilich subjektiv-selektive - Wiederholung der Ausführungen Rolf Sachsses.
2. "Vorbedingungen" der Moderne
Die Bilder von Max Wentz im Historischen Museum Saar seien von französischen Traditionen geprägt. Auf die Beschaffenheit dieser Traditionen ging Sachsse nur eingeschränkt ein, und zwar in negativierender Weise, nämlich, dass die Bilder nicht den Vorstellungen der klassischen fotografischen Moderne entsprächen, bzw. positivierend: dass die Kleidung, das Gehabe, die Objekte eher deutschtümelnd seien. Dass man in der Moderne lebe, thematisiert Sachsse, indem er darauf verweist, dass man in philosophischer Hinsicht innerhalb der Moderne diese nicht transzendieren kann. Allerdings will er die fotografisch-ästhetische Moderne wenigstens in ihren Beginnformen fixieren, indem er die Industrialisierung in der Fotografie betrachtet, z.B. in der Produkt- und Messefotografie. Weg vom dargestellten Umraum, wofür er einen "Messapparat für fotografische Platten" aus einem Hamburger Unternehmen heranzieht (Beispiel: "Platten-Messapparat nach Prof. Dr. F. Goos : / A. Krüss, Optisch-mechanische Werkstätten, Gertigstrasse 31, Hamburg. - [S.l. : S.n.], [1930?]. - [1] c. ; 23 cm. Das Bildmaterial Sachsses stammt von 1896).
Der Architekt Hermann Muthesius (Wikipedia, sowie sehr umfangreich: archINFORM) wird als "Designspion" charakterisiert, der den nicht durchgestalteten deutschen Produkten den angelächsischen Gestaltungswillen vermitteln soll. Der Architekt Paul Schultze-Naumburg schreibt 1903: "'Muthesius ist Architekt und technischer Attaché der deutschen Gesandtschaft in London. In diesem Amt lebt er seit sieben Jahren dort und ist ein gründlicher Kenner der englischen Baukunst geworden. Das meiste, was darüber neuerdings in deutschen Geistesbesitz übergegangen ist, verdanken wir ihm.' (Kunstwart, 1903, S.125)" (Quelle: "Vortrag anlässlich der Vorstellung der Broschüre 'Herrenhaus Wendgräben'") Sein Versuch, stilbildend zu wirken, wird von Sachsse als Versuch gekennzeichnet, Design medial zu verbreiten.
Diese Haltung sieht Sachsse als Vorform der klassischen fotografischen Moderne, wobei er vor allem den Aspekt der Ausbildung von Kunstgewerblern in ästhetischer Hinsicht betont. Prämisse soll sein, daß die industrielle Fertigung in arbeitsteiligen Prozessen stattfindet, was dem ganzheitlichen Schöpfungsprozeß von "eigentlichen" Kunstwerken natürlich zuwiderläuft (ich habe bei dem Wort "eigentlich" Bauchschmerzen). Eine kunsthandwerkliche Bestrebung muß versuchen, Kunstschaffen und den Anspruch, Kunst zu schaffen, auch in Arbeitsteilung zu akzeptieren. Also überspitzt ausgedrückt: weg von der Kunst- und Historienmalerei mit ihrer figurativen Mimesis des durch den Künstler ausgedrückten Kairos, hin zur arbeitsteiligen - also industriellen - Verarbeitung der Vorlage des Künstlers. Was natürlich die Durchgestaltung der alltäglichen Lebenswelt, die anhand bekannter Kunstformen erfolgt, mit einschließt.
Z.B. in den Fotografien (weiteres Beispiel) von Karl Blossfeldt: diese Bilder dienten von 1896 - 1926 als Vorlagen für den kunstgewerblichen Unterricht (als Glasdiapositive) an der Berliner Kunstgewerbeschule. Ziel war es, neue künstlerische Impulse zu liefern, um die kunstgewerbliche Formensprache zu bereichern. Sachsse sieht hier eine Erneuerung des Kunstgewerbes, ausgehend von Berlin. Ein weiteres Beispiel für diese Erneuerung wäre Ernst Neumann gen. Neander und dessen Automobildesign. - Halten wir also fest: eine Vorstufe zur Klassischen Moderne wäre nach Sachsse also die fotografische Hinwendung zu Formen der Natur. Diese Ausrichtung sei als Gegenstück zum Historismus zu sehen, also weg von inszenierender Fotografie mit narrativen Zügen.
Ein zweiter Aspekt, der berücksichtigt werden sollte, wenn es um die Herausbildung der fotografischen Moderne geht, sei die Erfindung des Schlitzverschlusses, konstruiert und angewandt von Ottomar Anschütz (auch: "Who's Who of Victorian Cinema", und: Fotoarchiv des Otto Lilienthal Museums / 1894) 1884 in den Momentaufnahmen des sog. "Kaisermanöver". Der Schlitzverschluß gibt packende Momentaufnahmen, denen im Druck das Medium der Massenpublikation entspräche. Weitere Anwendungen seien z.B. auch die Gerichtsfotografie. Die Folge: im 1. Weltkrieg erfolgte eine bis dato unbekannte Präzisierung der Fotos, auch zum Zwecke der Landvermessung und Trigonometrie, zur militärischen Aufklärung, zur Dokumentation für Propaganda und Medienkrieg, unter Zuhilfenahme von Retuschen. Der Hintergrund "Massenpublikation" klingt plausibel: zwar hat schon 1855 Roger Fenton den Krimkrieg in 360 Aufnahmen (Beispiele im George Eastman House) fotografiert. Maxime Du Camp fotografierte 1850 in Ägypten, und Mathew Brady / George Barnard et al. schilderten die Eindrücke vom amerikanischen Sezessionskrieg (Barnard: 1866 im Album "Photographic Views of Sherman's Campaign"), aber: erst ab Anfang der 1880er Jahre beinhalteten Zeitungen gerasterte Abbildungen von Halbtonfotografien ( vgl. hier Wikipedia: "Geschichte und Entwicklung der Fotografie", in Amerika: Rehm, Margarete: Information und Kommunikation in Geschichte und Gegenwart, erwähnt die "New York Daily Graphic" vom 4. März 1880, vgl. aber auch: The British Library: "Concise History of the British Newspaper in the Nineteenth Century", dort die zwei Daten: "1890 - Jan 4 : Daily Graphic launched, first daily illustrated paper. Merged with Daily Sketch in 1926. 1891 - Nov 4 : First half-tone newspaper picture published in Daily Graphic: that of George Lambert, Liberal parliamentary candidate." Es werden also verschiedene Daten gegeben, evtl. liegen verschiedene Ausgaben vor).
In der Moderne kommen beide Aspekte zusammen: der Massengebrauch der Bilder aus dem 1. Weltkrieg, ihre Verwendung zu propagandistischen Zwecken, und dann der Präzisionismus, wesentlich bestimmt durch die kurze Verschlusszeit. Diese Zusammenführung der ästhetischen Elemente bzw. des ästhetischen Bildgebrauches führen zu Bildern wie "Metropolis" von Paul Citroen (Lit: Molderings, Herbert: Paul Citroen and Photography - The beginnings in Berlin. Amsterdam, 1996). Hier werden Elemente des präzisionistischen Sehens zu neuen Ausdruck zusammengefasst, auch unter Herausbildung einer eigenen gestalterischen Qualität, z.B in den Fotomontagen John Heartfields. Vgl hierzu auch Ausstellungsbericht: Die Dynamisierung des Blicks. Metropolis. Das Bild der Stadt." von Wolfgang Richter.
3. Moderne / Exkurs
Die Neue Sachlichkeit möchte Sachsse in technischer Hinsicht als eine Folge der Präzisierung der Kamera und ihrer Abbildungsleistung verstehen. Schon ein Blick ins Prestel-Lexikon der Fotografen zeigt m.E. jedoch ein wichtiges Problem der Aufgabendefinition von Fotografie auf, und hier möchte ich den Vortrag Sachsses zu einem kleinen Exkurs verlassen. Unter der Rubrik "Neue Sachlichkeit" steht da: "Gegenbewegung zu Kubismus, Abstaktion und Expressionismus mit starker Betonung der Gegenständlichkeit und ihrer exakten Wiedergabe. ... Die Neue Sachlichkeit war oftmals mit Gesellschaftskritik vor sozialdemokratischem oder sozialistischen Hintergrund verbunden. In der Fotografie formierte sich eine ähnliche Bewegung, die sich als handwerklich einstufte und als Gegenbewegung zu künstlerischen Bestrebungen von Moholy-Nagy, Lissitzky, Bayer oder Man Ray verstand. Ihr Anliegen war jedoch nicht Gesellschaftskritik, sondern unvoreingenommene Dokumentation dessen, was ist. Im möglichst exakten Abbild des Gegebenen, sei es Natur, Porträt, häufig auch der technische oder alltägliche Gebrauchsgegenstand, sahen die Vertreter der Neuen Sachlichkeit [als Richtung innerhalb der Fotografie; d.V.] die eigentliche Bestimmung des fotografischen Mediums." (Mißelbeck, Reinhold (Hrg.): Prestel-Lexikon der Fotografen. München, Berlin, London, New York, 2002. S. 263). - Im Programm einer "Neuen Sachlichkeit", die sich vom bildkünstlerischen Transzendentalanspruch durch das Abbilden der "Centaurea odorata", der Duft-Flockenblume und ihrem Fruchtköpfchen lossagen möchte, ist die große Aporie versteckt, die der nicht hinterfragten Erkenntnisrelation zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, die gerade zur selben Zeit in der Wiener Schule, im philosophischen Wiener Kreis, durch dessen Empirischen Realismus, schließlich durch den Kritischen Rationalismus, sowie von Ludwig Wittgenstein im "Tractatus logico-philosophicus" thematisiert wurde. Bis heute, 2005, und seit Platon, sei dazu noch gesagt. Vgl. Essler, Wilhem K.: Analytische Philosophie I. Stuttgart, 1972.
