Loreley G. Garcia: Die Erlösung der Utopien.
Einleitung
Ziehen wir einen Vergleich zwischen Hannah Arendt, Habermas und Castoriadis, so finden wir als gemeinsamen Nenner den Konsens.
Verschiedene Wege beschreitend und aus unterschiedlicher Tradition kommend - sei es durch die Autonomie, durch die Reabilitation der Polis oder durch das ausschließlich kommunikative Handeln - streben sie den Konsens an als endgültige Form, die eisernen Käfige zu sprengen.
Ziel ist nicht, wie bei Weber oder Parsons, ihre Legitimation oder Zergliederung, sondern die endgültige Zerstörung. Auf dem Wege der Reformen oder der Befreiung streben sie die menschliche Emanzipation an. Sie einigen sich auch dahingehend, daß die Macht in ihrer Ausübung existiert; daß sie ein unablässiger politischer Prozeß ist, der eine permanente Partizipation des gesellschaftlichen Kollektivs verlangt, um eine doppelte Entartung zu verhindern: die Verweigerung (auf dieses Phänomen werden wir bei der Beschreibung des Modernen Narzismus näher eingehen) und die Schaffung eines Machtvakuums, das in der Tendenz von der Gewalt der Herrschenden besetzt wird.
Nach Hannah Arendt und Castoriadis bringt Autonomie politische Fragen hervor. Bei Arendt schließt diese politische Sphäre die sozioökonomischen, juristischen und strategischen Aspekte aus. Castoriadis verficht die These, daß die Autonomie alle in der Gesellschaft produzierten menschlichen Aktivitäten umfaßt. Obwohl sie dem konservativen Lagen zugerechnet wird und jener dem anarchistischen, beschreibt sie die Praxis mehr im marxschen und er eher im aristotelischen Sinne. Politisches Handeln ist immer ein institutioneller Akt. Öffentliches Leben zeichnet sich durch eine das Neue schaffende Dynamik aus. Dieses Neue entspringt aus der Einheit der sprechenden und gleichberechtigten Bürger. Sobald jedoch ein Prozeß der Institutionalisierung eintritt und die Menschen sich vom öffentlichen Leben abwenden und im Idion Zuflucht suchen, erleben wir eine unausweichbare Verfestigung der Macht und den Beginn einer Herrschaft, die Spreche ausschließt und sich der sprachlosen Gewalt bedienen wird.
Im Gegensatz zu Arendt, die Macht definiert als die Gemeischaft sprechender und handelnder Menschen, setzt für Castoriadis "Autonomie" eine Wiederaufnahme der Polis in der bekannten Form des Ratsystems voraus. Der u.E. unglücklich gewählte Terminus "Staasrat" bei Arendt beinhaltet im wesentlichen nicht die Aufrechterhaltung des modernen Staates; es geht nicht um die Neubelebung eines vielseitigen und handhabbaren, an unterschiedliche Produktions- und Regierungsformen anpassungsfähigen Leviathan. Vor dem Rat erscheint der Staat sinnentleert: er erreicht den ersehnten Moment der Befreiung, in dem er überflüssig wird.
Bei Hannah Arendt und Habermas vergegenwärtigt sich das Ressentiment verschiedener Generationen, die Geschichte erlitten haben. Sie haben das grundlegende Bedürfnis, die Komplexität von Gewaltherrschaft zu verstehen und die Möglichkeit zu entdencken,das Neue auf den Trümmern der durch die totalitäre Barbarei zerstörte Welt zu errichten.
Verfeinert, bis zu Verhinderung der Transparenz von Gewalt und Herrschaftsbeziehungen, finden sich in der Aktualität Habermas die Elemente wieder, die laut Hannah Arendt zur Dekadenz des öffentlichen (politischen), und somit in seiner "conditio humanae" degenerierten, Menschen führen. Das heißt: die Verdinglichung hat sich verfeinert, die Alienation und das Gefühl der Fremdheit haben den Punkt erreicht, an dem der Fetisch die Beziehung des Wesens mit seinem eigenen Körper überdeckt.
Der ökonomischen Basis bar, stellt sich Habermas Welt voll der von Hannah Arendt aufgezeigten objektiven Bedingungen dar, um wiederum im Totalitarismus zu münden. Da jedoch keiner der Autoren an der Idee der unmittelbaren Überdetermination des Ökonomischen über das Politische festhält, geht es darum, den Widerspruch zu verdeutlichen auf einer Ebene, die außerhalb des Verhältnisses zwischen Produktionskräften und Produktionsbeziehungen liegt.
Ziel dieses Vorhabens ist es aufzuzeigen, daß an der Grenze zur Aktivität der "excellence" die Politik die Banalität beginnt, und daß das Fehlen von Öffentlichkeit beim Menschen das Wesen derjenigen entartet, die nachweislich nicht sind, sondern eine Geschichte haben - und somit schließlich eine Neubewertung des geschichtlichen Menschen, wie wir ihn aus der literarischen, politischen, wissenschaftlichen und philosophischen Arbeit kennen, vorzunehmen. Ohne seine öffentlichen Dimension ist der Mensch Faust vor seiner Begegnung mit Mephisto, ist einer, der entfremdetes Wissen anhäuft, ohne jemals das Verstehen zu erlangen, einer, dessen Handeln bestimmt wird von Wirklichkeitsfragmenten und der, wenn er sich auf die Suche nach der Gesamtheit macht, wie es die Tradition vorschreibt (mit Ausnahme von Marx, Nietzsche und Kierkegaard), den politischen Totalitarismus und die Vorherrschaft einer Meinung erreichen wird, und somit einen Totalitarismus der Gedanken.
Dieses Vorhaben will den umgekehrten Weg gehen, den Hannah Arendt in "Ursprünge der Totalen Herrschaft" beschritten hat. Arendt beschreibt, daß das Nichtvorhandenseins des Menschen in der Öffentlichkeit sich auswirkt in der Zerstörung der Öffentlichkeit. Unser Interesse ist aufzuzeigen, daß das Fehlen des Öffentlichkeitsmoments im Menschen zu einem neuen Dasein oder Mitdasein geführt hat, das nicht nur ein neues Sich-in-der-Welt-Situieren, sondern eine neue Sensibilität geschaffen hat: das moderne Empfinden.
