Werner Brück: Nietzsche - Wittgenstein - Bachmann. Was Kunst kann.
1. Historisches aus den frühen 1870er Jahren
Die Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", erstmals erschienen 1872, gilt als Erstlingswerk Nietzsches.(1) Jedenfalls bezeichnet Nietzsche sie als "Erstlingswerk, trotz seiner vorangegangenen Veröffentlichungen zu einzelenen philologischen Fragestellungen. Sie steht im Zusammenhang mit den Vorlesungen Nietzsches in Basel, die das griechische Musikdrama zum Thema hatten, sowie im Zusammenhang mit den Schriften Nietzsches über "Die dionysische Weltanschauung",(2) "Die Geburt des tragischen Gedankens",(3) "Sokrates und die griechische Tragödie"(4) sowie "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen".(5)
Der letztgenannte Aufsatz soll einer Betrachtung unterzogen werden, ohne jedoch auf eine Berücksichtigung grundlegender Gedanken in der "Geburt der Tragödie" verzichten zu wollen, weil ein solcher Verzicht die Gedanken Nietzsches unzulässig fragmentierte.
"Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" entstand in den Jahren 1872/73. In der Woche vor Ostern 1873 las Nietzsche seinen Freunden Richard und Cosima Wagner und Erwin Rohde in Bayreuth aus dem später dann doch nicht veröffentlichten Manuskript der Abhandlung vor(6) - zu dieser Zeit war eine Kontroverse über Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" in vollem Gang. Vier Tage nach einer Anzeige Erwin Rohdes am 26. 5.1872, anläßlich des Erscheinens der "Geburt der Tragödie",(7) veröffentlichte der Philologe Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff ein Pamphlet gegen Nietzsches Werk unter dem Titel "Zukunftsphilologie".(8) In diesem Pamphlet steuerte V. Wilamowitz-Möllendorff scharf gegen Nietzsches Werk, wobei er sich hauptsächlich auf eine Kritik der vermeintlich philologischen Methode Nietzsches in der "Geburt der Tragödie" stützt. Zwar wurde im Oktober 1872 eine Replik Erwin Rohdes auf V. Wilamowitz-Möllendorff publiziert;(9) Nietzsches Ruf als Philologe scheint jedoch ruiniert, als im Wintersemester 1872/73 nur zwei Studenten sein Kolleg besuchen, davon der eine Jurist, der andere Germanist.(10)
Indem v. Wilamowitz-Möllendorff über Nietzsche schrieb: "... halte hr. N. wort, ergreife er den thyrsos, ziehe er von Indien nach Griechenland, aber steige er herab vom katheder, auf welchem er wissenschaft lehren soll; sammle er tiger und panther zu seinen knieen, aber nicht Deutschlands philologische jugend",(11) brachte er polemisch und parodiert zum Ausdruck, was Nietzsche seit der "Geburt der Tragödie" beschäftigte, nämlich die Loslösung seines Denkens aus den engen Vorgaben der historizistischen Philologie, dem Fach, in dem er sich gerade als junger Professor in Basel eingerichtet hatte.
So schreibt Nietzsche im Sommer 1875: "Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als schmählich für den gelten, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dieses Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr."(12) In "Ecce Homo" wird er dann die philologische Beschäftigung in Basel überhaupt bedauern.
2. Das Apollinische und das Dionysische
Niezsche war in Basel als Professor für Philologie angestellt. Durch seine Tätigkeit als Philologe wurde er mit der Kultur der Antike im allgemeinen und der Kultur des antiken Griechenlands im besonderen konfrontiert. Nach einiger Zeit der Beschäftigung mit dem Griechentum kam er zum Schluß, daß das Griechenbild des Historizismus seiner vornehmlich wissenschaftlichen Zeitgenossen auf einem durch die Jahrhunderte hinweg falsch verstandenen Bild der "griechischen Heiterkeit" beruhe. Dieses Bild drückt aus: den vollen Einklang von Mensch und Natur, Daseinsbejahung i.d.S., daß der Tod als schmerzlich empfunden wird, damit verbunden die bewußte Willensbejahung, die zu einer hedonistischen Lebensführung hinleitet.
So schreibt Nietzsche, daß der moderne Mensch "nach jener Zeit, in der er den vollen Einklang zwischen Mensch und Natur zu hören glaubt", verlange, weshalb "das Hellenische das Lösungswort für alle" sei, "die für ihre bewußte Willensbejahung sich nach glänzenden Vorbildern umzusehen haben".(13) Dem sei jedoch ein modifiziertes Bild der griechischen Antike zu gegenüberzustellen, das dem sechsten Jahrhundert v. Chr., mit dem Erscheinen Heraklits und Pythagoras, sowie dem Aufkommen der griechischen Tragödie, den Mysterienkulten und den antiken Kunstwerken Rechnung trage, "die doch - jedes für sich - aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen."(14)
Weg also vom vergeblich zu suchenden Weg in ein nie existentes Arkadien, weg vom "Schmeichelbild eines zärtlich flötenden weichgearteten Hirten",(15) weg vom hedonistischen Selbstwert des Bacchanals, hin zum "Grausen", "welches den Menschen befällt, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde ... eine Ausnahme zu erleiden scheint", verbunden mit der wonnevollen Verzückung, "die bei dem ... Zerbrechen des principii individuationis aus dem inneren Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt ...";(16) hin zu einer differenzierteren Darstellung philosophischen Potentials der Hochzeit der griechischen Antike, wie sie sich Nietzsche darstellt.
Dieses Programm verdient zu seiner Erläuterung ein etwas weiteres Ausgreifen. Die dem Griechenbild Nietzsches in der "Geburt der Tragödie" zugrundeliegende Auffassung griechischen Denkens fußt auf der subsumierenden Gegenüberstellung des ungeteilten Einsseins des Seienden und der durch das principio indivduationis gegliederten Vielheit. Diesen Gegensatz bezeichnet Nietzsche als das "Wahrhaft-Seiende", das "Ur-Eine", das "Widerspruchvolle", das "ewig Leidende".(17)
Dieses Wahrhaft-Seiende, das Prinzip des Widerspruchsvollen, schafft uns das als seiend Scheinende, die empirische Wirklichkeit, die dem Menschen freilich nur bedingt erkenn- und durchschaubar sei. Ausgehend von Schopenhauers pessimistischer Philosophie des Willens, die Nietzsche jedoch ins Wertneutrale adaptiert, ist die Voraussetzung des Sich-Äußern des Wahrhaft-Seinden in der Empirie der Wille zur Selbstäußerung. Das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine braucht wegen seines Triebes zur Selbstäußerung den Schein - denn ein solcher ist die individuierte Erfahrungswirklichkeit angesichts des unverständlichen und unindividuierten Widerspruchsprinzips im Wahrhaft-Seienden. Das Wahrhaft-Seiende braucht also den Schein zu "seiner steten Erlösung".(18) Später spricht Nietzsche vom "Willen zur Macht", der primär eigentlich ein Wille zu sich selbst ist, und damit zu seiner eigenen Manifestation.
Jener Schein, die individuierte Empirie, gilt für Nietzsche als "Kunstwelt". Damit bekommt das menschliche Dasein eine besondere Würde, nämlich dadurch, "dass wir [der Mensch und seine Erfahrungswirklichkeit; d.V.] für den wahren Schöpfer schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben - denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt."(19) Unser gesamtes Wissen ist damit jedoch auch "ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende nicht mit jenem Wesen [dem willenhaften, zur Selbstäußerung strebenden Ur-Einen des Widerspruchsvollen; d.V.] nicht eins und identisch sind."(20) Zur Erläuterung dieses Gedankens sei hier kurz auf den Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn" verwiesen.(21)
In der "Geburt der Tragödie" versucht Nietzsche, den Gegensatz aus undurchschaubarer Einheit und ästhetisch gegliederter Vielheit anhand des Begriffspaares des "Dionysischen" und des "Apollinischen" zu beschreiben. Beide Begriffe beziehen sich auf jeweils einen Trieb, der entweder, wie im Dionysischen, die Auflösung der individuierten Erscheinungswelt zur Vereinigung in der Einheit anstrebt. - Oder aber das Gegenteil: die apollinische Individuation als Loslösung des Individuellen aus der Einheit zur Vielheit sei hier als Leitgedanke zu nennen. Das Apollinische äußert sich im Maß. Apollon vertritt "als Gott der bildnerischen Kräfte"(22) die "maassvolle Begrenzung",(23) die z.B. im griechischen Tempelbau, in der Plastik oder auch in der Lyrik erreicht wird, was deren metrischen Charakter anbelangt.
Erkennt der Mensch ein Aussetzen des Satzes vom Grunde, das Nichtrationale, so offenbare sich ihm Dionysos; dieses Dionysische breche vor allem im Rausch durch, weshalb der Rausch Nietzsche als Analogie zum Dionysischen dienen soll,(24) oder: wenn "das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet."(25)
Im Rausch verspürt der Mensch die Nähe des Dionysischen, die sich ihm durch die Empfindung der Eindämmung der Individuation und der Erfahrung des Grundlosen und Nichtrationalen zeigt. Dadurch kann er auf das Wahrhaft-Seiende, das Unverstehbare, blicken. Denn die apollinische Individuation äußert sich nicht nur im Schein einer empirischen und individuierten Wirklichkeit, sondern auch im Traum, dessen "freudige Nothwendigkeit ... von den Griechen in ... Apollon ausgedrückt worden" sei.(26) So sieht Nietzsche den Traum als den "Schein des Scheines" an: "Fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jenem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muß uns jetzt der Traum als der Schein des Scheines, somit als eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde [des Ur-Einen; d. V.] nach dem Schein hin gelten."(27)
Das Apollinische und das Dionysische wirken auf den Menschen ein: er ahmt den apollinischen Zug der Natur nach, indem er sich selbst eine "Schein-"Welt aufbaut, in der sein Dasein angesichts der empfundenen Sinnlosig- und Widersprüchlichkeit des Ur-Einen einen Sinn bekommt und erträglich wird. Die sog. "griechische Heiterkeit", die noch im Historizismus des 19. Jhd. das Griechenbild prägt, ist also aus dem Bedürfnis nach der Verdrängung der Sinnfrage auf das Dasein hin entstanden.