Wir verkennen m.E. die Bilder Blossfeldts, wenn wir sie nur als Handwerk begreifen. Warum arbeitet Blossfeldt in Schwarzweiss? Warum begrenzt er den Ausschnitt? Warum bringt er Licht und Schatten zu einer plastischen Beleuchtung? Warum konzentriert man sich auf eine Knospe? Macht es das wirklich nur - jahrelang - für die Kunstgewerbeschule, oder aber auch aus einem Gefühl für künstlerisches Gestalten bzw. für Poesie in einem allgemeineren Anschauungsbereich?
- Natürlich kann man an dieser Stelle einwerfen, Albert Renger-Patzsch verwerfe selbst den Anspruch, die Bilder der "Neuen Sachlichkeit" schüfen Kunst: "Überlassen wir daher die Kunst den Künstlern und versuchen wir mit den Mitteln der Fotografie Fotografien zu erschaffen, die durch ihre fotografischen Qualitäten bestehen können - ohne daß wir von der Kunst borgen." (Renger-Patzsch, Albert: Ziele. - in Kemp, Wolfgang (Hrg.): Theorie der Fotografie. München, 1979. Band II, S. 74). M. E. sollte man tatsächlich versuchen, von der Kunst zu borgen. Für Renger-Patzsch hiesse das im Beispiel Skulptur: "Überlassen wir daher die Kunst den Künstlern und versuchen wir mit den Mitteln der Skulptur Skulpturen zu erschaffen, die durch ihre skulpturalen Qualitäten bestehen können ..." Die Fotografie war zu jener Zeit jedoch schon seit Jahrzehnten als Kunstform etabliert. Sie als Nicht-Kunstform zu beanspruchen, ist unzulässig. Und das übrige stellt im logischen Sinn eine zweigliedrige Tautologie dar. Mit den Mitteln der Fotografie sind eben "nur" Fotografien zu erzeugen, und diese Fotografien können per definitionem nur mit ihren fotografischen Qualitäten überzeugen. Die eigentliche Intelligenz jener Äußerungen steckt m.E. in der nachfolgenden Selbstimmunisierung: da man nicht von der Kunst borgt, ist man ihr auch nichts schuldig. Das ist m.E. eine Facette der Moderne, nämlich der Fall in die Beliebigkeit. Und weiter: erklärt man das Medium zum Werkzeug, nimmt man den Manipulateur dieses Werkzeuges als bloßen Erfüllungsgehilfen, und schon ist der oder die Künstlerin in keinster Weise mehr verantwortlich.
Eine m.E. moderne Form der Inspirationsästhetik. Da kann man natürlich ohne Gegenwehr behaupten, dass die künstlerische Qualität einer Fotografie in ihrem Realismus liege. Diese Mechanismen hat Tasos Zembylas äußerst schlüssig aufgedeckt, vgl. Tasos Zembylas: Kunst oder Nichtkunst: Über Bedingungen und Instanzen ästhetischer Beurteilung. WUV-Universitätsverlag, 1997. Zur "Realismusideologie eines positivistisch denkenden Zeitalters" äußert sich auch B. Hüppauf in seinem Ausatz Hüppauf, B.: Kriegsfotografie und die Erfahrung des Ersten Weltkrieges. -in: Naumann, B (Hrg.): Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte. München, 1993. S. 29 - 50, hier S. 30. Zitiert wurde dieses Schlagwort nach Burgard, Paul: Die Sprache der Bilder. -in: Linsmayer, Ludwig (Hrg.): Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte. Saarbrücken, 2005. S. 113-220, hier S. 115. Hier findet sich auch ein Hinweis auf Daguerre, den wir an dieser Stelle nicht unberücksichtigt lassen wollen, zumal uns das gerade genannte Werk noch einige Male dienlich sein wird: "Durch die Daguerrotypie könnte man 'die Bas-Reliefs, die Statuen, die Monumente, mit einem Worte, die todte Natur' widergeben, 'und zwar mit einer für das gewöhnliche Verfahren des Zeichnens und der Malerei unerreichbaren Vollkommenheit, mit einer Vollkommenheit, gleich derjenigen der Natur selbst, weil in der That die Abdrücke des Hrn. Daguerre nichts als das treue Bild der Natur sind'" - so der schon von Jacques Louis David porträtierte Guy-Lussac über die Erfindung Daguerres, anläßlich der öffentlichen Präsentation vor der Deputiertenkammer in Paris 1839 (vgl. Burgard, S. 115). Man sieht, schon in der "Erfindung" der Fotografie (wenn wir Nicephore Niépce unberücksicht lassen und uns nur auf die öffentliche Kundgabe des Verfahrens konzentrieren) ist die o.g. positivistische "Realismus-Ideologie" in statu nascendi vorhanden. Wobei m.E. der Begriff "Realismus" falsch gewählt ist: es handelt sich eher um einen Naturalismus, da dem Begriff des "Realismus" sozialkritisches Engagement innewohnt, der die wirkmäßigen Zusammenhänge sittlicher Existenz herauszustellen sucht - und dabei oft auch Ausgangspunkt bestimmter moralischer Vorstellungswelten wurde. Diesen Anspruch hatten die ersten Fotografien "nach der bzw. durch die Natur" nicht. Und Blossfeldt, Finsler, Renger-Patzsch hatten ihn sicherlich auch nicht. Man vgl. dagegen Léon Lhermitte oder Jules Bastien-Leplage - auch Jean-Francois Millet.
Wie sehr diese Ideologie sich durchsetzen kann, zeigen die Äußerungen Karl Nierendorfs in der Einleitung zu Blossfeldts Buch "Urformen der Kunst" aus dem Jahr 1928: "alle gestaltete Form hat ihr Urbild in der Welt der Pflanzen", dann: "Sogar der Tanz ... findet sein Gleichnis in eine Knospe von rührend kindhafter Geste und einem Ausdruck reinster seelischer Spannung", und schließlich: "Die Aufnahme dieses kleinen keimenden Triebes [Eisenhut, junger Sproß; d.V.] kündet mt besonderer Deutlichkeit die Einheit von lebender und gestalteter Form", "die Pfanzenknospe [soll gelten als; d.V.] immer wieder jene ewige Form ..., die uns zum Gleichnis eines beseelten Körpers wird" (vgl. Adam, Hans Christian: Karl Blossfeldt. 1865 - 1932. Köln, London, Los Angeles, Madrid, Paris, Tokyo, 2004. S.28-29. Mit dieser evokativen Klimax wird eine intentionalistische Naturentfaltung voraus-gesetzt. Wenn Blossfeldts Werke "erstmalig mit Deutlichkeit Zusammenhänge aufzeigen, die im Kleinen ebenso wie im Großen immer klarer hervortreten, so tragen sie auf ihre Weise zur wichtigsten Aufgabe bei, die uns heute gestellt ist: den tieferen Sinn unserer Gegenwart zu erfassen", S.29. Die Voraus-Setzung besteht in der apriorischen Annahme einer Relation zwischen zwei Objekten, die entdeckt und als Erkenntnisrelation etabliert werden soll. Das entspricht einer Nobilitierung des fotografierten Gegenstandes durch die Sach-Fotografie, die jene Erkenntnisrelation durch eine freistellende Aufnahmepraxis und geradezu übergrößerte Vergrößerungsmaßstäbe suggeriert - obgleich dergleichen detaillierte Ansichten der betreffenden Pflanzen in der alltäglichen menschlichen Wahrnehmung eher nicht stattfinden, was ja eben Voraussetzung für das "Entdecken" ist. Der Text Nierendorfs besteht also aus vielen Tautologien, die, wenn man sie auflösen will, Blossfeldts Leistung keineswegs gerecht werden. "Kunst" wäre nach Nierendorfs Äußerung als Selbstäußerung des Aufnahmeobjektes zu verstehen, nicht abhängig vom Schaffen des Fotografierenden, der bloß entdeckt, was vorher schon da war, ganz so, als ob ein Kürbisstengel schon immer Teil eines schmiedeeisenernen Treppengeländers sein wollte. Nur so ist jene "Einheit des schöpferischen Willens in Natur und Kunst, dokumentiert durch das sachliche Mittel der photographischen Technik" zu verstehen (Blossfeldt, S. 28).