Über die Analyse modernen Denkens hinaus, ist es Ziel zu behaupten, daß Rationalität tatsächlich eine Zweckhandlung ist, jedoch nicht notwendigerweise das eigentliche Leben des Menschen im ahistorischen Alltag bestimmt. In Anlehnung an Castoriadis handelt es sich um eine Studie über die Wahrnehmung des kollektiven Imaginären, über die kleinen Leute in ihrer kleinen, von historischen Schlachten und Entscheidungsprozeßen weit entfernten Welt. Kleine Leute, die ihr Schicksal und ihre Welt betreffenden Nachrichten aus japanischen Radiogeräten erfahren. Die elektronische Vermittlung legitimiert und normalisiert die Barbarei - Kosovo, Sudan, Irak... -, d.h. das Vorfinden der Kreatur, die sich in keinster Weise der Dinge, die letzendlich sie selbst angehen, bewusst ist. Somit sind die kleinen Leute Opfer, die sich ihrem in der Figur des Vaters erscheinenden Feind ausliefern, den sie aus diesem Grund nicht zu erkennen vermögen.
Hauptteil
Das Imaginäre ist ein Daseinsstil. Bezogen auf die "kleinen Leute" könnten wir behaupten, daß sie mittelmäßig leben und fühlen, daß sie die Hoffnung Marcuses und der Protestbewegungen vergangener Jahrzente eingetauscht haben gegen Versicherungskarten oder den Erwerb von Kleinkomputern. Den Menschen darzustellen, der Gegenwart herstellt und konsumiert, heißt eine Generation aufzuzeigen, die wenn sie auch gelebt hat, die Existenzmöglichkeit einer "brodelnden", sich verwandelnden Welt gesehen, erkannt und gekannt hat.
In dem Maße, in dem das "Idion" selbst verschwindet, finden eine zunehmende Verarmung in den zwischenmensclichen Beziehungen, im gemeinschaftlichen Leben statt an den Merkmalen, die die "excellence" ausmachen, jene Eigenschaft also, die das Leben im "idion" betreffen. Sie verflüchtigen sich, verlieren ihre Ursprungs- und Nährquelle. Wurden sie vormals vom "Idion" ins "Idion" verlangert, so wirkt dieser Vorgang nun umgekehrt: das Idion bringt die Charakteristika hervor, welche zur Definition dessen, was seit dem Verschwinden des Idion als öffentliches Leben bezeichnet wird, herangezogen werden.
Anders gesagt: mit dem Verschwinden der öffentlichen Sphäre, schwanden auch zunehmend jene die politische Dimension des Menschen definierenden Werte und Haltungen, weil sie die Privatsphäre nicht betrafen.
Bei Hannah Arendt ist der Bereich der politischen Tugenden - Wahrheit, Würde, "excellence", Ruhm, Herrlichkeit - verformt worden. Aus der Verfälschung entstand das Gegenteil: die Banalität des Bösen.
Bei Castoriadis, spiegelt sie die Revolution oder der radikalere Weg zur Emanzipation des Selbst wieder: das die arendtschen Voraussage bestätigende totalitäre Zerrbild, daß jede Revolution im Name der Freiheit beginnt und in der Unterdrückung endet. Es wäre jedoch leichtfertig daraus zu schließen , schuld an dieser Entartung sei die der Revolution innewohnende Berufung zur Gewalt. Verantwortung tragen vielmehr die Akteure, welche die politische Bühne verlassen und somit ein Vakuum entstehen lassen, das ideale Bedingungen dafür schafft, daß einige Wenige sich allmählich der Führungsapparate bemächtigen und sie in Instrumente der Gewalt verwandeln.
Doch woran liegt es, daß der revolutionäre, in Augenblick der Instituition gegenwärtige und partizipierende Mensch die Handlungsebene nach vollzogener Instituition verläßt und die Zügel seines Schicksals der Partei , dem Staat, dem Vater zurückgibt?
Castoriadis Antwort ist die überzeugendste und gibt Ludwig Nagl recht, der ihn für einen der interessantesten und klügsten marxistischen Denker hält, weitdenkender als Habermas in seiner Begriff von Modernität. Diese Antwort bezieht sich auf die eingefleischte Gewohnheit des Gehorsams und des Obrigkeitsdenkens: die Hinnahme der Hierarchie als natürlicher Bestandteil menschlicher Gemeinschaft und die fehlende Erkenntnis, daß Anderssein dem "gesunden" Volkskörper schadet, daß es etwas ist, was nicht nur bestimmt werden muß, sondern auch eingeordnet, und daß diese Einordnung zweilfelsohne nach hierarchischen Mustern geschieht. Die Reproduktion des hierarchischen Einordnungsschemas ist dem westlichen Denken immanent, als ob zwischen der Gemeinschaft von Individuen und Hierarchie eine unmittelbare Interdependenz bestünde. Sei es im Bereich der Freiheitsstrategien, sei es in dem der wissenschaftlichen Vernunft, bestimmt die "fixe Idee des Ein- und Zuordnens" das in Wissenschaft und Philosophie immer noch barbarische Denken.
Zurückkommend auf den Zusammenhang zwischen den drei Autoren: jeder von ihnen verficht eine bestimmte allgemeine politische Theorie, die ihrem spezifischen Verständnis dessen entspringt, was wir Modernität zu nennen gewöhnt sind. Alle drei beschäftigen sich mit der Beurteilung der existierenden Bedingungen für die Wiederherstellung bzw. Neuschaffung der öffentlichen Sphäre. Hannah Arendt zeigt den Weg der Revolution auf. Castoriadis tritt dafür ein , die Kinder der Revolution am Leben zu erhalten. Habermas strebt die Rationalisierung der Formen menschlichen Zusammenlebens an.
Für Habermas liegt in der Rationalisierung aller Lebensbereiche das Merkmal der Emanzipation. Der erste Schritt auf dem Weg zur Emanzipation sei die Erweiterung des Allgemeinbegriffs von Vernunft, der gegenwärtig beherrscht wird von der strikt technischen Ratio. Das Stadium der Emanzipation zu erreichen, bedeutet das recht auf Individualismus, auf Kritik, auf Autonomie und auf ein eigenes Konzept des historischen Prozeß zu erlangen. Vier Bedingungen, die bei Kant und Marx vorhanden sind, bekommen so eine soziale Dimension, werden als ureigenstes Merkmal von Modernität bewahrt und würden durch die kollektive Partizipation auf kommunikativer Ebene reduziert.
Habermas These zur Modernität oder die Theorie des intersubjektiven Diskurs beruht auf seiner an den "Lebenswelt"-Begriff gebundenen Systemkonzeption.