Interessant ist die mythologische Ausdeutung dieses Gedankens. So wie sich die antike Personifikation des Dionysischen im Gott Dionysos eigentlich auf einen wesentlichen und vor allem apersonalen Zug des Naturgeschehens bezieht, so liegt es nahe, mit der Herausbildung einer "apollinischen Cultur"(28) auch die Individuation der Erfahrungswirklichkeit in eine Göttergesellschaft zu verbinden, um die Numina in anthropomorphisierter Form handhabbar zu machen. Nietzsches Gedankengang weist hier eine einsichtige Stringenz auf, die ein soziomorphes Erklärungsmodell für den Mythos vorwegnimmt, wie es z.B. Ernst Topitsch im 20. Jahrhundert formulierte.(29)
Die antike Göttergesellschaft wurde von den Griechen erfunden, um dadurch, daß die Götter das Leben der Menschen leben, das Menschenleben zu rechtfertigen. "Der Grieche kannte ... die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen."(30) "Wie anders" hätte der Grieche "das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre ..." - und: "so rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben."(31)
3. Der Tragödiengedanke
Nun verbleibt die Beschreibung des Gegensatzes zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen vorerst in einer lediglich historisch Sphäre. Nietzsche ist es jedoch angelegen, eine Revitalisierung der Sicht auf das Dionysische und damit auf einen integralen Bestandteil des Wahrhaft-Seienden zu initieren, vermutlich also Metaphysik und Epistemologie im Rahmen einer Sicht auf die Moderne zu betreiben.(32)
In der "Geburt der Tragödie" wählt er dazu einen Ansatz, der von der Entstehung der griechischen Tragödie ausgeht; als Exponenten nennt Nietzsche die Dramatiker Aischylos und Sophokles: "In Aischylos erkennen wir das Bündnis des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit den Titanen [Prometheus; d.V.]"(33) - und: "Umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes ins Innere und Schreckliche der Natur ..."(34)
Dieser Ansatz macht es sich zunutze, daß es in der Form der vorsokratischen Tragödie ein Element gibt, dessen Funktion es ist, die Kunstform der Tragödie vom Publikum abzutrennen: der tragische Chor. Jener wird von Nietzsche im Eingehen auf Schillers Vorrede zur "Braut von Messina" beschrieben als ein Element, das "die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren."(35)
Im Satyrenchor also, in einer Sphäre "von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie" sie "der Olymp sammt seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass",(36) liegt "die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische Trost, - mit welchem ... uns jede wahre Tragödie entlässt - dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben."(37)
Die Handlungsunmittelbarkeit des Dramas und die damit verbundene Möglichkeit der Internalisierung des Handelns des andern kann durch ein rhapsodisches Erzählen nicht ersetzt werden, denn Nietzsche gilt die dramatische Funktion des Tragödienchors als ein Mittel, "sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre",(38) während die Narration das Handlungssubjekt reflexiv objektiviere und an seine Stelle eben nicht mehr den Zuschauer setze.(39)
So gilt dann Euripides als derjenige, der der eigentlichen griechischen Tragödie den Todesstoß versetzt hat, indem er es seiner dionysischen Dimension beraubte, wobei lediglich das dramatisierte Epos übriggeblieben sei.(40)
Dabei übernimmt der Verstand spannungsschaffende Maßnahmen, indem "kühle paradoxe Gedanken - an Stelle der apollinischen Anschauungen [der Lust am Schein selbst; d.V.] - und feurige Affecte - an Stelle der dionysischen Entzückungen - und zwar höchst realistisch nachgemachte" treten.(41) Nietzsche bezeichnet dieses Vorgehen als "ästhetischen Sokratismus"(42) - "alles muss verständig sein, um schön zu sein; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der Wissende ist tugendhaft."(43)
4. Wissenschaft nach Sokrates
Mit Nennung Sokrates' gibt Nietzsche das Stichwort für eine Kritik der als sokratisch gekennzeichneten Wissenschaft und ihrem platonischen Ideal der Wahrheit. Sokrates ist "das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift."(44) Dabei spielt das Denken eine Rolle; dieses ist an fundamentale logische Grundsätze gebunden, die jedoch nicht mehr weiter hinterfragt werden können. Das heißt aber, daß jenseits der Grenzen der Logik sinnvolle Aussagen nicht mehr getroffen werden können. Nietzsche formuliert dies so: es trifft "der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er ins Unaufhellbare starrt(45)"- noch bevor die Wissenschaft alle die ihr möglichen Erkenntnisse gefunden hat.
Ludwig Wittgenstein drückt dies 49 Jahre später in dieser Form aus: "4.12 / Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können - die logische Form [also den Nachweis liefern, daß die logische Form des Satzes der Wirklichkeit adäquat sei; d.V.]. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt."(46)
Das Problem der logischen Fundierung und der Leistungsfähigkeit wissenschaftlicher Aussagen steht bei Nietzsche also auch im Mittelpunkt seiner methodischen Ansätze, die zeitgenössische Wissenschaft ins Visier zu nehmen. Das Resultat des Erkennens der eigenen Begrenztheit ist die "tragische Erkenntnis", in Anlehnung an den Tragödiengedanken also der Blick auf das Außerlogische, die Ausnahme des Satzes vom Grunde, welche tragische Erkenntnis, "um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst", also das kontrollierte Zusammenwirken der apollinischen und dionysischen Konzeptionen der Kunst brauche.(47) Zur Stellung einer neuen Metaphysik als Heilung vgl. man am Ende dieses Aufsatzes die Ausführungen über Ingeborg Bachmann.
Diese Textstelle scheint m.E. zentral für eine Kritik der historischen und systematischen Wissenschaften im Zeitalter des beginnenden Positivismus zu sein. Es leuchtet ein, daß Nietzsche mit diesem Angriff auch auf seine Fachkollegen auf harsche Kritik stößt, da er sie in Frage stellt. So streicht z.B. der Heidelberger Philologe Glenn W. Most in seinem Internetbericht "Friedrich Nietzsche zwischen Philosophie und Philologie" heraus, daß es gegen Mitte des 19. Jahrhunderts schon Zweifel an der Anwendbarkeit philologischer Forschung auf den Menschen der Gegenwart gegeben hat, ungeachtet der Tatsache, daß die philologische Forschung sich innerhalb der europäischen Gesellschaft im allgemeinen und innerhalb der deutschen im besonderen großen Interesses erfreute.(48)
Überhaupt wird an Nietzsche, der in den 1870er Jahren viel über das bisherige Wissenschaftsverständnis, die Institutionen, aus denen der wissenschaftliche Nachwuchs hervorging, und den wissenschaftlichen Historismus geschrieben hat,(49) deutlich, daß sich in der Figur des Philosophen Nietzsche ein unkonventionelles Bild des nach Erkenntnis Strebenden offenbart. So präferiert Nietzsche an den vornehmlich antiken Vertretern seiner Zunft, gleich eingangs ausgedrückt in "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", einen Aspekt, den die Vorsokrater an sich haben, "der ganz unwiderleglich ist, eine persönliche Stimmung, Farbe, man kann sie [die Systeme der Philosophen; d.V.] benutzen, um das Bild des Philosophen zu gewinnen: wie man vom Gewächs an einem Orte auf den Boden schließen kann. Die Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich: das "System" ist das Gewächs dieses Bodens, oder wenigstens ein Theil dieses Systems, --"(50)
Nietzsche interessiert also nicht der absolute Wahrheitswert eines philosophischen Systems, der sich so oder so durch logischen Sophismus hinterfragen und in Frage stellen läßt, sondern die Perspektive, aus der heraus der Philosoph seine Welt sieht und aus der heraus er Stellung zur Welt bezieht. Es findet sich darin die Auffassung, daß menschliches Wirklichkeitsverständnis und die Zugänge zur Wirklichkeit von einer bestimmten, unverwechselbaren reflexiven Perspektive konstituiert werden, die im historischen Maßstab eben historische Wahrheit konstitutiert und dehalb nicht unterschätzt werden darf.
Indem er diese Voraussetzung trifft, kann Nietzsche jedoch keine Metaphysik mehr im Sinne einer Postulierung des Wahrhaft-Seienden und Ur-Einen im Verhältnis des Dionysischen zum Apollinischen mehr betreiben. Lediglich die Feststellung, daß die wahrhafte Welt von einer unergründbaren Wahrheit getragen sei, die eine solche Komplexität aufweist, daß selbst der Satz vom Grund versagt, ist ihm möglich, ihm, der einen Blick über die Logik hinaus wagen möchte. Daß eine solche Wahrheit nur zu schauen sei, indem man die Logik fallenläßt, wird nun verständlich. Nietzsche reduziert die Propositionen seiner Erkenntnisfindung also auf den kleinsten Nenner, nämlich den, daß es für den nach Erkenntnis strebenden Menschen keine unmittelbaren Gewißheiten gibt. Dazu gehört auch, daß es einen Antrieb gibt, der aus dem Bereich des objektiv Unergründlichen heraus das Individuerte und damit Ergründliche sublimiert.
Nietzsches spätere Auffassung vom "Willen zur Macht" sei hier nur kurz angedeutet; trotz des nietzscheschen Betreibens von Metaphysik gelangt letztere hier an ein Ende, indem das Letztmögliche nurmehr eine subjektivierte, intuitive Schau darstellt.
Es ließe sich hier berechtigterweise die Tragkraft dieses schon in der "Kritik der reinen Vernunft" von Kant angelegten Gedankens des Versagen der menschlichen Erkenntniskategorien angesichts einer die Erfahrungswirklichkeit transzendierenden metaphysischen Wirklichkeit untersuchen: Ludwig Wittgenstein nimmt diesen Gedanken, um die mangelnde logisch-positivistische Erkenntnisleistung zumindest teilweise einer Kritik zu unterziehen. Ihm zufolge - im "Tractatus logico-philosophicus" - ist es dem Menschen nicht möglich, innerhalb logischer Kategorien die Erfahrungswirklichkeit zu transzendieren. Logische Aussagen, die ihren Inhalt ableiten und sich dabei auf sich selbst beziehen sollen, sind für Wittgenstein schlichtweg unmöglich.