Zurück zum Vortrag Sachsses: dass moderne Sach-Fotografie und Neues Sehen uns vor allem durch moderne Architektur und Gebrauchsgegenstände vermittelt werden, liegt Sachsse zufolge an Arbeiten wie der "Elektrischen Birne" Hans Finslers (1928), für die Sachsse jedoch nur eingeschränkt Beschreibung liefert. Lediglich, dass die Projektion der Lampe auf den Hintergrund als typisch anzusehen ist für das Medium der Fotografie, dass hier also das Schreiben mit Licht auf der Fläche thematisiert wird, erwähnt Sachsse. Hans Finsler, der sich in Halle hervortat in der Vermittlung fotografischer Praktiken, der Bildvarianten, Dynamik und Komposition studierte anhand von Beispielen vor seiner Klasse, und der dann eine Fotoabteilung an der Kunstgewerbeschule in Zürich aufbaute, ist als Exponent der Moderne zu begreifen.
Sachsses These ist: gute Fotografien sind utilitär durch die Notwendigkeit, Produkte zu propagieren, motiviert. Sachsse vergleicht hier die amerikanische Fotografie, die das volle Spektrum an Werbung abdeckt. Z.B. in der Architekturfotografie, in der klare Linien und helle Flächen betont werden, vor dunklem Himmel. In Deutschland erwähnt er Stuttgart 1929 "Film und Foto" - die internationale Ausstellung des Deutschen Werkbundes vom 18.5. - 7.7.1929.
- Die Weltwirtschaftskrise leitete jedoch eine Privatisierung der Moderne ein, indem der Gebrauch des Mediums Fotografie privatisiert wurde. Das Schicksal von Arbeitslosen, die Personalisierung von Geschichten generell und als Medienstrategie, Ruinen als Monumentaliserung überzeitlicher Bildformen, z.B. bei Walter Hege - auch diese Züge kommen aus dem amerikanischen Bildraum. Die Personalisierung auch des Designs, das Aufkommen des Modebewußtseins und von Bademodenfotos entsprechen dieser Entwicklung. M.E. könnte dem noch hinzugefügt werden, dass gerade die heutige Sachfotografie in der oben dargestellten Manier Nierendorffs einer Nobilitierung des Aufnahmeobjektes bedarf, um die in marktwirtschaftlich ausgerichteten Systemen unabdingbare Etablierung des Produktmehrwertes zu erreichen und medial zu kommunizieren. So gesehen gewinnen auch Fotobände über unseren heutigen Gegenstände des alltäglichen Gebrauches an Bedeutung. Die Anfänge dieser Entwicklung hat Sachsse überzeugend dargelegt, und was erfreut, ist seine visuell vermittelte Aufforderung zum Weiterdenken. Zu Walter Hege und Herbert List vgl. den Band von Matthias Harder, 2003, Rezension bei Perlentaucher, Quelle FAZ, eine Literaturauswahl zu Hege findet sich bei Foto Marburg, zusammen mit einigen Skulpturfotografien. Bilder von Herbert List, siehe Galerie Johannes Faber, dort jedoch keine Ruinenromantik, dann masdearte.com, dort interessante ästhetische Brechungen in Selbstthematisierung des fotografischen Mediums, mehr aber noch die Monographie von Magnum Photos, und die FAZ-Rezension des durch Max Scheler herausgegebenen Bandes "Herbert List - Hellas", von 2003.
Ab 1933 werden Fotografie, Kunstgewerbe und Design als Mittel zur Propaganda eingesetzt. Zwar bedeutet das eine konstante Förderung der Moderne, allerdings wurden in der NS-Zeit die hervorragenden Fotografien gekündigt, nur noch schlechte Fotografen blieben übrig. Es gab aber keinerlei Angriffe auf die moderne Fotografie. Sachsse führt hier ins Feld: eine "Werkfotografie Hamburg" mit Bildgestaltung in klaren Linien, sowie die Werkbundausstellung vom 4.-19.11.1933 "Die Kamera - Ausstellung für Fotografie, Druck und Reproduktion", und die folgende Gleichstellung von Bild- und Textjournalismus. Es erfolgt eine Übernahme der Moderne in der Produktplazierung, Reihung, Kontrakomposition herkommend vom Konstruktivismus, Monumentalisierung durch Unteransichten, Dreieckskompositionen, Serialisierung, Fotomontagen auch in Bild-Text-Grafikmontagen z.B. in Schaubildern, Großflächigkeit und Großfotos, maschinelle Präsentation, Industriebezug. Ab 1939 aber auch Brechung der Moderne durch Rassentheorie und völkische Texte. Vorindustrielle Menschenauffassung in BDM-Bildern, Reling- und Repoussoirfiguren als ältere Redoutentechniken. Es erfolgt ab 1939 eine Personalisierung der Fotografie, z.B. in den Bildern Elisabeth Hases (Kinderbilder, vgl. das Buch Elisabeth Hase. Fotografien 1928 - 1943. Bearb. und mit einem Essay v. Gabriele Lohmann sowie einem Text von Nani Simonis. 2003; Gabriele Lohmann promovierte über Hase, vgl. den Link - dort bekommt man auch die Dissertation (pdf, 23 MB): Lohmann, Gabriele: Elisabeth Hase: Fotografin für Presse und Werbung; die 1930er bis 50er Jahre. Bochum, 2003. Vom 19.10.2005 bis 15.01.2006 findet im Historischen Museum Frankfurt a.M. die Ausstellung "Elisabeth Hase - Fotografien" statt; ein kleiner text findet sich bei auf der Website des Hauses der Geschichte). Diesem Kitsch stellt Sachsse die Bilder von Yva (Else Neuländer; Monographie) gegenüber: die befreite Frau, durchaus auch mit "lesbischen Ambitionen", sowie die Tanzfotografie der 20er Jahre. Von Yva ist es nur noch ein kleiner Sprung zu Helmut Newton.
Dieser Abschluß Sachsses bietet einen guten Ausgangspunkt für die Interpretation der heutigen Produktfotografie. Heft 11/2004 der Zeitschrift "design report" weist auf die Winterthurer Ausstellung "Im Rausch der Dinge" hin (14.11.2004 - 29.05.2005, vgl. auch http://www.likeyou.com/): "Einen ersten Höhepunkt erreichte die Sachfotografie in den 1920er und 30er Jahren mit den Stilrichtungen 'Neue Sachlichkeit' und 'Neues Sehen'. Die Welt der Dinge wurde durch dramatische Lichtinszenierung auratisch überhöht oder in streng analytischen Kompositionen auf ihre funktionale Form und Struktur zurückgeführt. Zu sehen ist dies in Meisterwerken zum Beispiel von August Sander, Albert Renger-Patzsch und dem Spanier Pere Català i Pic. In der Nachkriegszeit wird das Dogma der Guten Form für die Gestaltung von Gegenständen des Alltags von einer klaren und sachlichen Fotografie begleitet, die die schlichte Ästhetik von Material und Form bildlich hervorhebt. Neben Aufnahmen von Willi Moegle und Peter Keetmann ist gerade die Schweizer Sachfotografie, die durch Hans Finsler eine kontinuierliche Fortsetzung der präzisen Objektfotografie der 1920er Jahre fand, mit starken Aufnahmen von Herbert Matter und Hugo Paul Herdeg vertreten. Am Ende des 20. Jahrhunderts sind es nicht mehr die materiellen Eigenschaften und Formgegebenheiten eines Gegenstandes, die in Fotografien dargestellt werden. Gerade die Werbefotografie inszeniert vielmehr ein Lebensgefühl oder Image und schreibt dem Ding weniger eine Funktion als die Rolle eines Status definierenden Fetischs zu." (Quelle: design report. 11/2004). - Plausibel zu verstehen auch als eine Folge der Privatisierung und Personalisierung der Fotografie im Öffentlichen.