Die drei Autoren werden gegenübergestellt, um sie von ihren Unterschieden her zu verstehen. Habermas hat das Privileg, sowohl über Hannah Arendt als auch über Castoriadis geschrieben zu haben. Dies eröffnet uns den denkenden Habermas in seiner Reflexion der anderen. Uns interessiert die Beziehung der Denker untereinander, ihren Kontext und ihre Tradition.
Verfolgen wir nun den von Habermas beschrittenen Weg zur Theorie des kommunikativen Handelns, wo er sich mit Hannah Arendt in den epistemologischen Schriften trifft. Habermas polemisiert mit Lehmann und Popper die Positivismuskritik, mit Carnap und Nagel die Kritik am reinen Empirismus, mit Gadamer die Frage der Neutralität des Verstehens. Er kritisiert Weber Standpunkt zur Neutralität der Wissenschaft. Habermas zufolge ist "Interesse" die Grundlage der Emanzipation, es stellt die Voraussetzung für jegliches Wissen dar, sei es ein technisches auf die Beherrschung der Natur gewandtes, sei es ein historisch-hermeneutisches auf zwischenmenschliche Kommunikation und Beziehungen bezogenes.
Beide Wissenskategorien wirken hin auf die Befreiung, der Natur einerseits und andererseits von der sozialen Repression. Wissen zu erlangen auf dem Wege des zur Emanzipation führenden Interesses impliziert, daß die Kritische Theorie selbst ein emanzipatorisches Interesse darstellt.
Die Voraussetzung liegt in der Selbstschöpfung (Selbsterschaffung) des Individuums, in der ständig produzierenden und reproduzierenden Wechselwirkung zwischen kommunikativem und zweckhaftem Handeln. Habermas führt das kognitive Interesse zurück auf die Freudsche phänomenologische Selbstreflexion, mit dem Ziel, die pathologischen Barrieren und Fesseln, die den Fluß der Kommunikation des Subjekts mit sich selbst verhindern, auszuschalten - von dem stillen Dialog des Ich mit sich selbst beim Vorgang des Denkens bis zur Kommunikation mit dem anderen. Diese Blockade verhindert die Möglichkeit der Verwirklichung des Politischen im Menschen. Denken und Sprechen sind beim modernen Menschen blockierte Vorgänge. Habermas strebt die Wiederherstellung einer gesunde Kommunikation an - so gesehen sind seine politischen Arbeiten Kritik an Staat und Gesellschaft. Wie auch Hannah Arendt, will Habermas die Öffnung der Kommunikationskanäle, um den öffentlichen Bereich zurückzuerobern, den er auch als Bereich der Meinungsbildung - der "Doxa" - begreift. Im Gegensatz zu Arendt, hat nach Habermas der Staat die Funktion, für die materielle Infrastruktur zu sorgen oder in die Ökonomie zu investieren. Der Staat vollzieht den Fortschritt und schafft den Wohlfahrtsstaat. Dabei profitiert er von den neuen produktiven Kräfte im Dienste des Idion: die von der Gesellschaft finanzierte Produktion von Wissenschaft und Technologie. Produktiv ist die technische Vernunft, die ihrerseits sich redefinieren müssen, um sich der technischen Logik anzugleichen. Bereits in ihrer Entstehung verraten die anderen Vernunftkategorien die Vorherrschaft der technischen Vernunft.
Habermas kritisiert Arendt dahingehend, daß ihr aristotelischer Begriff von Politik in keinster Weise den Erfordernissen des modernen Staates und einer Massengesellschaft gerecht wird, in der die Einrichtung der Polis sich nur durch einen elitären Prozeß realisieren ließe. Allerdings ist Habermas nicht an der Erhaltung des modernen Staates interessiert. Dagegen steht Arendts Anliegen, den Staat in eine andere, von Herrschaft nicht belastete Form zu verändern. Für sie ist klar, daß die Souveränität, die in der Politik den der Freiheit gebührenden Platz eingenommen hat, die Grundlage für die Überlebensfähigkeit des Staates ist. Arendt schlägt die Wiederherstellung der Freiheit und eine selbstverwaltete Räte-Gesellschaft vor und plädiert für ein Zentralorgan in der Form eines Staatsrates, ohne jedoch näher auf die Frage einzugehen, daß die Existenz der Räte den Staat selbst überflüssig macht. Im Gegensatz zur Habermas, stellt für Arendt der Rat die angemessenste Partizipationsform für die Massen dar, weil sie eine permanente Kontrolle über die Vertreter oder die Räte höherer Instanzen garantiert. Es ist die einzig mögliche Form, die in einem ständigen und immer Konsens anstrebenden Diskussionsprozeß geschaffene und sich erneuernde Macht lebendig zu erhalten.
Hannah Arendt vertritt die These, daß der Staat die hegemonische Form der politischen Organisation ist, deren Ausschließlichkeit kein Raum offen läßt für die Entstehungsmöglichkeit von geeigneteren Ersatzformen für Machtschöpfung, als es Führung und Gewalt sind, ohne die der Staat nicht bestehen kann. Der Staat ist zum Mythos geworden, weil er sich selbst mit einer Absolutheit ausgestattet hat, die suggeriert, er sei die einzige und nicht eine von vielen möglichen Formen, politisches Leben zu gestalten. Was allerdings den Staat einzigartig macht, ist seine Fähigkeit, sich nur mit Hilfe von Zwängen, Repression und Gewalt zu halten. Totalitarismus als politische Organizationsform ist nur im Staat denkbar und stellt vielleicht den eigentlichen Höhepunkt der Form Staat dar. Der Staat entspricht den Interessen der Herrschaftsform, die einer bestimmten Klasse nützt. Die Umwandlung der Klassenvorherrschaft ist eine Emanzipation der Gesellschaft als Ganzes, die die Führung ihres eigenen Schicksals in die Hand nimmt, macht eine dieser Absicht entsprechende Organisationsform notwendig, welche den Staat nicht nur ersetzt, sondern zum Ziel hat, ihn auszulöschen.
Dies wird nicht durch die Aufrechterhaltung der Gewaltinstrumente, sondern durch das kommunikative Handeln erreicht. Habermas radikaler Reformismus steht in diesem Punkt der Apologie der arendtschen Revolution frontal entgegen. Re-form bedeutet, neue Formen für die gleich Essenz zu finden, Re-volution impliziert "die auf der Straße liegende Macht", die die Gesellschaft sich wieder aneignet. Hier ergibt sich eine Verschiebung zwischen der vom Staat ausgeübten Herrschaft und der von der Gesellschaft geschaffenen Macht.