Aus der erkannten Unmöglichkeit, sich mit seinen Sätzen außerhalb der Welt aufzustellen und damit nachzuweisen, daß die Sätze wahr sind, entwickelt Wittgenstein dann mit Hilfe einer Metapher die Forderung: "6.54 / Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. ( Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig."(51) Wittgenstein kann hier nicht mehr an das logische Verstehen appellieren, er muß annehmen, daß der Leser des Buches ihn intuitiv versteht. Aufgrund dieser Vermutung kann er dann, am Schluß seines "Tractatus logico-philosophicus", die nicht in logistische Begrifflichkeit gesetzte Leuter-Metapher benutzen, die sich stilistisch von den aussagenlogischen Ausführungen der Sätze der 5er-Sektion unterscheidet, und die in der Sektion 6 vorbereitet wurde.
Nietzsche war in dieser Hinsicht konsequenter: die Pragmatik seines Tragödienbuches ist primär, wie bei vielen seiner anderen Schriften auch, die einer Verwendung als literarisches Zeugnis begründet. Dementsprechend finden sich beim dichtenden Nietzsche mehr Metaphern als bei Wittgenstein,(52) der Wert auf eine fast wissenschaftliche Sprachökonomie legt. Allerdings betreibt Nietzsche in "Die Geburt der Trägödie", wie auch in "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", Metaphysik, indem er überhaupt Aussagen über die beiden Weltprinzipien des Dionysischen und des Apollinischen trifft - dies tut Wittgenstein nicht mehr, obgleich er annimmt, daß seine Sätze die Welt wenigstens zeigen, wenn sie schon nicht Welt aussagen können.(53)
5. Philosophische Pathologiezustände, Dekadenz und physiologische Gesundheit
Friedrich Nietzsche wertet das Betreiben von Metaphysik als pathologischen Ausdruck einer menschlichen Geistestätigkeit. In einer Parallelisierung deutscher Zustände im 19. Jahrhundert mit der Antike schreibt er: "so lebten die Römer in ihrer besten Zeit ohne Philosophie" und: "war je einer gewillt, abseits zu stehen und um sich den Zaun der Selbstgenügsamkeit zu ziehen, immer war die Philosophie bereit, ihn noch mehr zu isolieren und durch Isolation zu zerstören."(54)
Nicht unpolemisch wird hier ein Bild der Philosphie im allgemeinen aufgebaut, das den philo-sophistischen Zweifel als ein das Erkenntnisstreben konstituierendes Moment in vollen Zügen unterstellt, jedoch nicht aspektiert. Dabei bewegt sich Nietzsche auf die römische Geschichte zu, die ja doch immerhin ein Jahrtausend umfaßt und als wesentlichen kulturellen Faktor die Subsumption bzw. Subordination des römischen Geisteslebens unter die griechische Antike kennt, wenigstens bis in die augusteische Ära der religiösen Erneuerung und bis zum Programm der eigenen, auf sich selbst bezogenen Identitätsfindung der römischen Kultur durch Vergil, das sich bei letzterem in der Ersetzung der griechischen Schriftsprache durch das Lateinische äußert.(55)
Es scheint hier m.E. jedoch auch ein wichtiger Sachverhalt der Reflexivität angesprochen zu sein, der sich später z.B. in Ingeborg Bachmanns "Malina" zu einer tatsächlichen Problemkonstante in literarischer Hinsicht ausweitet: die Dissoziation des Individuums weg vom gesellschaftlichen Integrationshorizont, verursacht durch eine unpragmatische und für Friedrich Nietzsche unrömische Selbstreflexion.
An dieser Stelle soll in einem Exkurs erläutert werden, was später mehr Interesse genießen soll: was versteht Nietzsche im Hinblick auf das Denken des Individuums als "gesund", was bedeutet "kankhaft" im Zusammenhang mit den "gelehrten Philistern"(56), bzw. im Zusammenhang mit "erkrankten Köpfen der Deutschen",(57) als deren Heiler er Goethe und Wagner ansieht?(58)
Ohne auf eine Redeweise einzugehen, die den Gedanken einer überindividuellen gesellschaftlichen Identität allzusehr betont,(59) kann man den Begriff des "Gesunden" an einer Gesellschaft durch die Maßgabe der Entstehung des Denkens aus der Integration in die Gesellschaft heraus und in die Integration hinein verstehen. Notwendig für eine gesunde Denkweise ist also die bilaterale Einbindung der Reflexion über die Gesellschaft und des Handelns innerhalb der Gesellschaft. Das Denken soll aus dem Willen der Gesellschaft heraus entstehen, aus einem Willen zum Positiven und Nützlichen, "nicht nämlich erst in der Trübsal", "sondern im Glück, in einer reifen Mannbarkeit"(60) Philosophen werden gefordert, in denen Denken, Wissen, Person und Lebenshaltung zusammenfallen und eine Ganzheit bilden; diese "sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Nothwendigkeit."(61)
"Pathologisch" ist also ein Geisteszustand, der sich merklich von der pragmatischen Verankerung des Individuums innerhalb gesellschaftlicher Handlungsvollzüge abhebt und die Kohärenz zu den "normalen" Lebensvollzügen vermissen läßt. Interessant ist die Parallelisierung körperlicher Vorgänge zu geistiger Tätigkeit, was dann eine Metaphernwahl aus dem Anschauungsbereich der Physiologie bedingt. In "Ecce Homo" spricht Nietzsche auf der Grundlage eines physiologischen Verständnisses des Zusammenwirkens von Geist und Körper die Auswirkungen einer solchen für ihn "dekadenten" Trennung von Theorie und Lebenspraxis an. Für sich selbst und seine Zeit als Basler Professor der Philologie verzeichnet er eine "Unwissenheit in physiologicis - der verfluchte 'Idealismus' - ":(62) diese "ist das eigentliche Verhängnis in meinem Leben, das Überflüssige und Dumme darin, Etwas, aus dem nichts Gutes gewachsen, für das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen dieses 'Idealismus' erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle großen Instinkt-Abirrungen und 'Bescheidenheiten' abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe wurde - warum zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschliessendes? In der ganzen Basler Zeit war meine geistige Diät, die Tages-Eintheilung eingerechnet, ein vollkommen sinnloser Missbrauch ausserordentlicher Kräfte, ohne eine irgendwie den Verbrauch deckende Zufuhr von Kräften, ohne ein Nachdenken selbst über Verbrauch und Ersatz."(63) Daß Nietzsche hier in der Tradition der sokratischen Geburtshelferkunde, der Mäeutik, steht, deren Skeptizismus er auch übernimmt, scheint ihn wenig zu stören, dieser Umstand macht jedoch einen Teil unserer kontroversen Auffassung Nietzsches aus. Was dann später den "pathologischen Erregungszustand" eines schreibenden Ichs bei Ingeborg Bachmann anbelangt, so sei wiederum auf die letzten Teile dieser Arbeit verwiesen.
Der Begriff der "Illusion" wurde schon in "Die Geburt der Tragödie" benutzt, um die Entlarvung der Empirie als Scheinwelt, als ästhetisches Phänomen, voranzutreiben. Immer sieht und benennt der Mensch die Empirie und ihre Ausgestaltung mit der ihm eigenen Begrifflichkeit. Tatsächlich ist scheint es aber so, wie Nietzsche schreibt: "Er [der sprachschöpfende Mensch; d.V.] bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die Metaphern zu Hülfe." Und: "Das 'Ding an sich' (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswert."(64) Nietzsche sieht die wissenschaftliche Sprache also nicht als "adäquaten Ausdruck aller Realitäten".(65) Um dies weiter zu präzisieren, bedient er sich einer sprachkritischen Vorgehensweise, die versucht, die eigentliche Prädikation sprachlicher Ausdrücke von ihrem Gegenstandsbereich, auf den sie sich beziehen, zu isolieren und dadurch Begrifflichkeiten zu abstrahieren. Übrig bleiben nicht-gegenstandsbezogene Wesenheiten, im platonischen Sinne Ideen, die es als nicht-verbunden mit der Gegenstandswelt zu entlarven gilt. "Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die die Ehrlichkeit hiesse, wohl aber von den zahlreichen individualisirten, somit ungleichen [ein wichtiger Gedanke für Nietzsche; d.V.] Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: die Ehrlichkeit."(66) Diese Trennung von Individuum und Gattung ist Nietzsche zufolge eine willkürliche, die nichts aussagen kann über die Begriffe und Gattungen nicht kennende Natur.
6. Gegenprogramm: Perspektivismus und Phantasie der Intuition
Die Darstellung der antiken, vorsokratischen Philosophie, wie sie hier ausschließlich hinsichtlich Nietzsches persönlicher Vorsokratikerinterpretation angerissen wurde, sowie Nietzsches Perspektivismus, verbunden mit einer Pluralität der Bedeutsamkeit und Geltung der von ihm behandelten Vorsokratiker, legt nahe, sich mit den Vorsokratikern, wie Nietzsche sie in die "Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" bewertet, näher zu befassen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die vorsokratische Philosophie Nietzsche zufolge ihre Bedeutung für die Moderne nicht auf einem ohnehin von keinem philosophischen System zu beanspruchenden Fundament einer außerlogischen Begründung bezieht, und daß deshalb die "Wahrheit" oder besser: die Bedeutung der vorsokratischen Philosophie eine historische und keine systematische sei.