4. Schluß des Vortrags von Sachsse
Max Wentz zeige keine Erotik, dafür aber moderne Stilmittel, das Ornament der Masse und Propaganda, auf die Sachsse aber nicht eingeht. Der ästhetische Ausdruck eines spezifisch modernen Empfindens, wie Sachsse es vorher darstellte, sei nicht der Anspruch Wentzens. Mich störte dieses Vorgehen Sachsses: Wentz wurde nur negativierend, also in Abgrenzung, dargestellt, während, die dargestellte Moderne oftmals in ihren distinkten Wesensqualitäten, ihren Alleinstellungsmerkmalen, charakterisiert wurde. Vielleicht gilt - und die oft in mäßiger handwerklicher Qualität retuschierten Bilder Wentzens legen dies nahe -, dass Wentz kein herausragender Fotograf des 20. Jahrhunderts ist. Darüber ist der Autor sich im Klaren. Auch über den nationalsozialistischen Werdegang Wentzens. Er ist in keinster Weise mit den Fotografien Yvas zu vergleichen, allerdings hatte er vielleicht auch ein anderes Anliegen. Insofern läge kategoriale Unvergleichbarkeit vor. Und die zeigt sich vor allem dann, wenn Sachsse betont, daß die moderne Fotografie vor allem ein Mittel der Propaganda für Architektur und Produkte darstellte. - Sachsse stellte aber nicht ausführlich genug heraus, wofür Wentz steht, was allerdings auch nicht sein Hauptanliegen war. Insofern ist m.E. der Vortrag Sachsses vor allem als breite Ausgangsbasis für eine weitere Betrachtung zu werten, einerseits einer Betrachtung der Alleinstellungsmerkmale Wentzens, andererseits einer Betrachtung der als gültig vorausgesetzten Wesensmerkmale der fotografischen Moderne, wie sie von Sachsse beschrieben wurde.
5. Wie fotografierte Max Wentz? Kann man seine Aufnahmeweise beschreiben?
1921 erschien die 5. Auflage eines Werkes zur künstlerischen Landschaftsfotografie. Autor war der Geheime Regierungsrat Dr. A. Miethe, Ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule zu Berlin. 1919 erschien die 3. Auflage dieses Werkes, die den weiteren Auflagen zugrundelag. Man merkt in bei der Lektüre dieses Werkes: die technischen Möglichkeiten, die v.a. die Handkamera und die panchromatische Sensibilisierung der fotografischen Emulsionen zu dieser Zeit brachten, stellten wesentliche Neuerungen dar. Obgleich unter dem Begriff der "Handkamera" immer noch Negativgrößen von 13x18 cm zu verstehen sind. Negative wurden auf Glasplatten aufgenommen, so auch bei Max Wentz. Der Piktorialismusstreit war zu jener Zeit noch virulent. Miethes Buch selbst ist unmodern. In den 1920er Jahren verfaßte Kandinsky sein Buch "Über das Geistige in der Kunst", ein weiteres Buch von Kandinsky heißt "Punkt zu Linie zu Fläche" und schließt eine kleine Kompositionslehre mit ein. Schließlich seien auch Paul Klees "Beiträge zur bildnerischen Formlehre" genannt, ein 1921/22 angewendetes Vorlesungsskript für die Lehrtätigkeit am Bauhaus. Jene Schriften befassen sich eingehender mit dem Thema "Kunst" als Miethe dies tut. Zahlreiches, was Miethe einfach voraussetzt, wird hier gewissenhaft hinterfragt. Die Vermittlung bildkünstlerischer Aspekte erfolgt in elementarerer Weise: geht Miethe auf Perspektive, Licht, Wasser, Luft und Stimmung ein, würfelt er kategorial unterschiedlichste Anschauungsbereiche und Beschreibungskriterien durcheinander, während Kandinsky und Klee sich systembildend mit Farben und Formen und Komposition, Lichtführung, Plastizität, Körperlichkeit usf. beschäftigen.
Um keine bloße Entwicklungskunstgeschichte zu schreiben, die den Leistungen damaliger Künstler ohnehin nicht gerecht würde, sondern um ein Werk zu Rate zu ziehen, das einen technisch-ästhetischen Horizont für fotografische Überlegungen jener Zeit abgibt, möchte ich die Fotografien von Wentz mit den Ausführungen Miethes engführen. Lit.: Miethe, A.: Künstlerische Landschaftsphotographie. Halle a.d. Saale, 1921 (5. Aufl.). Einige Bilder von Max Wentz sind unter der Webadresse des "St. Ingberter Anzeigers" einsehbar. Diese Bilder haben zudem den Voteil, qualitativ hochwertigere Scans zu sein als das Material, das in diesem Aufsatz gegeben wird. Die geneigte Leserin möge sich antquarisch die 5 Bände "Die Saarpfalz", "Zwischen Ill und Blies", "Unsere Heimat - Saarbrücken. Türme - Dächer - Höhen", "Die untere Saar", "Der Deutsche Warndt" und "Die Mittlere Saar" besorgen; dies sind die Bände, die Wentz bis 1935 erarbeitete, um die Saar vorzustellen. Die Ausstellung im Historischen Museum läuft jedoch auch noch bis 07. August 2005. Es lohnt sich.
Wentz, Max: Kaiserstraße in St. Ingbert / Saar. Um 1920. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Im 5. Kapitel "Die photographische Perspektive" wären z.B. die beiden untenstehenden Aufnahmen zu einem Brunnen auf einem städtischen Platz mit den beiden St. Ingberter Bildern der Kaiserstraße von Max Wentz vergleichbar, in der Ausstellung Nr. 15 und Nr. 18. Beide entstanden Anfang der 1920er Jahre. Im ersten Bild haben wir eine durch ein Teleobjektiv gesehene Aufnahme vor uns, in der eine bildflächenparallele Verdichtung des hinteren Raumabschlusses bewirkt wurde. Der Aufnahmestandpunkt ist erhöht, so dass Wentz über die Dächer der Stadt sehen konnte. Im Vergleich zur zweiten, weitwinkeligen Aufnahme ist er stärker aus der Kaiserstraße herausgerückt. Die weitwinkelige Aufnahme geht weiter in die Kaiserstraße hinein. Dadurch verschwinden hintere Architekturformen hinter den im Verhältnis unteransichtigen vorderen Architekturpartien. Dazu Miethe: "Was wir hier ... an Unterscheidungen gefunden haben, deutet darauf hin, daß ... ein gewisses Verhältnis eingehalten werden muß, wenn der Beschauer sich nicht durch falsche Vorstellungen über den Standpunkt der Aufnahme falsche Vorstellungen über die Dimension und Größenverhältnisse der Objekte machen soll" (Miethe, S. 30).
-aus: Miethe, A.: Künstlerische Landschaftsphotographie. Halle a.d. Saale, 1921 (5. Aufl.).
Genau dieser Effekt macht sich in der weitwinkeligen Aufnahme der St. Ingberter Kaiserstraße bemerkbar: der Betrachter wähnt sich aufgrund des ausgedehnten Vordergrundes mit der weiten leeren Partie des Straßenpflasters weiter weg vom Beckerturm als in der Teleaufnahme. Dabei rückte Wentz jedoch weiter vor. Der Eindruck der Weite wird zudem unterstützt durch das sich rechts an den Rand, an eine Häuserwand drückende Kind. Wentz versteht es also, in der Telefotografie die Kaiserstraße als einen Kulissenraum erscheinen zu lassen, während er im Weitwinkelbild die Ansicht eines weiten Prospektes gibt. Miethe hierzu: "wir verlieren vollkommen die richtige Schätzung der Abstände der Gegenstände in dem Sinne, daß uns der Hintergrund und der Mittelgrund aneinanderzuhängen scheinen" (Miethe, S. 31). - Allerdings: gerade im Weitwinkel-Bild sieht Miethe generell die Verzeichnung körperlicher Gegenstände, weshalb folgt, "daß man zur Vermeidung dieser äußerst widerwärtigen und der künstlerischen Empfindung fremden Verzerrungen bei der Aufnahme von körperlichen Gegenständen sich stets nur kleiner Bildwinkel [also Teleobjektive; d.V.] bedienen sollte, d.h. also Objektive anwenden, die eine genügende Brennweite haben" (Miethe, S. 34). "'Weitwinkel' sind daher für k ü n s t l e r i s c h e A u f n a h m e n ohne weiteres zu verbannen, sie haben nur ihre Berechtigung für Ansichten, bei denen alle anderen Forderungen hinter der durch oft vorhandenen Platzmangel bedingten Notwendigkeit zurücktreten" (Hervorhebung durch Miethe, Miethe, S. 34). Ebenfalls an den allgemeinen Grundsatz der Vermeidung stürzender Linien hält sich Wentz (vgl. Miethe, S. 35).