"Obwohl Revolution und Revolte denselben Ursprung haben und beide die Rückkehr rechtfertigen, ist erstere philosophischen und astronomischen Ursprungs: die Rückkehr der Gestirne und Planeten an ihren Ausgangspunkt, die Rotationsbewegung um eine Achse, Kreislauf der Jahreszeiten und der geschichtlichen Epochen. Im Begriff "Revolution" verschmelzen die Idee von Rückkehr und Bewegung in einer Ordnungsvorstellung, im Begriff "Revolte" wird mit denselben Idee Unordnung assoziiert. Revolte impliziert somit keine kosmogonische oder historische Weltanschauung, sie ist chaotische und aufrührerische Gegenwart. Um nicht im Aufruhr verharren und in die Geschichte einzugehen, muß sie zur Revolution werden" (Paz, Otávio in Signos em Rotação, S.262).
Im Gegensatz zu "Reform" ist "Revolution" ist kein positiver Begriff.
"Im XIX. Jahrhundert tritt in der Politik eine neue Figur auf: der "Reformer", eine grausame Mischung aus Positivismus und Protestantismus. Als Verkörperung zweier Häresien, nutzt er die Schicklichkeit der Salons der "Belle Epoque", um die Revolution einzuschmuggeln. Der Reformer lebte nicht im Untergrund wie die Rebellen, noch in der Vororten der großen Städte wie der Revolutionär, sondern in Klasenzimmern und Zeitungsredaktionen." (ibid, S.264)
Bei seiner Positivismusikritik entwickelt Habermas die kritische Theorie ohne freiheitliche Tragweite, welche wiederum in eine positivistisch geprägte Proposition mündet - die des, wenn auch radikalen, Reformismus.
Habermas zweite Kritik an Arendt betrifft ihre Ausschließung des Zweckhandelns der politischen Sphäre.
Bei Arendt sind Krieg und Revolution keine Gegensätze, vielmehr wechselseitige und voneinander abhängige Phänomene mit einem gemeinsamen Nenner: die Gewalt. Daher auch der unheilvoller Hang des einen sich in das andere zu verwandeln. Was allerdings im Hinblick auf Krieg als Möglichkeit erscheint, erweist sich in Bezug auf die Revolution als Fatalität.
Wenn auch Krieg keine politische Handlung ist, so ist er unbestreitbar eine Handlung des Staates. Gründete sich vormals der Krieg auf Rationalität und Strategie, so macht dies heute keinem Sinn mehr, denn was wir gegenwärtig unter Krieg verstehen, schließt sowohl Strategie als auch die Partizipation des Menschen aus. Nicht das Schlachfeld ist das Gegenteil von politischem Handeln, sondern das Konzentrationslager, denn dies ist der Ort an dem die Gesetze schweigen und alle anderen schweigen müßen.
Arendts dritter Irrtum besteht in ihrem Festhalten an der klassischen Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis - Wahrheitfähigkeit und Doxa - , die eine Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Konsens unmöglich macht.
Die Lösung liegt für Arendt in der Praxis, in der permanenten politischen Aktion, der alltäglichen kollektiven Partizipation an der öffentlichen Dingen. Hier enthüllt sich die illusorische Doxa, denn sie wird unter Kontrolle nicht weiter bestehen können. Nur die Wiederherstellung der politischen Dimension des Menschen und ihre Wiedergleichstellung mit den anderen Bereichen der Produktion und Reproduktion seiner selbst und seiner Lebensgrundlagen wird die Doxa verhindern. Hannah Arendt will einen neuen Bürger, will die Wiedererlangung sinnvollen menschlichen Handelns, das in brutaler Weise aus dem Leben entfernt worden ist. Mit Partizipation meint Arendt die Wiederergreifung der Zügel der Geschichte durch die Massen.
Habermas bietet erneut das psychoanalytische Modell an, in dem die Partei - oder Ähnliches - die Rolle des Therapeuten übernimmt und gesellschaftliche Interpretationsmodelle offeriert, das falsche Bewußtsein beseitigt und den Konsens herstellt. Habermas geht von der grundsätzlichen Voraussetzung aus, daß die Kommunikation entstellt sei. Bei aller Berücksichtigung der konkreten geschichtlichen Verhältnisse ist, und daß, wenn diese verschwinden, auch jene die Kommunikation entstellende ideologische Kette reißen wird, oder zumindest kann. Die Bedingungen für die Realisierung von kommunikativem Handeln bestimmen seinen Zustand.
Habermas ergreift Partei für Parsons und Weber gegen Arendt, weil jene ihren Machtbegriff aus der konkreten historischen Erfahrung ableiten. Arendts Verständnis von Macht kommt jedoch der phänomenologischen Wahrheit bedeutend näher. Habermas sucht die Harmonisierung, die Einheit zwischen der Systemtheorie (obwohl positivistisch geprägt) und dem arendtschen Konzept, er strebt eine empirische Theorie an, die sowohl die autoritäre Herrschaft wie die historische Realität der entstellten Kommunikation bewältigt, mit dem Ziel, von Gewalt zu befreien.
Habermas Ansatz der entstellten Kommunikation entspringt seinem Hermeneutikverständnis. Er bezieht sich sowohl auf die Fähigkeit, die wir während des Lernprozeßes einer natürlichen Sprache erwerben, als auch auf die Kunst, die sprachlich mitteilbare Bedeutung zu erfassen und sie verständlich zu vermitteln, wenn die Kommunikation gestört ist. Das Verstehen der Bedeutung zielt auf den semantischen Inhalt des Sprechens aber auch auf die schriftlich fixierten oder durch non-verbalen Symbolsysteme vermittelten Bedeutungen, soweit sie grundsätzlich durch Sprache erfaßbar sind. (Kultur und Kritik, S. 264)
Diese Sicht der Hermeneutik ist exegetisch, jeder Text enthält einen Teil Wahrheit. Bei der kritischen Hermeneutik beginnt der Prozeß des Verstehens mit dem Nichtgesagten und dem Nichtgedachten; dies ermöglicht den Weg der theoretischen Reflexion noch einmal zu gehen. Hermeneutische Kritik ist Ideologiekritik, die das Bewußtsein durch das, was unterdrückt und nicht geäußert wurde, enthüllt.