Nichts desto trotz entbehrt die vorsokratische Philosophie in ihren Facetten keines Kalküls, der jedoch primär und zuvörderst aus der Intuition der dann maßgebenden Philosophen genährt wird. "Es ist merkwürdig, wie gewaltherrisch ein ... Glaube mit aller Empirie verfährt: ... Sie [die Philosophie; d.V.] springt auf leichten Stützen voraus: die Hoffnung und die Ahnung beflügeln ihren Fuß. Schwerfällig keucht der rechnende Verstand hinterdrein und sucht bessere Stützen, um auch selbst jenes lockende Ziel zu erreichen, an dem der göttlichere Gefährte schon angelangt ist. ... es hebt seinen [der Philosophie; d.V.] Fuß eine fremde, unlogische Macht, die Phantasie. ... Besonders aber ist die Kraft der Phantasie mächtig im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten: die Reflexion bringt nachher ihre Maßstäbe und Schablonen heran und sucht die Ähnlichkeiten durch Gleichheiten, das Nebeneinander-Geschaute durch Kausalitäten zu ersetzen."(67)
Die Personalisierung der Philosophie und ihrer wesentlichen Komponenten, der Phantasie und der Reflexion, weist hier in ihrer bildhaften Verwendung innerhalb des Rahmens einer eventuellen Merkurallusion(68) Parallelen zu Nietzsches Entfaltung der Wirkungsweise des Dionysischen und Apollinischen auf. So ist auch das Apollinische dem Dionysischen und dessen Willen zum Ausdruck seiner selbst nachgeordnet, wie die Reflexion bei Nietzsche, für die ja im allgemeinen auch der apollinische Trieb geltend gemacht wird, der Phantasie nachgeordnet sei. Wie wir im Vorangegangenen gesehen haben, ist dies ja gerade das "Rezept" für eine gesunde Lebensführung, in deren Verlauf sich das Individuum nicht durch vorweggenommene Reflexion aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang exgregiert.
Nietzsches Postulat der Heilung des modernen Menschen durch die Kunst respektive Wagners Musik läuft auch auf diesen Punkt heraus. Zuerst steht das Werden. Aus diesem heraus entsteht das Sein, das jedoch nur begrenzte Lebensdauer aufweist. Nietzsche bezieht sich innerhalb dieser Gedankenführung eng auf Heraklit und dessen Fragment B 52: "Die Zeit (der Aion) ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment!"(H. Diels)(69) Bei Nietzsche wird dieses Fragment umgewandelt in emphatische Propaganda. Schuld und Ungerechtigkeit des Wandels gebe es nur für den beschränkten Menschen, das Kind bleibt außerhalb der Moral. "Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld - und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich."(70) Man bedenke hier die Vorwegnahme des späteren Gedankens des "Willens zur Macht" bei Nietzsche, der wesentlich den Willen zu sich selbst und seiner Äußerung darstellt. Weiter: "Sich verwandelnd in Wasser und Erde thürmt er, wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfnis, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfnis zwingt ... Sobald es [das Kind; d.V.] aber baut, knüpft und fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen",(71) auch wenn das Spielzeug launisch beiseite geworfen wird, von Zeit zu Zeit.
Zuerst muß der Phantasie und dem eigentlichen Willen zum künstlerischen Ausdruck Geltung verschafft werden. Wagner zeigt dies in einer gesteigerten Bedeutung des "Willens zur Tat"(72) sogar in seiner Person, wenn man Nietzsches "Unzeitgemäße Betrachtungen IV", nämlich "Richard Wagner in Bayreuth", im Sommer 1876 geschrieben, ernst nehmen darf - vor allem angesichts der späteren, sich hier jedoch noch abzeichnenden Invektiven Nietzsches gegen Wagner.(73)
Goethe, "der als Lernender und Wissender, wie ein weitverzweigtes Stromnetz erscheint, welches aber seine ganze Kraft nicht zu Meere trägt, sondern mindestens ebensoviel auf seinen Wegen und Krümmungen verliert und verstreut, als es am Ausgange mit sich führt",(74) wird so via negationis für die Beschreibung der Person Wagners gebraucht, den "Erneuerer des einfachen Drama's, der Entdecker der Stellung der Künste in der wahren menschlichen Gesellschaft, der dichtende Erklärer vergangener Lebensbetrachtungen, der Philosoph, der Historiker, der Aesthetiker und Kritiker ..."(75)
Wagners Wille zur Tat, seine "Begabung des Lernens"(76), vor allem angesichts der Undurchschaubarkeit der wahren Zeitläufte und der "grotesken Würdelosigkeit ganzer Lebensstrecken",(77) gelten Nietzsche als Grund für die Verehrungswürdigkeit Wagners, die sich dann im Bau des Festspielhauses zu Bayreuth im besonderen ausdrückte, die sich damals jedoch auch in einer Favorisierung der Wagnerschen Kunstauffassung durch Nietzsche im allgemeinen äußerte. Wagner, und überhaupt der neuen Kunst, der Phantasie, fällt die Aufgabe zu, unter dem Primat dieses Willens zur Tat den gelösten "gordischen Knoten der griechischen Cultur"(78) wieder zu binden, - sprich: die einzelnen Ziele und Verläufe der Wissenschaften zu einem Ausdruck des gesamten menschlichen Kulturstreben zu vereinigen.
Wie also die apollinische Maßhaltigkeit des dionysischen Willens zum Ausdruck überhaupt bedarf, so bedürfen die Wissenschaften der Kunst, und so bedarf der "rechnende Verstand" auch der Intuition, die ihm voranschreitet. Der Gedanke der Nachordnung der Reflexion gegenüber dem Primat der Intuition und der Phantasie wird also seit "Die Geburt der Tragödie" (bezeichnenderweise aus dem Geist der Musik) hin zu "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" beibehalten und auch in der vierten "Unzeitgemäßen Betrachtung" Nietzsches 1876 nicht aufgegeben.(79)
7. Betreibt Nietzsche nicht doch noch Metaphysik?
Dieses Konzept hängt zusammen mit einer Auffassung, die die erfahrene Wirklichkeit in zwei Bereiche teilt. Um eine Spaltung in zwei "Kunsttriebe" überhaupt sinnvoll betreiben zu können, muß von einer Spaltung der Wirklichkeit in mindestens zwei Bereiche ausgegangen werden, die auf ihre Weise die Oberflächen der Wirkungstiefen des Apollinischen und des Dionysischen abbilden. Dabei ist es nun gleich, ob man diese Trennung beibehalten möchte im Sinne einer kulturpolitischen Propaganda, oder ob man diese Trennung zum "physiologischen Wohle" des Menschen aufheben will(80) - was Nietzsches Intentionen entspräche.
Norbert Rath schreibt hierzu in einer Behandlung der Kulturtheorie Nietzsches und Freuds: "Weder läßt sich Kultur auf Natur reduzieren, noch Natur auf eine Kategorie wie Geist. Die jeweilige Entgegensetzung bzw. Zusammenstellung beider Momente hat selbst einen historischen Index. Menschliche Natur ist nirgends als voraussetzungslose, ungesellschaftliche, reine Natur gegeben. Wir leben immer schon jenseits der 'ersten Natur'. In allen uns bekannten Gesellschaften werden die nachwachsenden Generationen durch Erziehungsprozesse in etablierte Normen, Haltungen und Konventionen eingeübt und dadurch geprägt."(81)
Und weiter: "Der Entgegensetzung einer "ersten" und einer "zweiten Natur" entspricht" zwar "im vormodernen Denken und zum Teil in der Bildungssprache bis heute der Gegensatz von menschlicher Ursprungsnatur und durch Erziehung und Erfahrung geprägter Gewohnheit",(82) jedoch habe sich, so Rath, im Denken des ausgehenden 18. Jhd. und des beginnenden 19. Jhd. die Auffassung herauskristallisiert, der Mensch könne seine ursprüngliche Subjektivität im Rahmen einer zweiten, also gesellschaftlichen Natur verwirklichen.(83)
Norbert Rath, Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Münster, sieht zwar diese Bestrebung auch bei Nietzsche als maßgeblich, v.a. in dessen Kritik an der modernen Bildung.(84) Auch er sieht, daß Nietzsche sich auf eine anzustrebende Ganzheit der intellektuellen wie pragmatischen Lebensführung beruft, die er bei den vorsokratischen Griechen als realisiert erachtet,(85) und die er durch eine neue Aufgabenstellung für die Kunst in seinen frühen 1870er Schriften durch die Kunst selbst revitalisieren möchte.(86) Jedoch weist Rath auch auf die potentielle Achillesferse des perspektivistischen Denkens Nietzsches hin, eines Denkens, das außer der Feststellung der Veränder- und Vergänglichkeit aller Werte und ontologischen Konzepte schlicht jeden Bedeutungsgehalt moderner Zivilisation in Frage zu stellen bereit ist: "Die Kritik an der Kultur wird bodenlos, weil sie keinen unveränderlichen Punkt, der dem Anspruch nach allen Lebensformen unangreifbar und außerhistorisch vorausliegt, mehr angeben kann. Auch die Orientierung an einem heroisch verbrämten archaischen Griechentum und seinen Meisterdenkern wie Heraklit kann nicht den gewünschten absoluten Bezugspunkt abgeben. Denn allzu deutlich ist ja, daß sie eine Orientierung aus der Negation heraus ist, aus der Abwertung und Ablehnung der eigenen, zeitgenössischen Zivilisation und der Moderne, einschließlich christlicher Moral, idealistischer Metaphysik und politischen Emanzipationsbewegungen",(87) im Rahmen v.a. einer Kritik an Sprach- und Denkgewohnheiten der Zivilisation zu Nietzsches Zeit.
Rath geht hierbei nicht darauf ein, daß es für Nietzsche durchaus einen Ausgangs- wie Zielpunkt der Kritik gibt, nämlich die epistemologische Setzung des Zweifels, des Ausgangs von den schwächsten Annahmen, oder, wie Alfons Reckermann in einem an der Maximilians-Universität zu München 1995 gehaltenen Vortrag behauptete: den Ersatz des Gedankens der Regularität durch den der Diskontinuität der in ihrer Entropie nicht faßbaren Wirklichkeit.(88) Dies wird in "Die Geburt der Tragödie" schon deutlich, wenn der Zerfall des Individuationsprinzips des Satzes vom Grunde verzeichnet wird.