Miethe weiter, zu "Licht und Beleuchtung": Es "ist nun für alle künstlerischen Zwecke eine weiche Beleuchtung der harten vorzuziehen, und hieraus erklärt sich, daß die frühen Morgen- und späten Abendstunden von jeher die Haupterntezeit für die künstlerisch-photographisch tätigen Arbeiter sind und gewesen sein müssen. Hierzu kommen noch einige andere Gründe: die Luft oder der Himmel bietet gegen Morgen und besonders gegen Abend eine größere Fülle von schönen Formen dar, und da ein belebter Himmel in einer photographischen Aufnahme ebensowenig wie auf einem Bilde im allgemeinen entbehrt werden kann, so erwächst hieraus ein weiterer Anreiz für die Wahl der frühen und späten Tagesstunden ... Schließlich werden diese Stunden ... noch dadurch ... wertvoll, daß dann eine gleichmäßigere beleuchtung der verschiedenen, gegen den Horizont geneigten Flächen einritt. Wenn die Sonne direkt im Horizont steht, wird sie die Ebene gar nicht, die senkrechten Flächen im Maximum beleuchten; bei einer Zenitstellung ist das Gegenteil der Fall, die Ebene ist von Licht überflutet, die senkrechten Flächen sind beschattet. In der Zwischenzeit, also bei mittlerem Sonnenstande, fällt eine gleichmäßigere Verteilung des Sonnenlichtes auf die Flächen verschiedener Neigung" (Miethe, S. 42-43). - Wentz hält sich in mancher Hinsicht an das Gegenteil. Miethes Anspruch ist die künstlerische Fotografie. Auskunft darüber gibt eine Passage zu Anfang seines Buches: Es gibt einen Unterschied zwischen der handwerklichen Herstellung einer Ansicht und der Schöpfung eines Bildes. Die handwerkliche Ansicht zeigt alle Einzelheiten im Detail, unter richtiger Belichtung und korrektem Kontrastumfang und Sättigung. Das künstlerische Bild hingegen ist nicht solcherart rein deskriptiv! Es "will in die Tiefe dringen, es bedarf zu seiner Vollendung nicht der kleinlichen Wiedergabe aller Details, es verzichtet auf vieles, was auf der Oberfläche liegt, um desto mehr und sicherer in die Tiefe das Dargestellten zu dringen und deutlich von dem zu reden, was der Aufnehmende empfand. Ein solches Bild hat dann S t i m m u n g; es erweckt durch unsichtbare Ideenverbindungen mehr als durch sinnliche Wahrnehmung im Beschauer ein Gefühl konform dem, das den Aufnehmenden ergriffen hat" (Hervorhebung durch Miethe, Miethe, S. 3). Ein Gedanke, den auch Kandinsky in "Über das Geistige in der Kunst" Anfang der 1920er Jahre beschäftigte, wenn er die Klavieranalogie zieht.
Wentz hingegen macht seine Aufnahmen am hellichten Tag, bei vergleichsweise hoher Sonnenstellung, in den Sommer- und Frühlingsmonaten, bei durchwegs klaren oder leicht bewölktem Himmel, jedenfalls nicht bei regnerischer Witterung. Das Angebot an Wolkenformationen ist durchaus zeitgemäß. Das Licht, das Wentz nutzt, kommt von schräg vorne rechts oder links, jedenfalls betont es die kubischen Architekturelemente und verleiht Staffagefiguren eine leichte, indes unaufdringliche Modellierung. Eine Ausnahme sei die Aufnahme der "Kirchenstraße in Berus": hier wird die Architektur zur Stadtkulisse. Im Gegenlicht anonymisert sich die dargestellte Person, deren Modellierung gänzlich verflacht. Der Verflachung entsprechen Architekturelemente in flächiger Kulissenwirkung. Ein Bild, das nicht so recht in die Ausstellung paßt, jedoch eine künstlerische Äußerung darstellt. In der Mehrzahl jedoch bringt Wentz das schräge Seitenlicht. "Hier wird schon durch die Beleuchtung ein Wertunterschied zwischen Licht und Schatten erzielt, und die Wirkung des Sonnenlichtes wird auf dem Bilde bei richtiger Belichtung deutlich und augenfällig werden. Unsere hellen Töne, die durch die Lichtseiten der Objekte gegeben sind, werden kräftig gegen die Schattenmassen sich absetzen, und unser Bild wird reich an Abwechslung sowohl in den Lichtern als auch in den Schatten werden. Zugleich muß diese Lage unserer Gesichtslinien bedingen, daß sich auch die kleinsten Einzelheiten von ihrer Umgebung kräftig abheben, selbst wenn sie im Tonwert sich nicht wesentlich davon unterscheiden; denn auch der kleinste Gegenstand hat seinen Schatten als treuen Begleiter neben sich. So angenehm dieses ist, ... so wenig erwünscht kann ... diese feine Abbildung ... sein, wenn es sich ... darum handelt, ... das Wichtigste hervorzuheben und das Unwichtige als den Gesamteindruck verwirrend beiseite zu lassen" (Miethe, S. 50-51). Miethe präferiert dagegen die Gegenlichtaufnahme. Die Bildbeispiele, die Miethe bringt, erinnern an romantisch-impressionistische Plein-Air-Malerei: diese frz. Tradition wohnt den Bildern Wentz' indes nicht inne, dazu bringt er die Formen zu klar gezeichnet, ganz im Sinne der handwerklichen Dokumentation von Ansichten auf deskriptivem Wege. Man braucht sich die Bilder von Wentz nur anzuschauen und sieht, dass die von Miethe angesprochene Piktorialismusdebatte bei Wentz keine Fortsetzung findet.
Dem entspricht auch der Gegensatz zwischen der Mietheschen Auffassung von "Motiv" als narrative Zusammenfassung und der deskriptiven, objektabbildenden Auffassungen Wentzens: "u n s e r Bild enthält ein 'Motiv'. Wenn man es in Worte fassen soll, so könnte man vielleicht sagen: 'Weit aus der öden Heide her, über flache Hügel, an einsamen Bäumen und Wacholderbüschen vorbei ziehen die Schafe im Abendschein ihren Ställen zu'" (Miethe, S. 63). Aber: Doppelmotive sind unzulässig, und daran hält sich auch Wentz, z.B. mit seiner Aufnahme des "Barocken Taubenhauses des Klosters Gräfinthal im Bliesgau", von 1930, oder im "Blick durch die Katholisch-Kirch-Straße auf die Basilika St. Johann / Saarbrücken", von 1925 (vgl. Miethe, S.63). Das Motiv sollte nicht in die Bildmitte gesetzt werden. "Hierdurch entsteht sehr oft eine unangenehme Symmetrie, die einerseits langweilig ist und auch deswegen stört, weil nur ein kleiner Teil, und zwar gerade der Mittelpunkt des Bildes, alles Interesse aufsaugt" (Miethe, S. 65). Wentz rückt sehr oft die Hauptgegenstände aus der Bildmitte leicht in die linke oder rechte Bildhälfte, was jedoch in der Praxis schwer zu beurteilen ist, da die Negative in der Ausstellung nicht einsehbar sind bzw. die Bildgrenzen nicht dokumentiert wurden. Bringt Wentz einen Gegenstand in die Bildmitte, so versucht er, durch eine verschiedentliche Ausgestaltung der angrenzenden Bildhälften Symmetrie zu vermeiden. Beispiele seien hier der "Blick durch die Katholisch-Kirch-Straße auf die Basilika St. Johann / Saarbrücken", dort dehnt sich auf der linken Seite eine Häuserfront in die Tiefe, auf der rechten Seite des hochformatigen Bildes sehen wir die Straße. Ein weiteres Bild wäre "Das Verlagshaus der Saarbrücker Landes-Zeitung in Saarbrücken", nach 1926, in einer bildbeherrschenden, beide Seiten symmetrierend übergreifenden V-Form, allerdings mit einer vertikalen Verschiebung der Bildgewichte zu beiden Seiten der Eckfassade von links oben (Bahnhofsgebäude) nach rechts unten (Bank). Schließlich "Das Staadt-Marx'sche Bürgerhaus in Merzig / Saar", um 1930, dessen Perspektivelinien nach rechts aus dem Bild auf einen imaginären Fluchtpunkt zulaufen (Eckperspektive).
Dass im Merziger Bild die perspektivischen Linien aus dem Bilde herausführen, ahndet Miethe jedoch auf dem Fuße: "Ein glückliches Motiv bedingt an sich schon, daß die Aufmerksamkeit im Bilde bleibt und nicht durch irgendwelche Umstände an einen gedachten Punkt verlegt wird, welcher sich außerhalb des Bildes befindet" (Miethe, S. 69) - ein an sich willkürliches Kriterium, bedenkt man, daß selbst der große Nicolas Poussin, der Maler von vorzüglichen Historien, in seinem "Tod des Germanicus" aus den 1620er Jahren einen Bezug aus dem Bilde heraus sucht. So wird auch gerade dieses allgemeinere Kriterium der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie von Protagonisten eines Neuen Sehens verworfen bzw. außer Acht gelassen, um z.B. intentional angelegte Diagonalen durch das Bild hervorzuheben.