Abermals finden wir bei Habermas das freudsche psychoanalytische Modell, dessen Voraussetzung die systematische Verstümmelung des Verstehens ist, auf der Grundlage der Strukturen der systematische Deformation. Oder aber Habermas Hermeneutik wirkt als Metahermeneutik - ein die Tradition, aus der es kommt, tranzendierendes Verstehen. Diese Tranzendenz eröffnet die Möglichkeit der radikalen Kritik (im Gegensatz zu Gadamer). Kultur ist schon ein Träger der durch den falschen Konsens ideologisch legitimierten Gewalt. Die radikale Kritik trennt das an die Kultur gebundene naive Verstehen vom kritischen Verstehen, das Kultur als ideologisiert wahrnimmt, und zwar durch das Instrument der Metahermeneutik. Dieser Wahrheitsgehalt unterscheidet den falschen vom wahren Konsens. Diese Wahrheit, sei sie auch provisorisch, stimmt mit den für ihre Erlangung benutzten Mitteln überein.
Bei Hannah Arendt ist "Sprechen" Ursprung von Macht. Sprache ist für sie das stärkste Glied, das uns mit einer Identität, mit unserem privaten Traditionsbegriff verbindet. Sie benutzt Sprache als Versuch, das politische Phänomen in seiner Essenz zu begreifen, definiert Worte als Behältnis vergangener Wahrnehmungen. Sie machte sich daran, jedes Phänomen zu analysieren, weil sie sich weigerte, die époche eines Bedeutungszusammenhangs auf einen anderen, der ihm nicht vollständig entsprach, hinzunehmen. Macht ist nicht Gewalt, Werk - ist nicht Arbeit und Freiheit - ist nicht Souveränität.
Das Wort gibt dem Gedanken eine konkrete Form. Der Akt der Namensgebung ermöglicht, die Welt in Besitz zu nehmen. Das Wort bestätigt die Menschlichkeit des Menschen und befähigt ihn, an der Realisierung von Macht im Umfeld seiner Mitmenschen zu partizipieren.
Hannah Arendt beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Wort und Sache, zwischen Bedeutung und Bedeutetem. Sprache ist das Repertorie menschlicher Erfahrung. In der Sprache findet sich die Vergangenheit. Sie enthüllt das Wesentliche, denn die Grundlage unseres Handelns in der Welt sind die uns bekannten Begriffe. Macht existiert nur in ihrer Gegenwärtigkeit, die sich nur dann ereignet, wenn es nicht zum Bruch zwischen Wort und Handlung gewaltfrei ist, wenn sich das Handeln im Wort verwirklicht. Macht ist eine Existenzbedingung des sprechenden und handelnden Menschen. Herrschaft ist stumm und unbeweglich.
Auf die Frage, warum eine Frau Stammeshäuptling geworden war, antwortet ein Indianer der Chiriguanos : "Ihr Vater hatte sie das Sprechen gelehrt." Daraus kann, metahermeneutisch, die Liebe der Indianer zum Wort abgeleitet werden,
Clastres hat gesagt: "Ein Wort kann gleichzeitig eine austauschte Botschaft und die Neagtion jedweder Botschaft sein. In diesem Kontext, ist das Wort, das sich nicht mitteilt, Zeichen und Bedeutung, welche die Funktion von Sprache verletzen und das Wort zum Selbstzweck machen, der dann als Wert definiert wird. Doch selbst dann bleibt Sprache der Ort des Sinnes: das Metasoziale ist niemals infra-individuell ... Bar jeder Botschaft bleibt der Sinn bestehen. In dieser absoluten Beständigkeit liegt der Wert des Wortes als Wert selbst." (Clastres)
Das Wort kann das Subjekt in das gesellschaftliche Kollektiv sowohl ein- als auch wieder ausschließen. Bei seiner Beschreibung desjenigen, der an den Rand des sozialen Handlungsschauplatzes gedrängt wird, stellt Goffman fest, daß der "Outsider" derjenige ist, dem die Einsicht in das Drehbuch (script) verweigert wird.
Übermaß und Äußerlichkeit im Ausdruck haben das Wort im modernen Westen sinnentleert. Clastres will beweisen, daß die indianische Kultur die innere Beziehung zur Sprache bewahrt hat, weil sie sich nicht darum bemüht hat, sich ihrer als Kommunikations- und Informationsinstrument zu bedienen.
"Für den primitiven Menschen gibt es keine poetische Sprache; seine Sprache ist selbst ein natürliches Gedicht ist, worin der Wert der Worte ruht.
Im Westen sind Wort und Macht untrennbar, eines verwirklicht das andere. Dem Stamm dient das Wort als Form, das Gegenteil von Gewalt zu gewährleisten, denn Macht wird Gewalt assoziiert. Während der Häuptling spricht, hält er die Gewalt fern. "...indem sie Schweigen bricht, realisiert Sprache das, was das Schweigen wollte und nicht bekam. Das Schweigen umhüllt weiterhin die Sprache; es ist die Stille der absoluten Sprache, der denkenden Sprache. Doch diese Entwicklung ... führt zu einer Theorie des wilden Geistes, dem Geist der Praxis ... Es geht darum, durch die sukzessive und gleichzeitige Gemeinschaft der sprechenden Subjekte zu erkennen, wer spricht und letztendlich denkt." (Merleau-Ponty in Visible et linvisible, S. 230)
Liefert Merleau-Ponty Castoriadis die Richtlinien für das Verstehen von Sprache auf politischen Ebene, so rekurriert Arendt auf den Pluralismus des kantschen Cogito, um die Intersubjetivität und die räumliche Dimension von Politik zu entwickeln. Bei Merleau-Ponty steht das Denken als Schlußpunkt der Attributkette von Sprache. Arendt geht einen Schritt weiter: jenseits des Denkens steht das Urteilen, jene essentiell politische Eigenschaft des Sprechenden.
Das Wollen versetzt uns in einen ständigen Konflikt, verweist uns auf die Zukunft und verursacht die Spannung von Wünschen und Begehren, die erfüllt werden müssen, um Platz zu schaffen für das Denken; das Wollen setzt die Wunschmechamismen des Menschen in Bewegung, im Widerspruch zu den sozialen Mechanismen, denen immanent ist, solche Wünsche abzudämpfen und zu beseitigen. Das Wollen fragt nicht nach Erlaubtem oder Verbotenem, das Wollen will. Dieser Kampf des Wollens ist individuell, er ist unpolitisch, denn er besetzt den Willen selbst und findet im Innern des Menschen statt.
Diese Ambivalenz des wollenden Ich führt zu einem unablässigen Konflikt, ist der Kampf des seienden Menschen gegen den vom Willen hervorgebrachten Willen. Die sinnliche Wahrnehmung des Individuums wird von seinem Willen, d.h. von seiner Wunschvorstellung geprägt. Handeln befreit das wünschende Wesen von der durch den Konflikt des wollenden Ich erzeugten Angst.