Selbsterhaltung des Menschen, und damit die Bereitstellung einer Basis für die Kritik seiner Urteilskraft, "ist nur möglich an einem Ort der radikalen Ausnahme von der Welt explosiver Fluktuationen zwischen unberechenbaren energetischen Quanten",(89) bemerkt Reckermann hierzu in einer etwas technizierenden und damit intersubjektive Gültigkeit suggerierenden Sprache.(90) Wenn somit durch den Erfolg dieser Ausnahme der Mensch lediglich ästhetisches Phänomen ist, wie in "Die Geburt der Tragödie" postuliert wird, so sind Wahrheitsansprüche auch nur an die Perspektive des Erkennenden gebunden. Mit der Tractatusphilosophie Wittgensteins(91) ließe sich das Problem dahingehend lösen, daß für die Adäquatheit der Schau auf die "Wahrheit" lediglich intuitiv-subjektive und nicht begrifflich-objektive Gültigkeit beansprucht wird. Und so bemerkt Reckermann auch, daß Nietzsche das Konzept seines Perspektivismus nicht mit einem dogmatischen Anspruch vertrete.(92) Reckermann bezieht sich an dieser Stelle auf Nietzsches Schrift "Die fröhliche Wissenschaft", 1882 verfaßt, Abschnitt 374: "Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne "Sinn" eben zum "Unsinn" wird, ob andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist - das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehen und nur in ihnen zu sehen."(93)
Natürlich hebt sich diese ontologische Basis einer erkenntnistheorietischen Methode letztenendes selbst auf, wie Rath schrieb. Jedoch ist dies ein Kennzeichen für die grundlegende Bedeutung der Philosphie Nietzsches, wie sie in den 1870er Jahren Gestalt fand, und wie sie für die nachfolgenden Jahrzehnte einen nicht nur philosophiegeschichtlich, sondern auch kultur- und, wie im zweiten Teil dieser Arbeit nachzuweisen sei, einen literaturgeschichtlichen Niederschlag fand. Rath verkennt hier, daß die Erkenntnismethodik Nietzsches nicht an den Maßstäben seiner auf metaphysischen Grundsteinlegungen abzielenden Vorgänger zu bemessen ist, sondern daß Nietzsche alle Metaphysik zerstören will und letztenendes zerstört hat - ohne jedoch auf ein Programm zu verzichten. Somit wird die Kontroverse, die im Wissenschaftsideal der intersubjektiven Gültigkeit nichts zu suchen hat, zum methodischen Programm erhoben und in der nachfolgenden Zeit dekliniert.
Oder mit Wittgenstein zu reden: "6.52 / Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine [wissenschaftliche; d.V.] Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. / 6.521 / Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand.)"(94)
8. Wege zu Nietzsche
Um das Verhältnis einiger Gedanken Nietzsches zur deutschsprachigen Literatur zu beurteilen, bieten sich verschiedene Wege an. So kann untersucht werden, wie Nietzsche sich zur Literatur seiner Gegenwart äußert.
Ansätze zu einer solchen Herangehensweise an das Verhältnis Nietzsche - Literatur finden sich bei Matthias Politycki, in "Umwertung aller Werte?: deutsche Literatur im Urteil Nietzsches."(95)
Es kann auch untersucht werden, wie sich deutschsprachige Schriftsteller über die Philosophie Nietzsches äußern. Diesen Weg schlagen einige der Nachweise im ersten Teil des von Bruno Hillebrand herausgegebenen zweibändigen Werk "Nietzsche und die deutsche Literatur" aus dem Jahr 1978 ein. Schwerpunkte sind hier v.a. in der Zeit um die Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre gelagert; als Exponenten sind u.a. Stefan George, v. Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil und Gottfried Benn sowie Vertreter des Expressionismus anzusehen.(96)
Bruno Hillebrand versucht in seinen einleitenden Worten zu den Äußerungen verschiedener Schriftsteller im ersten Band, Entwicklungslinien der Nietzsche-Rezeption aufzuzeigen. Eine solche finde sich, vom "Zarathustra" ausgehend, z.B. bei den "Fin-de-siecle-Schwärmern"(97) und schließlich im Expressionismus, dessen Aktivismus sich auf eine vitalistische Dynamik ohne Ziel bewege,(98) um ein "gesteigertes Selbsterlebnis im Rausche"(99) zu bekommen.
Diese Lesart oder "Gebrauchsanweisung" für Nietzsche ist in "Die Geburt der Tragödie" schon dort angelegt, wo die dionysische Wirklichkeitserfahrung mit dem Erlebnis des Rausches analogisiert ist. Daß dies zwar nicht eine falsche, so doch aber nicht ganz adäquate und zu stark leserorientierte Interpretation nietzschescher Philosophie ist, wird deutlich, vergegenwärtigt man sich die Folgen einer solchen Rezeption, die mit den ethischen Zielen Nietzsches wohl nicht übereinstimmen dürften. Gerade das Rauscherlebnis behindert die bewußtseinsmäßige Wahrnehmung des Nichtrationalen, genauso wie der Begriff "irrational", im Sinne Nietzsches verstanden, nicht gleichgesetzt werden kann mit der Außerrationalität des Rausches. Um ein Versagen des Individuationsprinzips und einen Wegfall der Kausalität überhaupt erst erfahren zu können, bedarf es gerade des "rechnenden Verstandes", der Nietzsche zufolge der Phantasie und der nichtreflexiven Anschauung "hinterherrennt", und der im Zug einer rauschhaft übersteigerten Lebenserfahrung außer Kraft gesetzt ist. Nicht ohne Grund propagiert Nietzsche eine Veränderung der Sicht auf die Wirklichkeit durch die Musik, und nicht durch Mittel, die vom Erkenntnisobjekt unabhängig funktionieren. Hier liegt immerhin Nietzsches eigentlicher Metaphysizismus: das Erkenntnisinteresse ist immer orientiert an einer Art von Wirklichkeit, und nicht ungebunden wie im Rausch.
Hillebrand weist in seiner Einleitung weiter darauf hin, daß es im Zuge der Nietzsche-Rezeption sehr wohl Belege gab und gibt, Nietzsches kulturkritsche Bedeutung zu erfassen.(100) Als Beispiele erwähnt er Thomas und Heinrich Mann, wobei Hillebrand auch hier Akzente setzt. "Heinrich sieht in Nietzsche das 'soziale Moment', das in der 'Vervollkommnung' der Gesellschaft besteht, Thomas sieht die 'zivilisatorische Wirkung', die Ermutigung zu 'Kritizismus und Radikalismus' als dominant, beide sehen die die erzieherische Funktion der Kunst, die den deutschen Geist anschließen soll an das europäische Niveau."(101)
Vielleicht liegt ein Grund für eine eventuelle Devise der gesteigerten, rauschhaften Lebenserfahrung in der Aktualität der späteren Schriften Nietzsches um die Jahrhundertwende; Ursache und Wirkung in einer von bürgerlichen Maximen geprägten Zeit nicht zu vertauschen, fällt schwer und den Rahmen meiner Ausführungen zu sprengen. Von der "Geburt der Tragödie" und ihrem spezifisch lebenspraktischen Anspruch scheint Hillebrand zufolge das expressionistische Motto jedenfalls weit entfernt.(102)
9. Rekurs: der lebenspraktische Bezug Nietzsches
Es wurde an anderer Stelle schon umrissen, wie ein solcher lebenspraktischer Anspruch bei Nietzsche angelegt ist, was die frühen 1870er Jahre anbelangt. Zwischen Denken und Handeln soll es, nach dem Vorbild der durch Nietzsche idealisierten Philosophen der griechischen Antike, eine gegenseitige Bedingung geben. Der Mensch soll sich durch sein Denken nicht aus der Gesellschaft ausgrenzen. Weiterhin soll der Zweifel an vermeintlich festen, materialistisch-positivistischen Wahrheiten, wie sie die Wissenschaft des ausgehenden 19. Jhd. aufstellt, gepflegt werden. Wissen ist nicht sammelbar, höchstens erfahrbar; die Wissenschaft, exemplifiziert am Beispiel der Logik, kann dem Menschen das logische Nichtbegreifen nicht nehmen. Sprache versagt dort, wo Außersprachliches angesprochen werden soll. Dazu ist weiter zu bemerken, daß für Nietzsche Sprache lediglich ein Metaphernsystem ist. Wenn der Mensch "sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie d.h. mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln."(103)
Wenn die Begriffe des Menschen zum Erkennen nichts taugen, was kann der Mensch also tun, um einerseits seinen Drang nach Erkenntnis zu befriedigen, andererseits aber konkret mit dieser ihm eigenen Unzulänglichkeit zu leben?
Für den die eventuelle Wirklichkeit nicht reflektierenden Menschen gilt: "Nur durch das Vergessen jener primitiven Metaphernwelt, nur durch das Hart- und Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz."(104) Ihn unterscheidet vom reflektierenden Menschen, daß der letztere seinen Glauben an das So-Sein der Dinge aufgibt und dadurch beständig zweifelt.
Indes ergibt sich für diese Tätigkeit des Zweifelns, daß diese sinnlos ist, da sie den Zweifel am Maßstab der anthropozentrischen Wahrnehmung und Denkens orientiert.
10. Ingeborg Bachmann
Eine interessante Variation des Erkenntnisproblems bei Nietzsche scheint m.E. die schreibende Tätigkeit der Ichfigur in Ingeborg Bachmanns Roman "Malina" darzustellen.(105) Grundannahme ist hierbei, daß in "Malina" eine Thematisierung des Sprachgebrauchs stattfindet, die dazu dient, außerhalb der Beantwortung aller "möglichen wissenschaftlichen Fragen"(106) eben die Lebensprobleme zu berühren, von denen Wittgenstein schreibt, daß ihre Lösung sprachlich nicht aussagbar sei. Ausgangspunkt für die Aufnahme der Tractatusphilosophie Wittgensteins durch Ingeborg Bachmann ist, zwischen wissenschaftlichen Fragen und lebenspraktischen Fragen zu trennen. In ihrer Beschäftigung mit Wittgenstein und der Philosophie des Logischen Empirismus des Wiener Kreises, innerhalb dessen sie ihre Dissertation über Heidegger anfertigte, unterscheidet sie zwischen Scheinproblemen, das sind Probleme, die sich durch eine rigorose Kritik des Sprachgebrauchs lösen lassen, und echten Problemen - hier tauchen dann Probleme der Existenz und der Verankerung unserer Erkenntnis in der empirischen Wirklichkeit auf.