Im 8. Kapitel "Luft und Wasser" beschreibt Miethe indirekt das Vorgehen Wentzens und verweist auf technische Neuerungen, die in damaliger Zeit auch Wentz geläufig sein dürften. "In der alten Schule der Photographie wurden Luft oder Wasser recht stiefmüterlich behandelt. Die Luft oder auch der Himmel war gewöhnlich durch eine weiße glatte Fläche gegeben, oder wenn es hoch kam, schwang sich der Künstler dazu auf, diese nach dem Kopieren 'anlaufen' zu lassen. Dieses Anlaufenlassen wurde so bewerkstelligt, daß die Kopie, nachdem das Gelände richtig belichtet war, noch eine Zeitlang unter teilweiser Bedeckung dem Licht ausgesetzt wurde. ... Auf diese Weise entstand eine gleichmäßige Dunkelheit, die nach oben zu an Tiefe zunahm ... Wurden bei dieser Arbeit noch einige Watteflöckchen benutzt, die man regellos über den Himmel streute, ... so glaubte man seine Schuldigkeit in höchstem Maße getan zu haben" (Miethe, S. 79). Man vgl. hierzu den "Herkulesbrunnen in Blieskastel", um 1925.
Wentz, Max: Der Herkulesbrunnen in Blieskastel. Um 1925. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Miethe sieht die Wolkenproblematik jedoch weniger unter physikalischen Gesichtspunkten als unter perspektivischen, und damit als Probleme der Komposition und Bildponderation. Und hier gelte es, den tatsächlichen Himmel in der künstlerischen Fotografie zu berücksichtigen. Lösungen innerhalb der Aufnahmesituation seien: Wolkennegative, panchromatisches Aufnahmematerial (vgl. Miethe, S. 84-85), changierende Belichtungszeiten für Himmel und Gelände (noch möglich bei längeren Verschlußzeiten der "Handkameras"), Gelbfilter. Auf chemischem Wege bevorzugt er die kontrastmindernde Entwicklung in Rodinal 1:100, ein Verfahren, daß heutzutage noch von Fine-Art- und Zonensystemfotografen genutzt wird. Abgerundet werden Negative mit wenig Zeichnung durch ein Bad in einem zweiten, kräftigeren Entwickler, der Kontraste auf der Basis nachstärkt. Die Zweibadmethode wird bis heute angewandt, allerdings scheint Tetenal Emofin vom Markt verschwunden zu sein, man ist auf eigene Rezepturen angewiesen. In der Zeit Wentzens konnte man aber auch noch mit solchen Verfahren gescheit arbeiten: die orthochromatische Platte konnte bei Rotlicht noch im Status der Entwicklung beurteilt werden, was die Erfahrung des Fotografen enorm vergrößerte, im Vergleich zur späteren "Blackbox" Dunkelkammer / Entwicklungstank. Und die Negative hatten Ausmaße von 9x12 bis 18x24 cm, was ebenfalls die Beurteilung erleichterte. Heutzutage vergrößern Amateure ihre Bilder vom Negativformat 2,4x3,6 cm auf 9x13 cm oder höchstens 18x24 cm.
Eine Engführung Miethes und Wentzens scheint auch zum Thema "Wasser" lohnend. Wentz legt Wert darauf, Wasser dunkler darzustellen als den Himmel, oder aber im Gegenteil Gegenlichteffekte nutzen zu können, z.B. im "Blick von der Cloef ins Saartal". Die "Mühle von Bliesbolchen / Saar", um 1925, zeigt eine Erhöhung des Bildkontrastes durch Spiegelung der hellen Hausformen im dunklen Wasser. Auch der Himmel wird kontrastreich belebt durch Wolken. Wentz erreicht Dunkelheiten v.a. durch Weitwinkel, z.B. im Gräfinthaler Taubenhaus oder in der Bliesbolchener Mühle, oder durch Reflexionen des dunkleren jenseitigen Ufers im Wasser, z.B. im "Nikolausweiher im Warndt". Jedoch, und auch hier folgt er der allgemeinen Auffassung, wie Miethe sie äußert: "Ein absolut ruhiges Wasser spiegelt die Gegenstände des Ufers so deutlich wieder, gibt alle Konturen mit einer so sklavischen Genauigkeit im Bilde zurück, daß dadurch im allgemeinen ein äußerst unmalerisches Doppelbild entsteht, das sich schwer photographisch verwerten läßt" (Miethe, S. 96).
Wentz, Max: Der Wendalinusbrunnen in St. Wendel / Saar. Um 1930. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Im Kapitel "Staffage und Genre" unterscheidet Miethe: "Die Landschaftsmalerei faßt unter dem Begriff der Staffage oder Beiwerk zahlreiche, äußerst mannigfaltie Gegenstände zusammen, die in einem Bilde die Bestimmung haben, entweder das Motiv mehr herauszuheben, die Stimmung zu kennzeichnen, tote Flächen zu beleben oder dem Ganzen einen persönlichen Zug zuzufügen. Neben dem Motiv aber soll bei der eigentlichen Landschaftsmalerei die Staffage nur eine untergeordnete Bedeutung besitzen; bildet sie die Hauptsache, so kann man nicht mehr von einem Landschaftsbild , sondern muß von einem Sitten-(Genre-)bild sprechen" (Miethe, S. 97). Wentz benutzt Staffage, z.B. in St. Ingbert, in der Weitwinkelaufnahme der Kaiserstraße. Verzichtete er auf Staffage, Miethe würde behaupten, die Straße sei zu breit geraten. Durch die Darstellung des Jungen am Bildrand wird die Breite ästhetisch gebrochen. Es wird einerseits ein Wirkzusammenhang zwischen der Breite der Straße und dem Beiseitedrängen des Jungen angesprochen, andererseits konzentriert sich der Betrachter auf den Jungen (gleich Roland Barthes, der das ihn aus dem Bild Ansprechende, das punctum, sucht). Ein ähnlicher Abbildungsmaßstab, auch ähnliche Kontraste, vielleicht nutzte Wentz dieselbe Ausrüstung, 10 Jahre später, im "Wendalinusbrunnen in St. Wendel". Hier ist der Brunnen Hauptmotiv und etabliert eine Iteration vom Betrachter über Wendalinus zum Dom. Was der Betrachter an Vorinformation normalerweise nicht mitbringt, ist, daß der Platz vor dem Dom beschränkt ist und die dem Dom gegenüberliegende Häuserzeile der Iteration einen Riegel vorschiebt. Durch die Weitwinkelaufnahme wird die Häuserzeile jedoch geschickt vom Dom selbst verdeckt.
Wentz, Max: Oberlinxweiler bei St. Wendel. Um 1920. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Miethe will mit Staffage störende Gleichmäßigkeit vermeiden. Daher sei Staffage auch nicht symmetrisch einzusetzen (vgl. Miethe, S. 104). Diesen Grundsatz finden wir auch bei Wentz. Allerdings räumt Miethe die Schwierigkeit des geschickten Einsatzes des Beiwerkes ein: "Man wird selbst bei großer Erfahrung oft später feststellen müssen, daß die sorgfältig gewählte Staffage im Bilde durchaus nicht die erwartete gute Wirkung besitzt, daß durch falsche Stellung im Raume des Bildes, durch ungeeignete Größe, schlechte Fleckwirkung und zahlreiche andere Umstände alles andere, nur keine vorteilhafte Wirkung erreicht worden ist" (Miethe, S. 113). Sieht man sich mit dieser Überlegung die Ansicht von "Oberlinxweiler" an, so sitzt dort ein Begleiter Wentzens am Ufer der Blies. Im Vergleich zu den Hinterfassaden der Bauernhäuser von Oberlinxweiler ist die Frage nach seiner Identität und dem Verlauf der gemeinsamen Wanderung sicherlich noch die interessantere. Auch die ungestalte Waldpartie am "Nikolausweiher im Warndt" hätte reduziert werden können zugunsten einer konsequenteren Darstellung des angelnden, sich erholenden Volkes. "Stille und Erholung" - diese Aussage wird aber auch durch den bleiern wirkenden, in keinster Weise durch Winde aufgelockerten Himmel behindert. Dies ist kein Sonntagswetter, weil die Wirkungen eines Sonnentages nicht hinreichend gezeigt werden. Nur ansatzweise im Laubschatten am Warndtweiher.