Im Wollen ist Handeln auch die Bedingung für Tranzendenz. Das Denken erfordert jedoch das kontemplative, vom weltlichen Handeln abgetrennte Leben, es ist die Sinnsuche, die Suche nach der Bedeutung der Dinge, und kann, im Gegensatz zum Wollen, nur in der Harmonie des stillen Dialogs des Ich mit sich selbst entstehen.
Arendt will das Denken dahingehend untersuchen, herauszufinden was die Menschen von der Banalität des Bösen entfernt. Denken handhabt die Wörter mit dem Ziel ihrer Verwirklichung.
Jenseits des Denkens finden wir das Urteilen als die politischste der geistigen Fähigkeiten. Sucht das Denken die Verallgemeinerung, so berücksichtigt das Urteilen die Besonderkeiten der Verallgemeinerung des Denkens. Die kantsche Urteilskraft sieht das besondere im Allgemeinen. "Urteilen" ist die demokratischste der geistigen Fähigkeiten, sie gehört in den Bereich von Kommunikation, Überzeugung und Überredung, Intersubjektivität und Suche nach Akzeptanz durch den Anderen.
Stimmen Schein und Wesenheit im Bereich menschlichen Lebens überein, so wird der Andere zum Maß aller Dinge; die Wahrnehmung des Wesentlichen bedingt sich durch die Wahrnehmung des Anderen. Dies Mehrfache kann nur im Rahmen von Öffentlichkeit verwirklicht werden ... es ist der Andere in der Gegenüberstellung mit mir.
Castoriadis wurde durch die Schule Merleau-Pontys geprägt, durch den aus der Sprache hergeleiteten Bruch mit der klassischen Dichotomie "Subjekt/Objekt", der eine neue sich von Husserl abwendende Dimension von Phänomenologie geschaffen hat.
Von Husserl zu Merleau Ponty verändert sich die Bedeutung von Sprache als Ausdruck. Sie ist nicht mehr, wie Husserl sagt, "durchscheinende Wechselbeziehung der Noemata mit dem Ziel der reinen Noesis, sondern Stütze des Denkens. Die Authentizität des Wortes liegt in seiner Identität mit dem Gedanken. Das Denken geschieht nur durch Sprache.
In seinem Bezug auf Merleau-Ponty hebt Castoriadis hervor, daß niemand des absoluten Schweigens mächtig ist und es ebenso unmöglich ist, zu reden und absolut nichts zu sagen. Diese zu nichts führende Aufgaben stellen sich Idealisten und Strukturalisten. Beide Wahrnehmungen besitzen eine ausschließende Beziehung zwischen Zeichen und Sinn, sie versuchen das Unmögliche: die Welt nur mit dem Mitteln des Ich zu rekonstruieren, d.h. die reine Semiosis. Verstehen von Sprache muß den lebendigen Menschen berücksichtigen - "der sich nicht daran hindern kann zu sein, selbst wenn er nichts tut. Auch seine Unbeweglichkeit ist nur ein Modus , der dazu führt, daß er nur sein kann, wenn er aus sich heraustritt, die Welt in sich vereinnahmt." Intention und Geste gehören zusammen. Ausdruck betrifft die Dinge der Welt, Bedeutungen auszusprechen setzt ihre Organisation voraus. Ausgangspunkt für die Sprache ist die Organisation der Welt. Castoriadis weiss, daß die Philosophie nichts entdeckt, sondern sich mit der Enthüllung der immer dagewesenen Dinge beschäftigt. Die Sprache erneuert sich ständig und benennt die Welt selbst ist; sie bietet die Möglichkeit des Unbegrenzten, damit sich Sprache unendlich artikuliere.
Die durch Sprache existierende Welt ist immer geschichtlich, Sprache ist allgemeiner Ausdruck der Wechselbeziehung des Manschen in de Gesellschaft und seiner Geschichte. Anders gesagt: Da es keine reine Wahrnehmung gibt und diese kulturell definiert wird, um die wahrgenommene Welt zu entwerfen - oder wie Merleau-Ponty sagt: "... unsere Wahrnehmung ... projiziert in der Welt die Unterschrift einer Zivilization, der Ausdruck eines menschlichen Werks" (PM, S. 97) -, ist Sprache nicht nur Ausdruck von Kultur, sondern ihre Schöpferin. Kultur verlangt Sinn, Bedeutung, eine organisierte Welt. Die in allem existiert und wirkt in und durch Sprache, die Schöpferin par excellence der Gesellschaft, deren Fundament sie ist. Über die Welt ist immer etwas zu sagen und Sprache macht dies möglich. Sprache hat eine unmittelbare Beziehung zum Neuen, sie führt alle sich manifestierenden Veränderungen in die Welt ein, sie verwandelt Nichtgewohntes in Gewohntes. Sie verschiebt Sinngebungen bereichübergreifend und macht sie zu Aussagen. Die Revolution entspringt der Astronomie, ist ihren Weg durch die Geschichte gegangen und hat heute ihren angestammten Platz in der Politik. Sprache ist ein Schöpfungsakt. Sowohl das Wort als auch die Geschichte sind permanent instituierend, daher die Vielfältigkeit der durch jede Sprache und Kultur entwickelten Ursprünge. Wie schon Castoriadis behauptet, ist die Schöpfung anonym, alltäglich und bewirkt, so daß alle an der Ausübung von lebendiger Sprache teilhaben. Indem sie Sprache erschafft und wiedererschafft, vollzieht die sprechende Gemeinschaft den Schöpfung- und Neuschöpfungsakt an sich selbst, in dem Maß, wie sie offen ist, das Neue zu empfangen.
Hier tritt sich Castoriadis mit Arendt: indem er Sprache entwickelt und das Urwort schafft, bricht der wilde (ursprüngliche) Geist, der Geist der Praxis, das Schweigen und realisierte, was das Schweigen wollte und nicht bekam.
Es ist die Sprache, die uns zum Handeln führt und uns aus der Gefangenschaft des Wollens befreit. Sind wir in unserer Ganzheit wünschende Wesen, so ist die einzige Art, die Sklaverei des Wünschens und Begehrens zu überwinden, sie mit Worten auszudrücken.
Die doppelte Macht des Sprechens und des sich selbst ausdrückenden Schweigens macht erst den Menschen zum Subjekt. Anders gesagt: "Es vermittelt den Logos Endiathetos von all dem, was im Logos Proforikos enthalten ist."