Dies ist zwar kein deckungsgleicher, so doch ähnlicher Horizont zu dem Nietzsches, der, wie oben gezeigt wurde, ebenfalls die Sprache und ihre Möglichkeiten thematisierte, dabei den Begriff der "Metapher" als Ausdruck eines sprachlich-symbolischen Systems ohne immanente Korrespondenz zur Wirklichkeit herausstrich, und damit die Erkenntniskompetenz des Menschen, was die sprachliche Formulierbarkeit anbelangt, in Frage stellte.
In ihrem Aufsatz "Ludwig Wittgenstein - Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte" aus dem Jahr 1953 beschäftigte sich Ingeborg Bachmann explizit mit Wittgenstein.(107) Sie streicht heraus, daß aussagenlogische Sätze sich nicht eignen, über die elementaren Basisätze des logischen Systems hinaus Aussagen zu treffen, die die Welt nicht nur zeigen, sondern auch aussagen - und Wahrheiten über die Summe der Einzelaussagen hinaus.(108) "Es ist uns nicht möglich, uns außerhalb der Welt aufzustellen und Sätze über die Sätze der Welt zu sagen."(109) Jedoch, und dies ist erwähnenswert, wird eine Strukturierung der erfahrbaren Welt durch sie beschreibende Sätze wie bei Wittgenstein nicht zur Disposition gestellt.(110)
Es erfolgt also eine Gegenüberstellung zwischen empirisch erfahr- und beschreibbarer Wirklichkeit und einer Wirklichkeit, für die keine sprachliche Nachweisbarkeit vorliegt, die aber ihrerseits zum Nachweis für die empirische Wirklichkeit taugen soll. Auch für Ingeborg Bachmann gilt also, daß es einen Wirklichkeitsbereich gibt, der nicht ausgesagt, sondern nur außersprachlich erkannt werden kann. So bedauert die Ichfigur in "Malina", daß sie keinen Satz finde, "der mich versichert in der Welt ... Es müßte eine Versicherung geben, die nicht von dieser Welt ist."(111) Die nietzschesche Sinnlosigkeit der Orientierung der Erkenntnis am anthropozentrischen Maßstab wird also auf den Roman übertragen. Dabei stellt Bachmann den anthropozentrischen Maßstab nicht als unvernünftig in Frage, genauso wenig wie Nietzsche es tut, denn immerhin ist dieser Maßstab der Ausgangspunkt für den nietzscheschen Perspektivismus überhaupt, indem er die Basis für das Postulat der denkbar ungünstigsten Annahmen bildet, nämlich die, daß der Mensch, wenn schon nichts beweisen, so doch zweifeln kann. "Sinnlos" bedeutet also nicht "unvernünftig", sondern "ohne Sinn", was nicht das gleiche ist. Ein neuerlicher Verweis auf das Problem der Nietzsche-Rezeption durch die Expressionisten, die oben kurz angerissen wurde, soll Klarheit schaffen. Es geht darum, sich selbst, die eigene Reflexion, als die Grenze zu erfahren, ab der zuverlässige Aussagen sinnlos werden; es geht nicht darum, eine Sinnlosigkeit der Wirklichkeit schlechthin anzunehmen. Aufgrund dieses Gedankens kann auch nicht gesagt werden, daß Nietzsche letztlich Nihilist sei.
Ingeborg Bachmann zieht diese Gegenüberstellung als Grenze nach mit dem neuerlichen Verweis auf Wittgenstein: "Hier [in der sprachlich gefaßten Erkenntnis der Welt; d.V.] erfährt die Logik ihre Grenze, und da sie die [beschreibbare; d.V.] Welt erfüllt, da die Welt in die Struktur der logischen Form eintritt, ist ihre Grenze die Grenze unserer Welt. So verstehen wir den Satz [Wittgensteins; d.V.]: 'Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.' Diesseits der Grenzen stehen wir, denken wir, sprechen wir. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes entsteht, weil wir selbst, als metaphysisches Subjekt, nicht mehr Teil der Welt, sondern Grenze sind."(112)
Oben wurde herausgestellt, daß die Trennung in eine Wirkungssphäre des Dionysischen und eine des Apollinischen für Nietzsche eine fundamentale sei. Diese Trennung entspricht in einer bestimmten Hinsicht der wittgensteinschen Trennung in eine sprachlich formulierbare und sprachlich konstituierte Wirklichkeit, deren Struktur durch die Sprache gezeigt wird, und eine sprachlich nicht formulierbare Wirklichkeit, die nicht ausgesagt werden kann, also die Wirklichkeit, in der die wahrheitsspezifische Korrespondenz zwischen Satz und Sachverhalt stattfinden soll.
Die entscheidende Ähnlichkeit liegt in der Auffassung Wittgensteins, daß die außersprachliche Wirklichkeit lediglich intuitiv schaubar sei. Man vgl. hierzu die Leitermetapher Wittgensteins: die Leiter, das ist das System sprachlicher Ausdrücke, das dann zurückgelassen werden muß, wenn es um das "Unaussprechliche" geht.
Dieses "zeigt sich, es ist das Mystische."(113) Nietzsche zufolge ist das Dionysische mit unseren logischen Sprachmitteln nicht zu verbalisieren; es äußert sich in der Katastrophe des Zusammenbruchs der Individuation wie des Kausalprinzips anthropozentrierter Epistemologie und Ontologie. Im Zusammenhang mit der Verwendung der Begriffe als Metaphern zur Beschreibung von Sachverhalten weist Nietzsche darauf hin, daß in unserer Menschenwelt Sprache als Inbegriff der apollinischen Phänomenologie lediglich eine relationale und externe, also strukturelle Semantik zeige, die sich jedoch nicht auf das Wesen der Dinge beziehe.(114)
Bei Nietzsche führte dies zur Trennung in eine wahre Welt und eine Scheinwelt; der Mensch existiert als ästhetisches Phänomen, als Sublimation des Willens zum Ausdruck in der Empirie, bzw. als Projektion dieses Willens in den Bereich des menschlichen Erkennens.
Wittgenstein sagt klar, daß das Unaussprechliche unaussprechlich bleibt, daß man darüber schweigen muß(115) - Nietzsche hingegen forderte im vorangegangenen Jahrhundert die Bemühung um die nichtsprachliche Wirklichkeit durch die Kunst. Eigentlich scheint dieser Anspruch paradox: Kunst als Zeichensystem soll die nichtempirische Wirklichkeit darstellen und auf den Rezipienten vermitteln. Dies ist indessen nur in nicht-abbildenden Zeichensystemen möglich. Lediglich Symbole jenseits der Verwendung eines metaphernspezifischen tertium comparationis öffnen den Blick auf das Dionysische. Hierin liegt der Grund für das Unvermögen Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff's, Nietzsches eigentliches Ansinnen zu verstehen, deutsche Kultur durch den Einsatz künstlerischer Wahrheit zu renovieren, weil ein nicht-abbildendes Zeichensystem einerseits konventionell, andererseits aber auch an rhethorische wie situative Evidenzerlebnisse gebunden ist. Die Forderung nach einer evidenzorientierten philosophischen Erkenntnis, die sich die nicht-abbildende Kunst zunutze macht, steht natürlich in krassen Gegensatz zum intersubjektivitätsorientierten positivistischen Wissenschaftsideal der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine parallele Situation findet sich übrigens auch in der teilweisen Kritik Wittgensteins am Logischen Empirismus des Wiener Kreises, die dann später in den "Philosophischen Untersuchungen" Wittgensteins noch weitergeführt wird.
Gilt die Kunst Nietzsche also als eine Evidenzerlebnisse verschaffende Erkenntnisform, und verliert Wittgenstein trotz seines ähnlichen epistemologischen Ansatzes im "Tractatus" kein Wort über die Kunst, so ist Ingeborg Bachmanns Werk "Malina" als Rechtfertigung der Schriftstellerin gegenüber Wittgensteins These vom Unaussprechlichen anzusehen - interessant ist, daß Ingeborg Bachmann betont, daß Wittgenstein sich um das Unaussprechliche bemühte, daß sie also gerade die Bemühung um die Sprache herausstreicht und honoriert; die Bemühung, die eigentlich dem Schriftsteller vorbehalten bleibt, und die "verzweifelte Bemühung um das Unaussprechliche, die den Tractatus mit einer Spannung auflädt, in der er sich selbst aufhebt ..."(116)
11. "Malina"
Ohne "Malina" auf den Versuch einer Lösung des Erkenntnisproblems reduzieren zu wollen, werden im folgenden doch wesentliche Dimensionen des Romans nicht betrachtet: es sind dies die verschiedenen Erzählperspektiven, die Erzählebenen, der Problemkomplex der Erfahrung autoritärer und andersartiger Gewalt durch Fremdbestimmung des Subjektes durch die andern und deren sprachlicher Weltkonstuitution. Auch die Verbindung zum "Todesarten"-Projekt bleibt unberücksichtigt. Es geht mir hier lediglich darum, die Thematisierung des Sprachgebrauchs auch auf Friedrich Nietzsches Trennung in verschiedene Bereiche der Wirklichkeit zurückzuführen, eine Trennung, die, wie Rath an anderer Stelle bemerkte, auch die Thematisierung zweier Naturen beinhaltet, die einer natürlichen und die einer spezifisch menschlich-kulturellen.
Die Thematisierung des Sprachgebrauchs bei Ingeborg Bachmann zum Zwecke einer dem Leser Evidenzerlebnisse verschaffenden Erkenntnis der außersprachlichen Wirklichkeit mit Hilfe der Poesie, von der Nietzsche schreibt, daß ihr nicht-abbildender Teil geeignet sei, eine spezifisch "künstlerische" (in seinem Sinne) Erkenntnis zu liefern,(117) diese Thematisierung beginnt in "Malina" schon im Einleitungskapitel, in dem die Ichfigur ihre schriftstellerischen Fähigkeiten in Zweifel zieht, was zu einer Lähmung ihrer Ausdruckfähigkeit zu führen droht.