Wentz, Max: Angler am Nikolausweiher im Warndt. Um 1930. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Kommen wir zur "Stimmung", dem zentralen Punkt an Miethes Kunstlehre der Landschaftsfotografie. "Unter Stimmung verstehen wir verstehen wir eine Gefühlsregung, die durch den Anblick irgendeiner Landschaft oder eines Naturschauspiels in uns erweckt wird. Da die einzelnen Menschen für derartige Gefühle in sehr verschiedener Weise zugänglich sind, so ist eine Stimmung zu gleicher Zeit nicht für jeden in gleicher Weise vorhanden. Da aber der Zweck eines Kunstwerkes im allgemeinen auch darin gesehen werden kann, daß es in uns bestimmte, über das Alltägliche hinaus erhebende Vorstellungen erzeugt, so muß im Bilde das, was wir Stimmung der Natur nennen, erhalten und wiedergegeben sein" (Miethe, S. 71-72). Auch dies versucht Wentz nicht im Sinne Miethes, wie wir an anderer Stelle schon gesehen haben. Wentz versteift sich weder auf eine Abendstimmung noch auf eine Gemütsbewegung (außer im Bild der "Kirchenstraße in Berus"). Eher versucht er, Baudenkmäler und Städteansichten zu inventarisieren, um der an Deutschland orientierten Fraktion der Saar-Abstimmungskämpfer visuelles Vokabular zu liefern. Dadurch - und das entspricht dem oben geschilderten Vorgehens der fotografischen Moderne nach Blossfeldt - nobilitiert er seinen Aufnahmegegenstand. - Obgleich Miethe zu einer solchen Auffassung bemerkt: "Die malerische Wirkung eines Bildes kann nur bei dem eintreten, der bereits die Natur in der Stimmung gesehen hat, in welcher sie wiedergegeben werden soll. Wer nie das Meer im Sonnenglanze gesehen hat, kann die erhabenen Empfindungen, die eine wahrhaft künstlerische Wiedergabe desselben erwecken kann, nicht haben. Daher kommt es auch, daß es jedem von uns sowohl am leichtesten gelingt, die Stimmungen unseres vertauten Heimatlandes wiederzugeben, als sie auch in Bildern desselben von anderen wieder zu finden. Bilder aus unbekannten Gegenden haben für uns meist keinen Reiz, und keine Großartigkeit kann uns den Genuß verschaffen, den uns die einfachen Linien und die kleinen Verhältnisse der uns bekannten Naturumgebung in passender Stimmung vermitteln. ... J e e i n f a c h e r und b e s c h e i d e n e r das Motiv ist, desto eher wird es uns gelingen, eine Stimmung wiederzugeben, und desto innerlicher wird der Eindruck sein, den das Bild erweckt" (Miethe, S. 77-78).
Wentz, Max: Saarwiesen bei Völklingen. Um 1925. Scan von Postkarte. Quelle: Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Nehmen wir das Beispiel "Saarwiesen bei Völklingen", um 1925. Wolken werden reduziert, es wird keine heroische Landschaft, sondern eine tranquile Idylle gegeben. Alles scheint still, nur der Rauch einer Güterlokomotive dringt hinter einem Häuserdach in einem schmalen, kaum wahrnehmbaren Streifen hervor. Keine lautstarke oder kontrastintensive Äußerung des den Menschen umgebenden naturhaften Kontextes in einer eventuellen Abendstimmung, wie Miethe dies fordert, sondern flache, horizont- und bildflächenparallele Landschaftsgründe ohne Spannung, da die im Bild zu sehenden Türme ohnehin nicht alle über den Horizont herausragen. Dem entspricht ein moderater Riegel aus Wiesengrund, genau in der eigentlichen Aktionsbühne des Mittelgrundes, nämlich in den Saarwiesen, die - wohltemperiert, wie die Höhenstufung der Türme - durch Weidezäune parzelliert werden. Dieser Untergliederung entspricht die Rhythmisierung durch die Gebäudeformen entlang der drei Türme bzw. entlang der Eisenbahn. Die Einbeziehung von Kühen in jenem Wiesengrund verspricht symbolische Unaufgeregtheit. Schon in der Wahl des Aufnahmestandpunktes verzichtet Wentz auf extreme Unter- oder Übersicht. Halbverdeckte Bahnanlagen senken das Interesse am Bild. Diese Idylle wird unterstützt durch die Gebüsch-Rahmung am unteren und am linken Bildrand. Durch diese Rahmung wird - entsprechend schon der französischen Landschaftsmalerei des Rokoko - Interesse geweckt. Der Landschaftsdurch- bzw. -einblick gibt den Blick frei auf den ruhigen Teil Völklingens. Perspektiven, in die der Blick schweifen darf, werden eröffnet. Die Rahmung täuscht aber auch ein ländliches Ambiente vor: das eigentliche Hüttenwerk, Bringer des wirtschaftlichen Wohlergehens, wird bewußt ausgeblendet, verdeckt. Es "fällt aus dem Rahmen". Durch die Fernsicht werden die städtischen Fluchten reduziert. Man glaubt, es nur mehr mit einer Straße entlang der drei Türme zu tun zu haben. So müßte sich die Stadt dem Besucher, der von St. Avold, wo Wentzens Vater eine Gastwirtschaft betrieb, durch das Rosseltal und über Klarenthal herkam, dargeboten haben.
Was macht Wentz also, um "Stimmung" zu erzeugen: er nimmt nicht die Abendstunden, also keine atmosphärischen, witterungsbedingten Symbole, sondern Ruhe und den Eindruck eines Lebens auf dem Lande, um eine Stadt wie Völklingen bewußt zu verklären. Dies vor dem Hintergrund der Völkerbundproblematik der 1920er und frühen 1930er Jahre mit ihrem Kulminationspunkt in der Saar-Abstimmung vom 13.01.1935. Ich möchte auf die normative Erinnerungskultur bezüglich der Trennung des Saargebietes und ihrer Ursachen im 1. Weltkrieg verweisen, mit der sich Ludwig Linsmeyer im oben schon genannten Band zum 13. Januar 1935 beschäftigt hat (Linsmeyer, Ludwig: Die Macht der Erinnerung. -in: Linsmayer, Ludwig (Hrg.): Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte. Saarbrücken, 2005. S. 15-112). Linsmeyer schreibt: "Anders als in der pluralistischen Gesellschaft von heute, in der in gewissem Sinn auch die Erinnerungn wählbar geworden sind, herrschte damals eine 'normative Erinnerungskultur', die einen engen, quasi-religiösen Zusammenhalt unter dem ideologischen Dach der Nation verbürgte. ... Der durch die territoriale Trennung ausgelöste Prozess der historischen Selbstvergewisserung war das wichtigste Kapitel in der Vorgeschichte des 13. Januar" (Linsmeyer, S. 30). Da kann dann 1928, drei Jahre nach der Aufnahme Völklingens durch Wentz, der Völklinger Kaplan Wagner die Abtrennung des Saargebietes vom Deutschen Reich infolge der Niederlage des 1. Weltkrieges auf einen ungerechten Frieden zurückführen, wie Linsmeyer dies plausibel beschreibt (vgl. Linsmeyer, S. 31). Und in diesem ungerechten Frieden ist es nur naheliegend, die getöteten Soldaten des Krieges zu Opfern zu erklären. Opfer wofür? Für uns alle "so Kaplan Wagner am Volkstrauertag 1928 in Völklingen, 'haben die Toten eine besondere Mahnung ... Wie viele, die das schöne Land an der Saar ihre Heimat nannten, sind hinausgezogen, haben ihr Leben geopfert für diese ihre deutsche Heimat an der Saar. Sollten ihre Opfer vergeblich gebracht worden sein? Noch stehen wir unter der uns aufgezwungenen Herrschaft, unter der Knute, wenn ich so sagen will, der fremden Völker. Uns allen ist sattsam bekannt, wie man nichts unversucht lässt, unser schönes deutsches Saarland vom Vaterland loszureißen. Mir scheint, als ob der Kampf, der da draußen getobt hat um unsere deutsche Saarheimat, noch lange nicht zu Ende gekämpft sei'" (Linsmeyer, S. 31-33). Der deutschen Heimat entsprach die Vorstellung von einer deutschen Vergangenheit. Jedoch: "Das Geschichtsbild, das vermittelt und erinnert wurde, war eine Projektion der politischen Gegenwartshoffnungen in eine idealisierte Vergangenheit. Die vermeintlich konfliktfreie Zunft- und Hofwelt der Historie geriet als Vorbild für die neu zu erstrebende 'Volksgemeinschaft' ebenso in den Blick wie die historischen Exempel einer erfolgreichen militärischen und nationalen Selbstbehauptung" (Linsmeyer, S. 36). Linsmeyer beschreibt das historische Heimatfestspiel von Blieskastel von 1927, also aus der Zeit etwa, in der Wentzens Bild vom Herkulesbrunnen in jenem Ort einerseits die militärische Macht symbolisierte, andererseits die Ständegesellschaft (Nährstand, vgl. Gänse) in heroisch überhöhter Wolkenpositur und in einem handlungsfreiem und dadurch interessen- und konfliktfreiem Kopfsteinplastergrund andeutete, dadurch die national aromatisierten Heimkehrüberhöhungen einige Monate später antizipierte. "Unter den Bedingungen der Abtrennung wurde das Deutsche Reich für die Saarländer zum topografischen Zentrum ihres kulturellen Gedächtnisses. Nach Deutschland zu reisen bedeutete in die eigene politische Heimat zurückzukehren, wie überhaupt die Inszenierung der nationalen Geschichte in den saarländischen Heimatfesten umso stärker idealistisch eingefärbt wurde, als damit nicht nur eine vergangene Epoche, sondern zugleich ein politisch entrückter Ort vergegenwärtigt wurde" (Linsmeyer, S.37). - Entrückt ist aber auch der Ort der Völklinger Hütte im Bilde Wentzens. Dargestellt wird die vorindustrielle, bürgerliche, nicht jedoch die industrielle, proletarische Lebenswelt. Ausgeklammert wird aber auch die Hütte als pars pro toto der gesamten unter französischer Aufsicht stehenden Schwerindustrie. Der Betrachter weiß um das Vorhandensein der Hütte. Wentz nutzt hierzu eine angesichts der Vorinformation des Betrachters visuelle Nullpositionen, um den Völkerbund bewußt auszuschließen.