Es ist seine Beschaffenheit als redendes Subjekt, von dem geredet werden und das mit sich selbst reden kann, die es zur Offenheit befähigt. "Offen im Sinne von Loch ist Sartre, ist Bergson, sind der Negativismus oder der Ultrapositivismus, die zusammenschmelzen. Es gibt kein nichtiges Nichts." (Merleau-Ponty, Visible ... S. 249). Das Subjekt ist die Offenheit als Möglichkeit. Als Neuanfang, als Ausführung der Praxis.
Der Weg der Emanzipation
Obwohl der Widerspruch nicht mehr auf der Ebene der Konfrontation zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen liegt, so weckt doch das Wirtschaftssystem Bedürfnisse, die es nicht erfüllen kann. Die Folge ist das, was Habermas die "Motivationskrise" nennt. Die Erfolgsideologie ist eine Entwertung der Arbeitsethik. Die Motivationskrise spiegelt sich in der Kunst wieder, der eine die bürgerlichen Strukturen und Werte angreifende Kraft innewohnt. Die Kunst ist subversive, enthüllt das Reale und zerstört es. Habermas sieht dies. Die Frage ist aber, was tun, um die Krise zu überwinden. Marcuse wollte die totale Negation des eindimensionalen System, Habermas beharrt auf Reformen innerhalb diese Systems.
Für Habermas liegt das Problem der Zivilization im seit der Aufklärung tradierten Vernunftsbegriff.
"Die Beherrschung der Natur ist gekoppelt an die verinnerlichte Gewalt das Menschen über den Menschen, an die Gewalt des Subjekts über seine eigene Natur."
Dieser Unterwerfungsprozeß der Natur hat die Vernunft auf eine Dimension reduziert. Alles, was die magisch-animistische Welt betraf, wurde verworfen als Teil des mythischen Denkens und daher als Feind der Rationalität.
Die Aufklärung entspringt dem Bruch mit der Natur . Sie machte aus Natur und Vernunft Gegensätze, richtete sich gegen jedwedes auf vorangegangene Zeiten bezogen Denken.
Adorno hat dargelegt, daß der Mensch seine eigene Natur pervertiert hat, als er sich von der Natur entfernte. Im Verzicht auf sein Selbst wollte er die Welt erobern.
In seinem reformistischen Modell lehnt Habermas die Identitätsphilosophie ab; seines Erachtens setzt der epistemologische Identitätbegriff ein absolutes Wissen voraus, das Ziel der Geschichte ist. Dies wiederum kann er nicht akzeptieren, da kommunikatives Handel immer Provisorisches erzeugt - Wissen, Konsens oder Wahrheit. Identität verlangt ein im Ursprung bereits gegenwärtiges Endziel, was uns zurückwirft auf die alte Diskussion, daß der Existentia die Essentia vorhergeht und somit Geschichte die Möglichkeit des wirklich Neuen ausschließt. Das ist für Habermas inakzepttabel. Wenn Geschichte ein Prozeß ist, so kann es keinen Endpunkt geben und erst recht nicht die Bestimmung des in allen Bereichen von Wirklichkeit bekannten Endes; das Neue ist der Weg, der zur Emanzipation beschritten wird, also zur Verwirklichung des Modell der reinen Kommunikation.
Der Traum von Identität beinhaltet die Versöhnung des Menschen mit der Natur. Laut Habermas, besitzt keine der zukünftigen Gesellschaftsform diese Möglichkeit. Er beharrt auf der Notwendigkeit, kommunikatives Handeln von technischem Handeln - das die Beherrschung der Natur voraussetzt - zu differenzieren. Es gibt jedoch die Möglichkeit, Wissenschaft und Technik neu auszurichten, indem das Endziel von Profit und Herrschaft abgekoppelt wird. Eine Technik, deren Absicht es wäre, den Menschen von der Arbeit zu befreien, würde mit Sicherheit ein anderes Konzept des Verhältnisses zur Natur in sich bergen. Hier greift Arendts Marxdiskussion über "work" und "labor".
Die in der Struktur der sprachlichen Intersubjetivität bewahrte Nicht-Identität ist für Habermas die Grundlage seines radikalen Reformismus; sie schafft Gelegenheit für politische Intervention. Im Gegensatz zu Adorno, betrachtet Habermas die Gegenwart als Möglichkeit für das Neue. Diejenigen, welche die Kommunikation ausführen, sind selbst einzigartige Individualitäten.
Habermas sieht den Ausweg in der Modernität, obwohl diese die Legitimation korrumpiert und sie durch die technische Regel ersetzt hat. Doch hat sich dieses technokratische Bewußtsein noch nicht durchgesetzt. Es gibt Legitimations- , die Rationalitäts- und die Motivationskrisen. Diese zerstören die von der Vernunft der Aufklärung aufgebaute Ordnung, brechen die Eindimensionalität eines Pseudokonsenses auf und begünstigen die Verwirklichung des aus der reinen Kommunikation hergeleiteten Konsens.
Deshalb erliegt Habermas nicht dem Nihilismus von Adorno, für den die Modernität bereits alles verdinglicht und das Bewußtsein völlig pervertiert hat. Habermas glaubt an die Ideologiekritik, auf der Grundlage eines therapeutischen Diskurs, mit der Partei in der Rolle des Therapeuten. Dieser Dialog würde die Öffnung für einen praktischen Diskurs bewirken.
Es bleibt die Übereinstimmung bei Habermas und Adorno bezüglich des Bruches mit dem hegelschen Identitätsbegriff, der auf der idealistischen Voraussetzung der Einheit zwischen Subjekt und Objekt basiert. Dieser Wunsch nach Einheit führt in der Politik zum Totalitarismus; die Suche nach dem Gleichen impliziert die Ablehnung des Anderen, in der Toleranz und Rassismus wurzeln.
Durch die Nicht-Identität wird das Bewußtsein des Gegenteils bewahrt, sie ist die Möglichkeit der negativen Dialektik, verhindert die Verschmelzung von Begriff und Wirklichkeit, sie markiert den Unterschied und die Unabänderlichkeit der Antagonismen. Arendt hat den Begriff der Nicht-Identität in ihre Analyse der Phänomene aufgenommen. Nur auf diese Weise ist es ihr gelungen, den Begriff der reinen Macht zu konzipieren, unter Ausschluß der herrschaftsbezogenen Manifestationen von Führung und Gehorsam.
Der Entwurf von reinen Modellen hat Arendt die Klassifizierung als "nostalgische Hellenistin" oder "utopische Hellenistin" eingebracht.