Der Roman ist vornehmlich in der Ichperspektive verfaßt. Die Ichfigur gibt im Einleitungsteil eine Exposition der personae dramatis; diese Anklänge an das Drama ergeben eine gewisse Handlungsunmittelbarkeit, durch die der Leser / Zuschauer als Person stärker in das Geschehen auf der "Gedankenbühne" involviert wird.(118)
Das Schreiben, und damit die Sprache, wird durch die Thematisierung des heute zur Disposition gestellt. Die Ichfigur leidet unter dem Problem, daß ihre Gedankenwelt und die damit verbundenen Erlebnisse, also die psychische Manifestation ihrer Lebenswirklichkeit, in der Gegenwart stattfindet, kein Vorher und kein Nachher kennt, sondern stets präsent ist. Dieses durch das Schreiben aufzuarbeiten, ist eine hoffnungslose Aufgabe, da der Vorgang des Schreibens in der Zeit verläuft. Dies bedeutet, daß die geäußerten Gedanken und schriftstellerischen Intentionen nicht mehr denen entsprechen, die gerade im psychischen Erfahrungsbereich des Subjektes präsent sind.
"... so hoffnungslos ist meine Beziehung zu "heute", denn durch dieses Heute kann ich nur in höchster Angst und fliegender Eile kommen und davon schreiben oder nur sagen, in dieser höchsten Angst, was sich zuträgt, denn vernichten müßte man es sofort, was über das Heute geschrieben wird, wie man die wirklichen Briefe zerreißt, zerknüllt, nicht beendet, nicht abschickt, weil sie von heute sind und in keinem Heute mehr ankommen werden."(119) "Denn Heute ist ein Wort, das nur Selbstmörder verwenden dürften, für alle anderen hat es schlechterdings keinen Sinn, 'heute' ist bloß die Bezeichnung eines beliebigen Tages für sie ..."(120)
Interessant an dieser Gegenüberstellung von Zeitlichkeit und stetem Präsens ist vor allem, daß damit auch eine Dissoziation eines subjektivierten "ich" von einem objektivierten "Ich" erfolgt: das eine existiert nur sprachlich, Nietzsche würde sagen: als ungenügendes ästhetisches Sprachphänomen, das andere wird von der Ichfigur als Wille dargestellt, sich selbst zu objektivieren. Was in der klaren Gliederung von Vorher und Nachher auf dem Papier steht, ist das objektivierte Ich. Selbstmörder töten sich, also wiederum ein Ich als grammatisches Objekt. Die sprachliche Paradoxie, denn: wie kann ein Subjekt sich selbst zur Nichtexistenz bringen und dabei noch im Töten eine Handlung vollziehen, diese Paradoxie wird dadurch gelöst, daß die Sprache das Subjekt als Objekt einführt. Andere Menschen bemerken dieses Thema der gesteigerten Selbstreflexion gar nicht. Hier sondert sich die Ichfigur aus den normalen Lebensvollzügen aus, hinein in eine "pathologische Erregung",(121) die sie anscheinend nur mit den Begriffen der Physiologie bzw. genauer: der positivistischen Wissenschaften nachweisen kann - mit Elektrokardiogrammen und Arhythmie. Hier wird wiederum die Unterschiedlichkeit des subjektiven Evidenzerlebnisses gegenüber der wissenschaftlich-objektiven Wirklichkeit hervorgehoben. Lediglich Symptome können den Erregungszustand nachweisen. Die Evidenz muß vom Leser verstanden, gesehen werden.(122) Sowohl wissenschaftslogisch - konkret: medizinisch - als auch sprachlich ist diese Evidenz der Erfahrungswirklichkeit als psychische Wahrheit also nicht nachweisbar.
Der Darstellung der Lebensprobleme des schriftstellenden Ich entspricht die Gegenüberstellung des Ungargassenlandes als Ort praktischer Lebensvollzüge, was die Darstellung der Zeit noch prekärer werden läßt. Die "Einheit des Ortes"(123) ist einem "milden Zufall"(124) zu verdanken. Es gibt hierin keine Reflexionen über die Setzung des örtlichen Rahmens; diese ist also nicht von der tragischen Erkenntnis des Sprachproblems gekennzeichnet. Ivan, Malina und die Ichfigur "wohnen" in der Ungargasse,(125) in der Ungargasse gibt es "nichts zu besichtigen",(126) man kann in ihr eben "nur wohnen"(127) - der Konjunktiv II, also der Modus des Irrealen, wird von der Ichfigur verwendet, um darzustellen, was ein Besichtiger besichtigen könnte(128), was er aber nicht tut. Es findet also keine Betrachtung des örtlichen Rahmens durch die Ichfigur statt, die zum Resultat führte, daß die Ichfigur ihre eigene Verklammerung mit dem Ort in Frage stellte.
Auch das Gefühl der Sicherheit existiert hinsichtlich ihres Lebens in der Ungargasse. Sie wird dadurch erreicht, daß dort das Handeln der Ichfigur überhaupt stattfindet, und daß es dort eingebunden wird in andere Handlungszusammenhänge: "ich müßte mich fragen, warum ich immer in ihrem [der Ungargasse; d.V.] Magnetfeld bin", und: "ich sollte ... in mir nach meiner Verklammerung mit der Ungargasse suchen."(129) Um die Pathologie ihrer Reflexion aufzuzeigen, benutzt die Ichfigur also die Thematisierung der Zeit. Was ihr Handeln anbelangt, so kontrastiert dies als gesunder Zustand mit dieser ersteren Selbstreflexion. In "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" wurde dieser Zustand als Separation des reflexiv Tätigwerdenden aus der gesellschaftlichen Verankerung durch einen Rückfall auf sich selbst beschrieben.
Die Ichfigur erfährt sich selbst im Einleitungskapitel schon als eine Grenze, die zwischen der Welt des Handelns und der der Selbstreflexion trennt. Die Selbstreflexion ist geprägt von der Problematik des Niederschreibens der Gedankenwelt, was in paradoxen Bahnen verläuft, da eine adäquate Wiedergabe jener Gedankenwelt im Zeitverlauf, also in "maasvoller Begrenzung" (Nietzsche) nicht möglich ist. Hierzu ist noch zu bemerken, daß diese Gedankenwelt auch das Kapitel "Der dritte Mann" umfaßt, eine Sequenz von Träumen, unterbrochen von Gesprächen der Ichfigur mit Malina, der zweiten, männlichen Hauptfigur des Romans, der als rationaler Gegenpol der Ichfigur fungiert.(130)
12. Lösungsversuche
Im Kapitel "Glücklich mit Ivan" versucht die Ichfigur, den oben beschriebenen Konflikt zu umgehen. Die Ichfigur will mit Ivan Handlungsstrukturen einüben, durch den schauspielerischen Umgang mit Sprache und Handlung also den unmittelbaren Bezug zu sich selbst aufheben, also auch ihre Reflexion von ihren Handlungen zu trennen, damit diese nicht gelähmt werden.
Was sie an Sätzen sagt, wurde durch sie kanonisiert, so daß sie sich nunmehr nur noch eines festen Repertoires zu bedienen braucht, um mit Menschen, in diesem Falle Ivan, zu interagieren. Die Intention ist offenkundig: durch ihr Zusammen mit Ivan will sie die Fähigkeit zu schreiben, ohne sich selbst dabei zu vernichten, wiedererlangen. Dies wird explizit deutlich in den Sätzen: "er ist gekommen, um die Konsonanten [also die Zusammenklingenden, die Zusammenhandelnden; d.V.] wieder fest zu machen, um die Vokale [die durch den offenen Hals aus dem Innern des Menschen kommen; d.V.] wieder zu öffnen ... um mir die Worte wieder über die Lippen kommen zu lassen, um die ersten zerstörten Zusammenhänge wiederherzustellen ..."(131) Was die sprachliche Formulierbarkeit der Wirklichkeit anbelangt, so wurde früher schon auf Wittgenstein verwiesen. Interessant aber ist auch das Erlebnis des Aspektewechsels auf rezeptionsästhetischer Seite, geht man mit der Vorkenntnis der Tragödienphilosophie Nietzsches an diese Textstelle heran: es kann gefragt werden, ob die zerstörten Zusammenhänge mit der außerlogischen Erfahrung der eigenen Ichwirklichkeit der Ichfigur zusammenhängt. Daß diese als Grenze zwischen beiden Bereichen, zwischen der außersprachlichen Erfahrung sowie der verbalisierten Individuation der empirischen Wirklichkeit fungiert, wurde oben schon erwähnt. Indes: ich möchte die Spekulation nicht zu weit treiben. Bis auf ein nachgewiesenes Referat über Nietzsches Philosophie im letzten Semester vor ihrer Promotion und bis auf wenige Nachweise der Aufnahme Nietzsches bei Bachmann läuft die Betrachtung von "Malina" unter dem Eindruck der Philosophie Nietzsches Gefahr, zu leserorientiert zu sein. Vielleicht böte sich dieser Gedanke einer tiefergehenden Betrachtung an.
Die Ichfigur schafft mit Ivan ein Geflecht von Handlungszusammenhängen, das dann Ungargassenland genannt wird. Im Ungargassenland - man beachte die kindliche, Selbstreflexionsfreiheit vortäuschende Ausdrucksweise - im Ungargassenland also gibt es eine bestimmte Sprache, und in dieser Sprache gibt es bestimmte Satzgruppen, so z.B. die "Telefonsätze",(132) von denen die Ichfigur sagt, daß sie und Ivan diese Sätze "wieder und wieder" üben,(133) dann die "Beispielsätze"(134) sowie die "Müdigkeitssätze".(135)
Diese Satzgruppen sind Repertoirebestandteile, die zur Kommunikation verwendet werden, wobei sich die Kommunikation nur über einen bestimmten Gegenstandsbereich erstrecken darf. Es überrascht m.E. die Ähnlichkeit zu Wittgensteins Elementarsprache. Diese Sätze haben den Vorteil für die Ichfigur, sich nicht unmittelbar auf ihr Seelenleben zu beziehen, weil sie ja zum einen nur Repertoire einer schauspielerischen Tätigkeit sind, und weil sie zum anderen sich nicht auf die Gefühlsbereiche beziehen. "Es fehlen uns noch viele Satzgruppen, über Gefühle haben wir noch keinen einzigen Satz, weil Ivan keinen ausspricht, weil ich es nicht wage, den ersten Satz dieser Art zu machen ..."(136) Dazu will die Ichfigur ausgehend von der Einübung der Sätze diese durch Rituale ersetzen, also den Bezug zum Handeln aufbauen, weg von der Sprache. Es soll eine Ablösung sprachlicher Handlungen durch gestische erfolgen.