Wentz, Max: Neunkircher Eisenwerk in Neunkirchen / Saar. Um 1930. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
Man vgl. hierzu das "Neunkircher Eisenwerk in Neunkirchen / Saar", um 1930 entstanden. Die eigene Erfahrung des Autors kann Gestank, Dreck und Lärm gerade für die dargestellte Straße bezeugen. Immer war eine Reise in die Stadt über die abgebildete Haupteinfallstraße von Sinnertal herkommend eine fürchterliche Angelegenheit, bei der sich Ruß auf der Windschutzscheibe des Gefährtes niederschlug. Ein bleierner, schwermetallener Belag zog sich auf über die Vegetation und das Stadtinventar. Im Bilde Wentzens ist eigentlich eine der lebensfeindlichsten Umgebungen Neunkirchens dargestellt, auf die Besucher der Stadt unvermittelt stießen. Wentz hat diese Ansicht zur Idylle gewandelt. Nur durch den enormen Kontrastumfang zwischen der Himmelspartie und den Schatten im Bild wird der atmosphärische Dreck unsichtbar, genauso wie die ewig lodernde Gasflamme über den Winderhitzern. Der Verkehr war entweder zu jener Zeit noch nicht stark ausgeprägt, das legt das Pferdefuhrwerk nahe. Oder er bewegte sich so schnell, daß man ihn bei längerer Belichtungszeit nicht sah. Die Straße selbst verengt sich kanalartig und die Flucht bergab wird durch die hohen Mauern des Werkes und dessen klotzartige Wirkung noch verstärkt. Eine Beschleunigung tritt ein, in der der Mensch eigentlich nichts zu suchen hat, vergleichbar mit einer Partie der Stadtautobahn in der Innenstadt von Saarbrücken, entlang der Berliner Promenade. Die Bäume tragen Laub, die Passantinnen links sind hochsommerlich gekleidet. Man stelle sich die Hitze vor, in der sich der Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite bergan quält. Heutzutage findet man solche Ansichten pittoresk. Ähnliches gilt wohl auch für die "Kleinstadtidylle hinter St. Michael in Homburg / Saar" von 1925. Man bedenke: die dargestellten Kinder lebten in ärmlichen Verhältnissen. Ebenso wie der Junge auf der Weitwinkelaufnahme in St. Ingbert oder die Bauern am Spicherer Berg, in einer Aufnahme von 1914. Man betrachte sich auch die Innenstadt von Ottweiler, immerhin dem damaligen Amtssitz der Kreisverwaltung, Aufnahme um 1930. Wentz schuf Idyllen.
In der Ansicht des Neunkircher Eisenwerkes: Staffage, Rahmung durch den Baum links, Sprossenfenstern an der Hütte, mit interessanter Spiegelung, die den Blick fängt, mit spielerischem Wechsel beleuchteter und eingeschlagener Scheiben, Steigerung des bildlichen Kontrastumfanges, der den atmosphärischen Dreck zum Verschwinden bringt, ebenso wie die Gasflamme. Die Vorinformation weiß jedoch mit dem dargestellten Ort etwas anzufangen, und deshalb vermag der Versuch Wentzens nicht zu überzeugen. Eine echte Idylle liegt jedoch am "Spicherer Berg" vor (1914): dort erfolgt eine Darstellung bäuerlichen Lebens in traditioneller Arbeitstracht. Scheinbar glückliche Menschen posieren bei gutem Wetter. Das Denkmal auf der Anhöhe enthebt den Blick des Betrachters des ländlich-arbeitsreichen Anschauungsbereiches zu generelleren, grundsätzlicheren Überlegungen über die eigene heimatliche Verwurzelung, insbesondere an jenem geschichtsträchtigen Ort der Schlachten des 19. Jahrhunderts. Ein wiederkehrendes Thema bei Wentz ist also die Aufgabe, den Widerspruch zwischen bürgerlichem Wohlstand und industrieller Proletarisierung aufzulösen bzw. zu kaschieren, um zu einem liebenswerten Heimatbild zu gelangen, um überhaupt Identität im abgetrennten Saargebiet zu finden. Dazu nutzte er die zeitgenössischen Ideologieangebote.
Wentz, Max: Pflügende Bauern am Spicherer Berg bei Saarbrücken. Vor 1914. Scan von Postkarte. Historisches Museum Saar - Saarbrücken - Bildarchiv
6. Schluß
Auch Wentz reiht sich also in die Propaganda ein. Mithin ist auch er als Erfüllungsgehilfe einer modernen Fotografie zu begreifen. Im Bauhaus erfolgt jedoch einerseits oft eine bildkünstlerische Konkretisierung von Kompositionsprinzipien, indem von Gegenstandsbezügen abgesehen wird. Paul Klee schreibt seine "Bildnerische Formlehre", Kandinsky seine Bücher "Punkt zu Linie zu Fläche" und "Über das Geistige in der Kunst". Hier liegt der Ansatz für die prinzipiellere Demonstation künstlerischer Wahrnehmung. Demgegenüber kleidet Wentz die bildkünstlerischen Prinzipien - von Miethe freilich nur angerissen und beileibe nicht systematisch ausgebaut - in Landschaftsfotografie. Beide Möglichkeiten haben Ursachen und Gründe. Auf der einen Seite stehen ein Neues Bauen und Design unter den Gesichtspunkten wirtschaftlicher Ersparnis und konstruktiver Rationalität, auf der anderen Seite stehen historisierende Reminiszenzen an vermeintlich bessere Vergangenheiten, die als Kondensationspunkte für Träume an eine bessere Zukunft genutzt werden können. Daß Sachsse von einem vorindustriellen Menschenbild sprach, leuchtet ein. Vielleicht dient die Ausstellung aber auch als Spiegel für die eigene Idyllensehnsucht. Nicht wenige, die die Ausstellung besuchten, ergaben sich in Begeisterung: "So schön war es einmal bei uns!" Angesichts des 50-jährigen Jahrestages der zweiten Saarabstimmung, der Abstimmung über den Saarstatut vom 23.10.1955, kann man festhalten, daß der Saarländer genau das bekommen hat, was er sich immer schon wünschte und heute immer noch sucht: eine vermeintlich heile Welt.
Nachtrag 24.07.2005:
Nachgereicht werden Vor-Ort-Aufnahmen der topografischen Situation am Denkmal des französischen Artilleriebeschusses auf Völklingen, am 02. August 1870. Dieses Denkmal befindet sich am Hühnerscher Berg zwischen Geislautern und Fürstenhausen. Der Ort des Denkmals stellt in etwa die Aufnahmerichtung Wentzens für die o.g. Aufnahme von Völklingen dar. Wentz stand, das zeigen die unterschiedlichen Turmhöhen der Stadt, etwas tiefer am Berg.
Brück, Werner: Denkmal am Hühnerscher Berg / Völklingen. Völklingen, 2005
Brück, Werner: Denkmal am Hühnerscher Berg / Völklingen. Völklingen, 2005
Es ist zu bedenken, daß Wentz des Denkmals und der dazugehörigen Historie eingedenk war, was den obigen Befund in außerordentlich evidenter Weise stützt. Schon durch die Wahl des Aufnahmestandortes bezog sich Wentz auf den schwelenden Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland, der in der französischen Verwaltung des Saargebietes die aktuelle Sublimation erfuhr. Die Abscheulichkeit des Beschusses eines Krankenhauses ließ sich propagandistisch hervorragend ausnutzen. Auch stand Wentz mitten ind er Erinnerungskultur der 1920er jahre, die sich auch und vor allem auf den Krieg von 1870/71 bezog - als ein für Preußen siegreicher Krieg, im Gegensatz zur Niederlage 1918.
Brück, Werner: Blick auf Völklingen vom Denkmal Hühnerscher Berg / Völklingen. Völklingen, 2005
Brück, Werner: Blick auf Völklingen vom Denkmal Hühnerscher Berg / Völklingen. Völklingen, 2005
Brück, Werner: Blick auf Völklingen vom Denkmal Hühnerscher Berg / Völklingen. Völklingen, 2005
Interessant auch die Wahl der Brennweite. Wentz benutzte ein Teleobjektiv, um Völklingen heranzuholen. Dadurch selektierte er die pittoreskere Ansicht, die dreckige Industriekulisse blieb "links liegen". Man vergleiche das Panorama. Die schlechte Luft von Fürstenhausen ist im Bilde ebenfalls nicht zu sehen, gleiches gilt für den Lärm, der von der Saar bergaufwärts getragen wurde.
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777