Welchen Sinn hat Utopie bei Habermas und in der Tradition, aus der er kommt? Habermas widerspricht der marxistischen Dialektik, weil sie das Endziel der Geschichte bestimmt und Wirklichkeit vorwegnimmt, ohne Berücksichtigung das durch menschliches Handeln hervorgebrachten Neuen. Er muß die Vorstellung ablehnen, daß der ökonomische Überbau den sozialen, politischen und kulturellen Überbau bestimmt. Kommunikatives Handeln ist nichtteleologisches und nicht modellhaftes Handeln. Nur dieses Handeln realisiert Geschichte. Laut Habermas ist jeder Konsens sub-judice und kann jederzeit widerlegt werden. Daher die Notwendigkeit, die Öffentlichkeit von Kommunikation aufrecht zu erhalten, um den Konsens zu legitimieren. Die Legitimität ist Bestandteil der Kommunikationsstruktur und der Intersubjektivität und nicht des Menschen, daher führt jede Ontologie zur Verdinglichung.
Habermas Utopie ist das Telos der perfekten gewaltfreien Kommunikation, ist der auf die Praxis verweisende sprachliche Akt.
Habermas Utopie hat Bezüge zu denen von Bloch und Marcuse, weil sie den Geliebten Augenblick voraussetzt. Der Kampf, sei er revolutionär oder reformistisch, gewonnene Besitz des Augenblicks bedeutet die Offenbarung der Gesamtheit der Widersprüche in einer dem Moment der Revolution entsprechenden Transparenz. Anders gesagt: er bedeutet, das Bewußtsein zu erlangen, Handelnder in der Geschichte zu sein. Vielleicht besteht Habermas größte Utopie darin, diesen spezifischen Inhalt auf den Gesamtkomplex von Veränderungen übertragen zu wollen. Im sprachlichen Akt sieht Habermas ein Zusammentreffen von Traum und Wirklichkeit, das mögliche Telos.
Blochs Traum ist der Weg der nach Hause führt, denn auf irgendeine Weise ist es dem surrealistischen Film gelungen zu vermitteln, daß wir uns alle ständig auf dem Nachhauseweg befinden. Blochs traum ist dir Wunsch, die durch die conditio humanae gesetzten Grenzen zu überschreiten, der Wunsch, die nach Perfektion, Unsterblichkeit, die faustische Utopie des absoluten Wissens. Dies überschreitet das Interesse der sozialen Klasse und findet in allen Kulturen seinen Ausdruck im utopischen Überschuß, wie Bloch es genannt hat. Es kommt der Enthüllung des Imaginären, wie Castoriadis es versteht, gleich oder, anders gesagt: Die Postulate des Menschen, die sich nicht im Rationalen erschöpfen, sind schöpferisch und gesellschaftlich, weil das Kollektiv an ihnen teilhat. Als "Magma" bezeichnet Castoriadis die Gesamtheit der die Gesellschaft bewegenden imaginären Bedeutungen, das, was nicht diesseits sondern jenseits der Vernunft liegt. Es ist das wesentliche Element einer Gesellschaft, die sich nicht auf Begriffe reduziert, es ist die auf dem Hintergrund ihrer Mythen, Träume, Glauben instituierende Gesellschaft.
"Zauberflöte und King Lear, Jazz; Kunst und Kitsch: Roman und Epos; Architektur und Bauhaus; klassischer und expressionistischer Tanz; Wald und Garten; Theater, Film, Fotografie, Performance, Schaufenster ... Ulysses, Faust, Don Quichote, Don Juan repräsentieren die Befreiung des utopischen Augenblick, Befreiung von der Suche nach Unsterblickeit/Perfektion, Befreiung dessen, was durch die herrschende, an Klasseninteressen gebundene Kultur unterdrückt ist." (Freitag, Barbara, 1980)
Für Adorno ist Kultur das direkte Ergebnis von Arbeitsteilung. Doch die "hohe", ernste Kultur betrifft eine Klasse, die Massenkultur eine andere. Darüber hinaus gibt es jenen verbogenen Aspekt von Kultur, der das Leiden, das Unrecht und die Hoffnung der Besiegten widerspiegelt.
Bloch stellt fest, daß die Herrschaftslogik den Gebrauch von Vergangenheit als Instrument zur Unterdrückung der die Möglichkeit des Neuen in sich tragenden Zukunft voraussetzt. Nicht so Adorno: er sieht die Gegenwart als Auslöschung der Vergangenheit und als Verdinglichung durch das Vergessen. Ideologie wird zunehmend durch die eindimensionale Ordnung absorbiert, bis sie zusammenschmilzt mit der Wirklichkeit. Adorno zufolge bedroht die durch die Aufklärung tradierte Fixierung auf die Gegenwart die Bildung des Gedächtnisses des bereits Erfahrenen und Geträumten. In diesem Sinne erstickt die Gegenwart die Zukunft und führt zur Barbarei. Die Massenkunst, die Adorno veruteilt, gehört zum Kontext der Massenkultur. Sie ist permanente Reproduktion von Strukturen und schafft keine Bedingungen für ein Hervorbrechen des wirklich Neuen aus jenen Stereotypen, welche die Mittelmäßigkeit des Menschen verursachen.
Aber während des unablässigen Versuches, das Imaginäre zu verstümmeln und die Vorherrschaft der technischen Vernunft zu festigen, in einem Prozeß, der bezeichnend ist für die Entzauberung der Welt, hat die Modernität mit ihren Schöpfungen das Imaginäre neu belebt, die Möglichkeit der Poesie im Konkreten entdeckt. Innerhalb der Verdinglichung bleibt die Lücke offen, die ein neues Da-Sein hervorbringt, eine neue Sensibilität als Ergebnis der Unvereinbarkeit des Menschen mit der reinen Rationalität.
Die Geschichte kennt keine mythenlose Gesellschaft. Ist für die Aufklärung die Wissenschaft die einzige Wahrheitsform, so wird die instrumentalisierte Vernunft, derer sich die Wissenschaft bedient, selbst zum Mythos. Zweckhandeln entspringt dem Zusammenstoß zwischen Vernunft und Mythos.
Für Adorno der Mythos ist die Aufklärung selbst, und die Aufklärung kehrt zurück zur Mythologie. Die Verkündigung der Aufklärung, sie sei fähig, menschliches Streben zu verwirklichen, reiht sie ein in die Kategorie der Megalomanie des Mythos, wobei sie das Ziel der Befreiung von Bedürfnissen erreichen könnte, intervenierte da nicht die Logik des Kapitals.
Literaturverzeichnis
Email an Loreley G. Garcia
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777