Indem die Ichfigur erreichen will, daß in ihrer Beziehung mit Ivan das Ritual an Stelle der Sprache tritt, wünscht sie sich eine gesteigerte Unmittelbarkeit des Zusammens mit Ivan. "Denn wenn wir aufhören zu reden und übergehen zu den Gesten, die uns immer gelingen, setzt für mich ... ein Ritual ein ... als neu gefüllter Inbegriff feierlicher Formeln ..."(137)
Damit wünscht sie sich aber auch, von der Icherfahrung wegzukommen, die sie stört: "Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung. Malina kommt ins Zimmer, er sucht nach einer halbleeren Whiskyflasche, gibt mir ein Glas, schenkt sich eines ein und sagt: Noch stört es dich. Noch. Es stört dich aber eine ganz andre Erinnerung."(138)
13. Was bringen diese Lösungsversuche?
Die Identitätskrise der schriftstellernden Ichfigur wird durch diese Spiele nicht behoben: sie verschlimmert sich, weil unterschieden wird in Ernst und Spiel, ersterer reflexionsvoll, zweiteres reflexionsleer. Und so hält die Ichfigur Ivan gegenüber mit dem wahren Ernst und der Tragik ihres Daseins hinter dem Berge: "Es ist unmöglich, Ivan etwas von mir zu erzählen. Aber weitermachen, ohne mich auch ins Spiel zu bringen?"(139) Die Ichfigur weiß also, daß das Zusammenleben mit Ivan nicht auch auf der Ebene stattfindet, wo auch ihre wahre Persönlichkeit anzutreffen ist. Wo es keine Sätze gibt, die Welt konstituieren, gibt es keine Welt. Diese Spaltung der Persönlichkeit in verschiedene Identitätsbereiche ist insbesondere deshalb ernst zu nehmen, als daß das Sprechen und das Handeln innerhalb einer bestimmten (Teil-)Welt diese selbst konstituiert in dem Sinne, daß die Welt als ein Zusammen von Handlungen zu verstehen ist. Die Ichfigur bringt es also nicht fertig, aus den verschiedenen Lebensbereichen ein zusammenhängendes Ganzes zu formen. Das spezifisch menschliche Dasein als zoon politikon ist ästhetisches Phänomen, Schein, der keine Relation auf die Icherfahrung aufweist. Dies kann als eine Kritik an Wittgensteins "Tractatus" aufgefaßt werden: liegt dort eine klare Trennung in logisch sinnvolle Sätze, die auf einen tautologischen Basisatz zurückgeführt werden, vgl. Satz 6., und in unsinnige Sätze der Metaphysik vor, so kann man auch in "Malina" diese Trennung entdecken, die sich auf verschiedene Lebensbereiche bezieht.(140) Um diese Kritik zu üben, greift Ingeborg Bachmann auf Nietzsche zurück.
So wird z.B. die Gruppe der Sätze, die die Ichfigur mit Ivan einübt, und die eigentlich nicht befriedigend die Seelenlage der Ichfigur wiedergeben, den eher wirren und widersprüchlichen Aussagen der Ichfigur gegenübergestellt - dadurch erfolgt eine Interpretation des Wittgensteinischen "unsinnig" als "paradox" und kausalitätsfrei.
Gegenübergestellt werden auch Regeln zum Gebrauch von Handlungen, so z.B. im Schachspiel, das als Bild für die Einübung von Alltagshandlungsanweisungen verstanden werden kann, mit offenkundig unsinnigen Handlungen wie dem Schreiben von Briefen, die letztenendes doch nicht verschickt werden.
Die Ichfigur empfindet diese Trennung der Lebensbereiche, der eine Bezeichnung des mit Ivan geteilten Wirklichkeitsbereiches als Spiel, nach Nietzsche als Schein des Scheins, nachgeordnet ist, als eine Verunsicherung. Sie hört "nicht auf ... zu hoffen, zu betteln und zu meinen, einen Satz gehört zu haben, der nicht nur von der Müdigkeit gekommen ist, einen Satz, der mich versichert in der Welt ... Es müßte eine Versicherung geben, die nicht von dieser Welt ist."(141)
Dieser Satz ist verankert in Wittgenstein, Satz 4.12 ff, nämlich: "Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können ..." Wir müßten "uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt."(142) Die Beziehung mit Ivan liefert der Ichfigur trotzdem aber "Injektionen von Wirklichkeit".(143) Dieser Ausdruck ist aber zu verstehen als ein Ausdruck von Sucht, als tiefes Bedürfnis, wodurch die Wirklichkeit, innerhalb derer sich die Ichfigur befindet, halluzinogenen Ursprungs ist, also nicht wirklich echt. Die Ichfigur weiß um die Täuschung, die sich vor ihren und in ihren Augen ereignet. Einleuchtend ist deshalb, daß zwischen Ivan und ihr das Gefühl der Entfremdung eintritt: "ich sitze zu Hause und ziehe ein Blatt in die Maschine, tippe gedankenlos: Der Tod wird kommen."(144) Dieses Gefühl der Entfremdung ist auch bei Ivan vorhanden: indem er hofft, daß die Geschichte, die die Ichfigur ihm schreiben will, einen guten Ausgang hat, äußert er seinen Zweifel am glücklichen Ausgang des Zusammens mit der Ichfigur.(145)
Das eigene Icherleben durch das eingeübte Repertoire an Äußerungen zum Ausdruck zu bringen, scheitert "in einer Grimasse",(146) und auch weiterhin vermischt sich Ernst mit Spiel: der vormals klaren Trennung wohnt jetzt der Geschmack der Enttäuschung inne, daß sowohl die Selbstreflexion als auch das gedankenlose Spiel nicht geeignet sind, dem Leben der Ichfigur einen ganzheitlichen Charakter zu verleihen. Die Ichfigur vermag Spiel und Ernst letztlich nicht mehr zu unterscheiden. Ivan: "Ja, das bist du, erschrick doch nicht über jedes Wort / Hast du denn das Gesetz nicht verstanden?"(147)
Entscheidend ist, daß das Spiel bei Nietzsche, symbolisiert im Bild des spielenden Aeon, ausgehend von der Philosophie des Heraklit, kennt in der Nietzscheschen Interpretation eben keine Regeln. Gerade hier scheitert das erzählende Subjekt, nämlich indem es versucht, dem Lauf seiner internen Erlebniswirklichkeit regelhafte Strukturen aufzuprägen. Nach Wittgenstein ist die Annahme interner Korrespondenz zwischen Sachverhalt und Bezeichnung zwar nicht verboten, so doch aber unsinnig. Dem steht nichts entgegen, es wenigstens zu versuchen, was die Ichfigur durch ihre Lebensführung erreichen möchte. Nach Nietzsche jedoch verwehrt sich der Wille zum Werden, der Wille des Kindes, der Wille des Aeon überhaupt gegen jede Regelmäßigkeit, die ihm unterlegt werden soll. An dieser Stelle wäre es vielleicht sinnvoll, auf die ethisch-moralischen Implikationen hinzuweisen, die sich aus dieser Thematisierung, wie sie jetzt ausgebreitet wurde, ergeben. Und zwar in dem Sinne, daß Nietzsche das Spiel des Werdens aus der moralischen Verpflichtung herausnimmt - aber auch in dem Sinne, daß Handeln als solches die Grundlage für eine Ethik gibt. Aber auch dies führte an dieser Stelle zu weit.
14. Schlußfolgerungen
Das Ich in "Malina" scheitert also mit seinen Experimenten. Es bleibt die Konsequenz, die Icherfahrung einzugehen, um diese zu bewältigen. Die Flucht vor dem "Grausen", das den Menschen befällt, sieht er die Individuation wie auch das Kausalprinzip zerbrechen, führt zu keinem positiven Ergebnis.
Eine Interpretation des Verschwindens des Ichs in der Wand, also in einer Grenze zum nicht mehr umfaßten Raum, unter Wegfall des Prinzip der Kausalität wie des der Individuation, da die Ichfigur ja in die Wand eingeht, eine solche Interpretation unter der Aspektierung der dionysischen wie der apollinischen Erfahrung böte sich an. Zurück bleibt Malina, der rationale Intimus der Ichfigur, mitsamt der ganzen objektivierten Sprache, in Form der autobiographischen Manuskripte der Ichfigur.(148)
Es sollte - wie erwähnt - nicht der Versuch gemacht werden, "Malina" auf Nietzsche oder Wittgenstein zu reduzieren. Jedoch ist es m.E. plausibel, daß das philosophische Programm des Romans, oder zumindest ein Teil dessen, von jenen beiden auch Sprachphilosophie betreibenden Philosophen motiviert sein kann. So sehe ich die Ausführungen des "Tractatus logico-philosophicus" als Provokation für eine Schriftstellerin, nämlich zu zeigen, daß Wirklichkeitsbereiche, die die Sprache zu transzendieren scheinen, doch mit Hilfe der Sprache im besonderen, und mit der Kunst im allgemeinen aufgezeigt werden können. Ein ernsthaftes Bemühen um die Sprache, wie es bei Ingeborg Bachmann zu Tage tritt, darf sich nicht mit Wittgensteins "7 / Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."(149) zufrieden geben, da es sich dann selbst aufgäbe.
Indem Malina mit der poetischen Verbalisierung der Icherlebnisse übrigbleibt, hinterläßt die Ichfigur den Hinweis auf jenen dionysischen Wirklichkeitsbereich: Die Kunst, in diesem Fall die Poesie, taugt also tatsächlich dazu, dem Menschen den Blick auf die dionysische Welterfahrung zu eröffnen.
15. Anmerkungen
16. Literatur
recenseo
Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777